PWP: Herr Professor Rieter, Sie gehörten 1980, also vor nunmehr genau vierzig Jahren, zu den Gründungsmitgliedern des Dogmenhistorischen Ausschusses im Verein für Socialpolitik. Heute firmiert er als „Ausschuss für die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften“. Finden Sie den neuen Namen besser?

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Rieter: Ja, ich bevorzuge und spreche für mein Fachgebiet bewusst von der „Geschichte der Wirtschaftswissenschaften“, lieber noch im Singular, um die Einheit der Wirtschaftswissenschaft als Disziplin zu betonen. Die sonst kursierenden Begriffe „Theoriegeschichte“ oder „Geschichte der ökonomischen Lehrmeinungen“ oder „Geschichte des ökonomischen Denkens“ sind zu eng für das, worum es unserem Fach geht. Es sind schließlich nicht nur die Ideen, Theorien und Lehrmeinungen, die daraus hervorgehen, von Belang, sondern auch die Personen, die diese vertreten, und die Institutionen – zum Beispiel die Wirtschaftsforschungsinstitute und die Universitäten. Hinter jedem Gedanken steckt ein Mensch, eine Person, die eine Rolle spielt. Das ist schon faszinierend. Ich persönlich wurde wissenschaftlich so sozialisiert: Sobald in den Vorlesungen, die ich als Student an der FU Berlin besuchte, bestimmte Theorien behandelt wurden, tauchten auch die Personen auf, die sie erdacht hatten, und die Zeiten, in denen sich das vollzogen hatte. Überdies war es obligatorisch, die Vorlesung zur Dogmengeschichte zu belegen.
PWP : Sollte man Theorien nicht besser möglichst unabhängig von den Personen betrachten und beurteilen?
Rieter: Beurteilen vielleicht, betrachten aber nicht. Um sie richtig zu verstehen, kann man die Theorien nicht sinnvoll, gleichsam wie Folien, von den Leuten ablösen, die sie sich haben einfallen lassen. Die realgeschichtlichen, die geistesgeschichtlichen und auch die lebensgeschichtlichen Umstände greifen im Entstehen von Theorien meistens ineinander. Mir ist das seinerzeit erstmals so eklatant bei Irving Fisher aufgefallen, der doch als großer mathematisch exakt denkender Theoretiker gilt, als Bahnbrecher der entpsychologisierten mikroökonomischen Theorie. In Wirklichkeit aber ist seine Geldtheorie aus seinen persönlichen Einstellungen und Erfahrungen heraus erwachsen, eng verbunden mit seinen Wertvorstellungen und Weltanschauungen.
PWP: Inwiefern?
Rieter: Er war einfach geschockt davon, wie sehr die Menschen durch die Geldentwertung geschädigt wurden; er empfand das als Betrug und beklagte die Ungerechtigkeit des Geschehens. Fisher wollte mit seiner Quantitätstheorie unbedingt dazu beitragen, derlei zu verhindern. Auf die naive Version der Quantitätstheorie, also auf das Theorem der Proportionalität zwischen Geldmenge und Preisniveau, hat er sich dann zum einen deshalb verlegt, weil sie quantitativ einfacher zu handhaben war. Zum anderen, so hat es schon Joseph Schumpeter in seiner „Geschichte der ökonomischen Analyse“[1] erklärt, brauchte Fisher diese simple Formel, um seine gesellschaftspolitischen Vorstellungen zu verwirklichen, nämlich den Menschen die Geldillusion zu nehmen. Denn sie täusche die Menschen, zerstöre so die „Ethik des Geldsystems“ und erzeuge soziale Ungerechtigkeiten.
PWP: Aber wenn man eine Theorie nicht unabhängig von ihrem Erfinder betrachtet, dann verwirft man sie womöglich nur, weil man etwas gegen die Person hat, gegen ihre politischen Ziele, ihre Herkunft, ihr Wesen oder ihren Lebenswandel. Denken Sie nur an John Maynard Keynes, dessen theoretische Leistungen unseriöse Wissenschaftler und Kommentatoren immer einmal wieder mit dem Verweis auf sein Intimleben und mit der Unterstellung zu diskreditieren suchen, Kinderlosigkeit bedinge eine unangemessen hohe Zeitpräferenz.
Rieter: Klar, das ist völlig unseriös. Wenn wir bei Ihrem Keynes-Beispiel bleiben, dann bewegen wir uns da auf dem Niveau von Klatsch und Tratsch. Aber grundsätzlich würde ich es wie gesagt nicht ablehnen, Bezüge zwischen Theorie und Person herzustellen, zumindest nicht in der historischen Betrachtung. Wenn wir Wissenschaftler eine Theorie oder eine Hypothese über irgendetwas aufstellen, dann muss dies selbstverständlich so geschehen, dass sie begründet und intersubjektiv überprüfbar ist. Das heißt, ein anderer Wissenschaftler, der sich mit derselben Frage beschäftigt, muss sagen können, ob ihm einleuchtet, was man geschrieben bzw. behauptet hat, oder ob er es für blanke Spekulation hält, die auf schwachen Füßen steht. Ohne einen Beleg, zum Beispiel in Form eines Dokuments oder Selbstzeugnisses, darf man nichts über persönliche Hintergründe behaupten. Ich hatte zum Beispiel einmal einen kleinen Disput mit einem Kollegen darüber, woher Keynes seine Vorstellungen zur Erwartungsbildung und zur „Liebe zum Geld“ als Instinkt bezogen hat. Ein Großteil seiner Begriffe kommt in der Instinktpsychologie von William McDougall vor, die zur selben Zeit viel Beachtung fand. Ich konnte nun aber die Chronologie der Begriffsverwendung nachweisen: Ein bestimmter Begriff wurde von McDougall in die Fachpsychologie eingeführt, und erst danach taucht er bei Keynes auf, der ihn übernommen haben muss, wobei er McDougall allerdings nicht zitiert[2]. Manchmal kann man Dinge nicht abschließend beweisen, aber man kann sie zumindest so plausibel wie möglich machen, durch Dokumente, Selbstzeugnisse, Aussagen von Zeitgenossen und Kombinationen davon. Dementsprechend bin ich auch in meinen Studien zur Physiokratie vorgegangen, um die herrschende Meinung von der Blutkreislauf-Analogie des Tableau Économique zu widerlegen und Quesnays Zickzack-Schema uhrenmechanisch zu erklären[3].
PWP: Und was bringt einem das?
Rieter: Man versteht die Dinge einfach besser. Nehmen Sie den Fall von Adam Smith. Antoin E. Murphy, der in seinem Buch „The Genesis of Macroeconomics“[4] versucht, aus der Biographie von Ökonomen deren Theorien verständlich zu machen, kann immerhin erklären, warum Smith seine Einstellung zum Papiergeld geändert hat. Smith war dem Herzog von Buccleuch verpflichtet, dessen Tutor und Reisebegleiter er gewesen war und von dem er eine Leibrente bezog. Der Herzog hatte mit einer Bank eine Pleite erlebt und die East India Company wollte nicht helfen, woraufhin Smith eine Art Gutachten schrieb. Seine Einstellung zum Papiergeld, die darin zum Ausdruck kommt, war eine andere als zuvor. Da ist der Zusammenhang zwischen der Theorie, der Person und den Umständen schon sehr deutlich.
PWP: Aber läuft man nicht Gefahr, etwas Falsches, auch Unfaires zu schlussfolgern – hier zum Beispiel, dass Smith ein Gefälligkeitsgutachten geschrieben habe? Menschen ändern manchmal ihre Einstellungen und Urteile aufgrund neuer Erkenntnisse. Ich erinnere an Keynes, der einmal rhetorisch gefragt hat: „When the facts change, I change my mind. What do you do, Sir?“
Rieter: Ja, natürlich.
PWP: Mir macht es auch immer etwas Sorge, wenn nicht so sehr einzelne Theorien rezipiert und auf ihre Validität hin geprüft werden, sondern wenn die Namen derer, die sie irgendwann in ihrem Leben und im Zuge eines womöglich auch mit Irrungen und Wirrungen verbundenen geistigen Weges erfunden haben, zu einer Chiffre für eine bestimmte Ideologie werden – ob es nun Adam Smith ist oder John Maynard Keynes oder Walter Eucken.
Rieter: Da haben Sie recht. Zumal damit manchmal etwas Diskriminierendes einhergeht. Auch jetzt erleben wir das wieder. Mich ärgern zum Beispiel die Angriffe auf den Begriff Neoliberalismus, wo sich Leute zu Wort melden, die ganz offensichtlich keine Ahnung haben, wie diese Schule und ihre Inhalte historisch zustande gekommen sind und was sie bedeuten. Das sind ja nicht nur Fachfremde, sondern eben auch Wissenschaftler, die es besser wissen sollten, was wiederum dafür spricht, wie notwendig es ist, sich mit der Geschichte des Faches zu beschäftigen. Oder nehmen Sie den Begriff „Humankapital“, der keineswegs menschenverachtend ist, wie es manche Kritiker in ihrer ideologischen Empfindlichkeit behaupten. Es handelt sich um einen Fachbegriff, und der bringt zudem etwas Positives zum Ausdruck, nichts Negatives. Ich sehe die Aufgabe des Historikers der Wirtschaftswissenschaft unter anderem auch darin, solche Dinge klar zu machen. Aber abgesehen davon glaube ich, man muss unterscheiden.
PWP: Was muss man unterscheiden?
Rieter: Zwischen dem wissenschaftlichen Diskurs innerhalb eines Fachgebiets selbst und der notwendigerweise etwas holzschnittartigen Vermittlung des Lehrstoffs an Studenten. Didaktisch kommen wir nicht darum herum, Schubladen zu bilden. Wir würden die Studenten ja total verwirren, wenn wir ihnen von vornherein zum Beispiel jemanden wie Johann Heinrich von Thünen mit seiner Theorie einerseits als Modelltheoretiker und Neoklassiker vorstellten, andererseits aber auch als Reformsozialisten. Und François Quesnay ist natürlich nicht nur ein Physiokrat im Sinne eines cartesianischen Mechanisten, er ist auch Biologe und Arzt, und er nimmt historische und organizistische Überlegungen in sein Denken mit auf. Aber in der Vorlesung muss man ihn schon in seiner physiokratischen Hauptrolle als Vordenker mathematisch-quantitativer Wirtschaftsanalysen vorstellen. Wir müssen irgendwie Schnittmengen definieren und die Ökonomen in die so entstehenden Schubladen einsortieren. In der Forschung jedoch, wenn es ins Detail geht, müssen wir die Schubladen natürlich wieder aufziehen, auf die Grenzen unserer provisorischen Einteilung aufmerksam machen und differenzierter argumentieren. Freilich sind unsere Aussagen dann „weicher“, aber eben auch undogmatischer.
PWP: Warum braucht es die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften eigentlich?
Rieter: Sie ist wie die Wirtschaftsgeschichte schlicht ein wertvolles Bildungsgut, das an der Universität – sofern sie sich weiterhin als Bildungsstätte versteht – vermittelt werden muss. Zudem heißt es ja immer, dass wir auf den Schultern von Riesen stehen.[5] Dann möchte man doch diese Riesen auch einmal kennenlernen, auf deren Schultern man steht, nicht wahr? Und man möchte wissen, ob diese Schultern belastbar sind, oder welche anderen Schultern es gegeben hätte, um sich möglicherweise daran wenigstens anlehnen zu können. Zur Bildung gehört es einfach dazu, herausfinden zu wollen, was war. Und es ist Teil des Menschseins, „Gebildetheit“ anzustreben. Deswegen gehört dieses Fach nach meiner Auffassung dringend an eine Institution, die dafür da ist, jungen Leuten Urteilsvermögen und Sachkompetenz zu vermitteln. Nicht allein die Wissenschaftsgeschichte, auch andere Bildungsgüter gehören dazu, aber eben auch diese. In einem idealen Studium würde ich ihr eine Scharnierfunktion zubilligen. Sie gehört in jedes Curriculum.

PWP: Was genau brächte das den Studenten?
Rieter: Für die Studenten ist das Fach wichtig, weil sie die Möglichkeit bekommen, isoliert erworbenes Wissen einzuordnen. Sie lernen, wo etwas herkommt und hingehört. Die verschiedenen Konjunkturtheorien zum Beispiel sind nicht wirklich gut zu verstehen und zu beurteilen, wenn man nicht den zeitgeschichtlichen und diskursiven Kontext kennt, in dem sie aufgekommen sind. Wissenschaft ist ja letzten Endes nichts anderes als ein Gespräch, eine Diskussion zwischen Menschen, die immer mal wieder eine kluge Idee haben und sich in der Fortentwicklung ihrer Gedanken aufeinander beziehen. Es ist wichtig, Wissenschaft so dialogisch und fortlaufend zu verstehen und nicht zu glauben, man könne ein fertiges Kochbuch vorlegen – auch wenn viele Studenten das gern so hätten, weil man damit bequemer für Prüfungen lernen kann.
PWP: Und mit Blick auf die Forschung selbst? Was bringt uns da die Beschäftigung mit den Ideen der „Dead economists“, wie es in einem Buchtitel etwas despektierlich heißt [6] ?
Rieter: Die Geschichte der Wirtschaftswissenschaft ist zwar eine Geschichte „toter Ökonomen“, aber eben keine Geschichte „toter Ideen“. Sie ist deshalb zwangsläufig eines der Erkenntnismittel, über die wir verfügen. Man muss auf diesen Wissenshort nicht zwingend zurückgreifen, aber man kann, und man sollte es tun. Er ist komplementär zu allen anderen Teilgebieten des Faches verwendbar. Man denke an den Spruch von Georg Christoph Lichtenberg, wer nur Chemie könne, der könne auch das nicht. Das gilt auch für die Ökonomik. Wer nur die kann, der kann auch die nicht. Und wer nur Teilgebiete der Wirtschaftswissenschaft beherrscht, der beherrscht vielleicht auch die nicht. Gerade deshalb ist die Geschichte der Wirtschaftswissenschaft eine hervorragende, wichtige Kontrollinstanz. Wer von seinen Theorien sehr überzeugt ist, der tut gut daran, auch einmal einen Schritt zurück zu treten und die Sache von einer ganz anderen Seite anzuschauen. Dabei kann die Geschichte der Wirtschaftswissenschaft helfen. Sie schafft Selbstdistanz und ermöglicht Selbstkritik. Sie kann die Spezialisten, die wir natürlich unbedingt brauchen, oftmals gut vor Sackgassen warnen und dabei helfen, aus ihnen wieder herauszufinden. Ich liebe den Spruch von Francis Picabia, unser Kopf sei rund, damit das Denken die Richtung wechseln könne. Das hat mir immer eingeleuchtet.
PWP: Ist es nicht manchmal schwer, den Kopf zu drehen, ohne sich den Hals zu verrenken?
Rieter: Kann schon sein. Mir persönlich hingegen fällt es schwer, immer in die gleiche Richtung zu denken. Mir fällt es sehr schwer, wenn ich über irgendein Gebiet gearbeitet habe, dauerhaft oder ausschließlich dabei zu bleiben. Ich möchte immer einmal wieder etwas Neues anpacken. Ich bin neugierig und freue mich besonders auf Dinge, die mir zunächst ganz fremd sind. Ich weiß noch gut, wie fremd mir einst das Werk, die Zeit, die Sprache und überhaupt das Denken des Physiokraten François Quesnay waren. Je mehr ich aber in seine Schriften eintauchte, desto spannender fand ich das. Mir fiel dabei auf, dass man die Physiokratie auf drei verschiedene Weisen interpretieren kann: auf eine mechanistisch-theoretische, eine historisch-organische und eine marxistische. Dass es tatsächlich mehr als nur eine Lesart geben kann, hat damals im Dogmenhistorischen Ausschuss des Vereins für Socialpolitik für Diskussionen gesorgt.[7]
PWP: Gewisse Verengungen muss man auch in der Geschichte der Wirtschaftswissenschaften vermeiden.
Rieter: Oh ja, und Denkfehler auch. Für meine Arbeit ist mir in dieser Hinsicht schon früh ein Licht aufgegangen, und zwar durch den Aufsatz „Meaning and understanding in the history of ideas“[8], in dem Quentin Skinner meinte, mit einigen Mythen in der Wissenschaftsgeschichte aufräumen zu müssen. Er schrieb, es gebe drei Denkfehler: erstens, Doktrinen für zeitlos zu halten und sie rückwärts zu denken; zweitens, Kohärenz herzustellen; das dritte, Kontinuität zu sehen, wo es keine gebe. Alle drei Denkfehler gibt es in unserem Fach natürlich auch. Dass wir uns davor sehr hüten müssen, ist mir immer eingebrannt gewesen. Die Versuchung, zum Beispiel künstliche Kohärenz herzustellen, ist sehr groß, also die Neigung, jemandem aus Theorieversatzstücken, die man als Bausteine empfindet, allzu rasch ein geschlossenes System anzudichten. Da habe auch ich mich immer mal wieder am Riemen reißen müssen. Man glaubt, als Nachgeborener etwas zu erkennen – aber nein, nach genauerem Studium ist es dann meist doch nicht da. Was die Kontinuität angeht, so ist es unsinnig zu behaupten, beispielsweise, dass die Neoklassik eine Entfaltung der Klassik sei, die latent schon dieselben Angebots- und Nachfragekurven enthalte.
PWP: Wer das tut, unterschätzt die Kontingenz von Erkenntnisprozessen. Aber wenn es darum geht, den Kopf zu drehen, um das Denken zu erfrischen, hält jedenfalls die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften viele mögliche Richtungen bereit. Sind alle gleich nützlich?
Rieter: Das kommt natürlich ganz darauf an. Für die Forscher ist von entscheidender Bedeutung, dass sie die Geschichte der Wirtschaftswissenschaft als einen Fundus verstehen und nutzen können, sozusagen als einen Instrumentenkasten der Erkenntnis. Man braucht das erstens, um Referenzvorstellungen zu entwickeln. Gerade diese vermisse ich oft im wissenschaftlichen Diskurs. Wenn jemand kritische Bemerkungen über den Sozialismus macht, dann muss man von ihm verlangen können, dass er eine solide Vorstellung davon hat, was die Lehren von Marx und Engels und anderer Sozialisten ausmacht. Wer zum Beispiel ein glühender Liberaler ist, muss das wissen, wie auch der Sozialist darüber Bescheid wissen muss, was liberale Denker an Theorien vorgelegt haben. Alles andere wäre Ideologie. Wir brauchen solche Referenzvorstellungen, denn sonst haben wir gar keine Möglichkeit, den Abstand zwischen verschiedenen Positionen richtig zu ermessen und unsere eigene Position mit mehr Sicherheit zu bestimmen. Das ist genauso mit Utopien, auch die brauchen wir. Zweitens braucht man die Geschichte der Wirtschaftswissenschaft, um aktuelle Probleme noch einmal in einem neuen Licht betrachten und bestenfalls dadurch lösen zu können. Wieviel Inspiration alten Theorien zu entlocken ist, sieht man doch schon daran, dass die Namen von ökonomischen Denkern wie Gustav Wicksell oder Eugen von Böhm-Bawerk heute wieder stärker ins Gespräch kommen. Manche Theorien und Topoi gehen unter, manche verschwinden nur zeitweise, aber die Mehrzahl eben nicht. Sie kommen immer wieder hoch.
PWP: Zum Beispiel?
Rieter: Die ganze Diskussion um die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank mit Mario Draghis berühmter Ansage „Whatever it takes“ aus dem Jahr 2012 zum Beispiel – die kennt man schon aus der Bullion-Kontroverse und dem anschließenden Currency-Banking-Streit im 19. Jahrhundert.[9] Ähnliche Ansagen haben seinerzeit schon Direktoren der Bank of England gemacht, und die Diskussion, die sich daran entzündete, entspricht voll und ganz dem Muster älterer wie neuerer Rules-vs.-Authority-Debatten. Das Muster, der Topos und die dahinterstehenden Theorien ziehen sich von den alten englischen Debatten vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in unsere Gegenwart, und ich prophezeie, das wird in hundert Jahren auch noch so sein. Dieser Dualismus beschreibt ein Grundmuster, das immer wiederkehren wird. Ich kann etwas durch Menschen regeln, durch deren diskretionäre Entscheidungen, oder ich arbeite mit einem Regelwerk, das zwar Menschen geschaffen haben, aus dem sie ihre Finger aber in der Folge bewusst heraushalten. Das ist eine Einsicht, die man aus der Geschichte der Wirtschaftswissenschaft gewinnt: Es gibt keine abschließenden Wahrheiten, sondern wir bewegen uns immer in den Dualismen des Denkmöglichen.
PWP: Und wie ist zu entscheiden, wo genau in dem Dualismus man sich positionieren sollte?
Rieter: Da kommt dann die ökonomische Theorie ins Spiel. Denn den Ausschlag gibt am Ende, wer welche Theorie vertritt. Wer Menschen viel Schlechtes zutraut und damit rechnet, dass sie entsprechend handeln, um ihren persönlichen Nutzen zu maximieren, der ist wahrscheinlich misstrauisch und traut auch einem Zentralbankchef zu, zum eigenem Vorteil Entscheidungen zu treffen – und der ist dann unter allen Umständen für Regeln. Bekanntlich war schon Ricardo entschieden dieser Auffassung. Die Diskussion um die Gestaltung des westdeutschen Zentralbanksystems nach 1945 lief anders. Da war im Grunde Konsens, dass man so ein wertvolles Gut wie die Währung keinem seelenlosen Mechanismus anvertrauen dürfe, sondern dass da verantwortungsvolle Menschen das Sagen haben müssen, die nicht nur sachkompetente Persönlichkeiten sind, sondern über Lebenserfahrung und Weitblick verfügen. Wer Menschen dies zutraut, legt weniger Wert auf feststehende Regeln.
PWP: Kann es sein, dass man eine Zeitlang mit Regeln gut fährt und irgendwann nicht mehr?
Rieter: Ja, natürlich ist das möglich, weil sich die Verhältnisse ändern und die Erkenntnisse auch. Was zum Beispiel die Geldmenge angeht, so herrschte viele Jahre in der Ökonomie ein tiefes Vertrauen auf quantitätstheoretische Zusammenhänge. Und dann bröckelte dieses Vertrauen. Es gab Ökonomen, die darauf hinwiesen, dass die Quantitätstheorie in der Praxis eben doch nicht immer funktioniert, weil es noch andere, bisher unberücksichtigte Einflüsse gab, die man nicht in die Ceteris-Paribus-Bedingungen abschieben darf, sondern die als unabhängige Variablen durchaus auch zum Erklärungszusammenhang gehören. Deshalb hat man auch, als die EZB gegründet wurde, einen neuen Ansatz gefunden, die Zwei-Säulen-Strategie. Und jetzt kommen wir, offensichtlich auch unter dem Druck der Verhältnisse, de facto wieder mehr zu diskretionären Entscheidungen.
PWP: Ist das aus Ihrer Sicht gut oder schlecht?
Rieter: Schwer zu sagen. Denn was ist das Kriterium für gut? Das hängt doch immer davon ab, was wir erreichen wollen, und das ist letztlich eine politische Frage. Die Frage ist, ob wir dieses Währungssystem erhalten und nicht riskieren wollen, dass die Europäische Währungsunion zusammenbricht. Wie man sich dazu auch verhalten mag, heute sind es auf jeden Fall weniger abstrakte Institutionen und formale Regeln als Menschen, die durch ihre jeweiligen Entscheidungen, ihren Einfluss und ihre Überzeugungen alles zusammenhalten.
PWP: Das beunruhigt mich jetzt. Muss man nicht danach streben, Regeln und Institutionen zu schaffen, die auch dann noch funktionieren, wenn der Mensch versagt?
Rieter: So ist es. Aber es gibt nun einmal eine gewisse Zyklizität in den ökonomischen Vorstellungen, Theorien und Meta-Erzählungen. Mal kommt die eine Theorie auf, mal die andere. Mal legt man mehr Wert auf Regeln und Institutionen, mal weniger. Ich will nicht so leichtfertig sein, das Moden zu nennen, sondern oftmals hängt es mit den sich herausbildenden Netzwerken wissenschaftlicher Gemeinschaften zusammen, dass mal das eine immer bedeutender wird, mal das andere. Es ist wichtig, nicht wie etwa Gustav Schmoller zu denken, man sei im Besitz „feststehender Wahrheiten“.
PWP: Wo sehen Sie das denn in der Ökonomik?
Rieter: Zum Beispiel bei allen, die versuchen, andere Theorien als unwissenschaftlich, heterodox oder als vorübergehende Erscheinungen zu diskreditieren und den eigenen Standpunkt zu verabsolutieren. Ich habe das einmal im Zusammenhang mit dem Monetarismus erlebt. Ich kann mich gut erinnern, wie ich bei einem Auftritt von Karl Brunner über eine seiner Forderungen ziemlich betroffen war und mir sagte, so will ich nie denken. Auf einer Tagung am Ammersee vertrat er den Standpunkt, dass die monetaristische Geldmengenregelung Verfassungsnorm werden müsse. Da habe ich mich nur gefragt: Was ist das für eine Anmaßung? Und was soll das?
PWP: Vielleicht muss man bedenken, dass Brunner Schweizer war. Die Schweizer Verfassung ist infolge der Eidgenössischen Volksinitiativen wandelbarer als das deutsche Grundgesetz. Die Festschreibung, die er empfahl, war insofern wohl nicht ganz so hart.
Rieter: Gewiss. Aber mich hat schockiert, dass sich da ein Ökonom offensichtlich nicht darüber im Klaren war, dass seine Theorie nur unter bestimmten Bedingungen gilt, und dass sich diese Bedingungen ändern können, weshalb dann andere Theorien relevant werden können. Dies nicht zu respektieren, offenbart einen Fundamentalismus, der in der Wissenschaft nichts zu suchen hat. Das Problem besteht für mich darin, dass es Brunner darum ging, das seiner Überzeugung entsprechende Ziel der Geldpolitik rechtlich zu fixieren. Da blieb eine Theorie nicht Theorie, sondern wurde zum gesellschaftlichen Ziel, das zu bestimmen sich ein Ökonom anmaßte. So war das ja schon bei Gustav Schmoller im Blick auf die Sozialpolitik und die Rolle von „Vater Staat“. Es steht dem Ökonomen nicht an, bestreitbare Wirtschaftslehren als gesellschaftliche Ziele festzuschreiben. Noch ein anderes Beispiel, diesmal aus meiner Beschäftigung mit Otto Veit, der von 1947 bis 1952 Präsident der Landeszentralbank von Hessen und zugleich Professor an der Universität Frankfurt war. Geprägt durch die Erfahrung mit der Hyperinflation in Deutschland, wollte er Geldpolitiker, die ein „Währungsdesaster“ verursachen, strafrechtlich verfolgt sehen. Er forderte für das Abweichen der geldpolitischen Praxis von den von ihm für richtig gehaltenen geldpolitischen Maßgaben einen Paragraphen im Strafgesetzbuch, der es erlaubt, „Währungsgefährdung, -verrat und -betrug“ zu sanktionieren.
PWP: Brunner, Schmoller, Veit und andere gaben eben auf der Grundlage einer Theorie, die sie für die beste hielten, eine Empfehlung ab. Was ist daran verkehrt?
Rieter: Der Fehler liegt darin, eine rechtlich bindende Empfehlung mit einer bestimmten ökonomischen Theorie dogmatisch zu begründen. Wenn man wie ich der Meinung ist, dass ökonomische Theorien nicht zeitlos sind, sondern zeitbedingt, dass auch der Ort ihrer Anwendung eine Rolle spielt und dass die Umstände sich ändern können, dann darf man nicht versuchen, eine prinzipiell widerlegbare ökonomische Theorie zum politischen Ziel oder zur juristischen Norm zu erheben.
PWP: Was heißt das denn im Fall Brunner konkret?
Rieter: Wenn man schon über Verfassungsnormen nachdenkt, dann muss man sich dafür einsetzen, dass sie hinreichend weit gefasst sind. Die Vorschrift aus dem Bundesbankgesetz, dass die Institution die Aufgabe habe, „die Währung zu sichern“, war insoweit ideal[10]. Es wäre ein Fehler gewesen hineinzuschreiben, sie solle „die Währung sichern, indem sie die Quantitätstheorie verwirklicht“ oder „indem sie die Geldmenge jährlich um x Prozent erhöht“.
PWP: In der Geldpolitik haben wir heute aber eine Festlegung, wenn auch nicht in der Verfassung, aber doch in der Strategie der EZB, dass die Notenbank die Inflationsrate nahe 2 Prozent halten soll.
Rieter: Eben. Und ich bin nicht sehr glücklich damit, dass wir uns in der europäischen Geldpolitik an einen Index gebunden haben. Zu meinen, das Richtige zu tun, indem man eine feste Maßzahl für ein Ziel definiert, das aber im mathematischen Sinne nichts anderes darstellt als, wie es Bent Hansen ausdrückte, eine endogene Variable zu beschränken. Mir leuchtet bis heute nicht ein, warum gerade 2 Prozent noch gut sein sollen. Abgesehen davon, damit eine Messgenauigkeit der Veränderung der Binnenkaufkraft vorzuspiegeln, die gar nicht gegeben ist, fehlt bei einer rein quantitativen Betrachtung die qualitative Dimension der Währungssicherung.
PWP: Sie argumentieren mit der Vorläufigkeit der Erkenntnis und der Wandelbarkeit der Umstände, aber was Sie sagen, passt auch zu den derzeit zunehmenden Vorwürfen

gegen ordoliberales Denken, es sei „autoritär“ – weil es durch Verrechtlichung bestimmte wichtige Entscheidungen der politischen Aushandlung im Alltag entziehen wolle.
Rieter: Das Label ist boshaft, und historisch ist es falsch, aber mit Blick auf heute ist an dem Einwand manchmal etwas dran. In der Europäischen Union meinte man zum Beispiel der „Sozialen Marktwirtschaft“ in den Verträgen einen unverrückbaren verfassungsmäßigen Status geben zu müssen. Warum eigentlich? Wir haben sie ja noch nicht einmal in Deutschland als solche ausdrücklich in der Verfassung stehen – und das mit gutem Grund. Im historischen Rückblick muss man sich vor Augen führen, dass die Mitglieder im Parlamentarischen Rat sehr unterschiedlicher Couleur waren, sich aber alle darauf einigen konnten, dass man bestimmte Vorverfügungen nicht so treffen darf, dass man nicht auch andere Möglichkeiten offenhält. Von rechts bis links, ausgenommen die KPD, gab es darüber Einigkeit. Nun waren die Parteien damals wirtschaftspolitisch noch relativ nahe beieinander positioniert; die CDU neigte in manchen Fällen zu Verstaatlichungen und die SPD war nicht völlig verschlossen gegenüber der Marktwirtschaft. Was damals eigentlich alle gesellschaftlichen Kräfte verband, war etwas, was heute kaum noch jemand zu tun versteht, was aber damals entscheidend war: Sie suchten dritte Wege. Die Liberalen, die Sozialisten, die Gewerkschaften, auch die Wissenschaftler, alle waren sie überzeugt, dass man etwas tun müsse, um das Soziale und den Markt miteinander zu verbinden, dabei zu Bedingungen, die alle akzeptieren können, damit ausreichend Güter erzeugt werden. Es ging ihnen um eine optimal funktionierende Wirtschaft und zugleich auch um eine möglichst gute Gesellschaft. Ihnen war klar, dass man dafür von radikalen Utopien wegkommen und stattdessen aufeinander zugehen muss. Selbst so unterschiedliche Wissenschaftler wie der Sozialist Eduard Heimann und der Liberale Alexander Rüstow waren dazu in der Lage.[11] Dafür bedarf es einer gewissen Offenheit und Denktoleranz, und daran fehlt es heute leider häufiger.
PWP: Sollten sich Ökonomen nicht besser sowieso mit politischen Werturteilen zurückhalten?
Rieter: Es gibt Ziele, die Politiker legitimerweise vorgeben, und da ist der Ökonom in der Tat nur gefragt zu sagen, mit welchen Mitteln sich diese erreichen lassen und mit welchen Nebenwirkungen man dabei rechnen muss. Aber ich bin auch der Meinung, dass der Ökonom selbst ein Bekenntnis davon ablegen muss, was er mit seiner Wissenschaft bezweckt. Das bedeutet dann, ein Werturteil zu fällen, ganz klar, aber es ist notwendig. Ich bemängele, dass viele Ökonomen ein solches Werturteil nicht mehr fällen und schon gar nicht kommunizieren, vielleicht aus Sorge, dass man sie dann für Ideologen hält. Für die wirklich großen Ökonomen, die wir aus der Fachgeschichte kennen, war es überhaupt keine Frage, dass es dessen bedarf. Bei Alfred Marshall zum Beispiel heißt es, die Aufgabe des Ökonomen sei es, wissenschaftlich für ein „improvement of society“ zu arbeiten. Er hatte eine dezidierte Vorstellung davon, unter welchen Bedingungen die Menschen arbeiten und leben sollten – aber ganz ohne klassenkämpferische Anklänge. Ebenso Thünen, der seine agrar- und wirtschaftstheoretischen Überlegungen allein darauf ausrichtete, dem „Wohl der Menschheit“ zu dienen. Und noch etwas; neulich fiel mir die Rektoratsrede wieder in die Hand, die Fritz Neumark 1954 in Frankfurt hielt. Darin definierte er die Aufgabe der Ökonomen dahingehend, dass sie – ich zitiere sinngemäß – geduldig an der Realisierung einer Wirtschaftsordnung mitzuwirken haben, die Funktionsfähigkeit und materiellen Fortschritt mit Menschenwürde und sozialer Gerechtigkeit verknüpft. Ich teile diese Ansicht ganz und gar. Die Wirtschaftswissenschaft hat einen solchen Zweck.
PWP: Hat nicht der wissenschaftliche Fortschritt geholfen, diesen Zweck zu erreichen?
Rieter: Nur zum Teil. Wir haben uns zum Beispiel mit dem, was ich „Popperei“ nenne, auch dabei blockiert. Es begann in den sechziger Jahren. Auf einmal bekamen die Ökonomen das Gefühl, sie seien in der Lage, ihre Wissenschaft mit den exakten Naturwissenschaften auf eine Ebene zu stellen. Es war zwar klar, dass man nie „die Wahrheit“ erreichen kann. Aber die Vorstellung war schon, sich immer näher an sie herantasten zu können, wenn man nur empirisch gehaltvolle Hypothesen aufstellt und sie überprüft. Werden sie falsifiziert, dann wirft man sie weg, und wenn sie nicht falsifiziert werden, dann bestehen sie fort. Alle begannen nun zu „poppern“, überall wurde Falsifizierbarkeit verlangt und nach Tautologien und Modellplatonismus gefahndet. Die Folge war, dass so manche wichtige theoretische Arbeit unterblieb, weil es nicht immer so einfach – und im Übrigen auch nicht immer das Ziel – war, mit empirisch gehaltvollen Hypothesen aufzuwarten. Ökonomische Theorien sind ja viel zu komplex, als dass man das Popper-Kriterium auf sie anwenden könnte. Die schon erwähnte Quantitätstheorie zum Beispiel ist so ein Fall. Sie im Popperschen Sinne zu überprüfen, ist eigentlich nicht möglich, weil zu viele Einflussfaktoren in den Ceteris-paribus-Bedingungen stecken und damit das Testergebnis ad absurdum führen. Übrigens arbeitet man ja noch nicht einmal in den Naturwissenschaften so. In der Physik zum Beispiel wird viel eher induktiv vorgegangen, man sammelt Material und schaut, ob sich darin irgendwelche Muster erkennen lassen. Zur Erklärung dieser Muster braucht man dann aber wieder eine Theorie.
PWP: Finden Sie den Popperschen Anspruch denn ganz falsch?
Rieter: Nein, aber in der klassischen Form ist er zumindest für Wirtschaftstheorien viel zu eng und das Ausschlusskriterium zu radikal. Wir brauchen andere Kriterien. Für die Wirtschaftstheorie ist der Ansatz von Imre Lakatos besser, weil damit komplexe Forschungsprogramme zu identifizieren und zu beurteilen sind. Wissenschaftstheoretisch brauchbar erscheinen mir auch Denkstil-Konzepte. Ob Thomas Kuhns Ansatz wissenschaftlicher Revolutionen und Paradigmenwechsel überhaupt auf die Wirtschaftswissenschaft anwendbar ist, wurde ja kontrovers diskutiert, zumal er das selbst für fraglich hielt. Was er „normalwissenschaftliche“ Forschung nennt, gibt es meines Erachtens allerdings auch in der Ökonomik, nämlich in fest gefügten, orthodoxen wissenschaftlichen Gemeinschaften mit entsprechenden Netzwerken. An derartiger Forschung stört mich die Vorstellung, dass man nur Puzzleteile zusammenfügen müsse – dass also alles eigentlich schon da ist, man die Versatzstücke nur zu suchen und zusammenzubringen habe, und irgendwann kommt dann eine universelle oder geschlossene Theorie heraus. So läuft das aber nicht.
PWP: Ein solcher Ansatz wirft einen auf das zurück, was man jetzt schon denken kann, und insofern ist er nicht dynamisch – ist es vielleicht auch das, was Sie bemängeln? Aber sind wir nicht insoweit gebunden, ob wir wollen oder nicht?
Rieter: Ja, das ist richtig, aber man darf eben nicht aus dem Blick verlieren, dass die Ökonomie ein verdammt komplexes System ist. Es ist derart komplex, dass man es nicht simplifizieren darf. Interdependenz ist gleichsam die Quintessenz des Ökonomischen. Alles hängt voneinander ab. Dass er das zu seiner Zeit schon erkannt hat, das hat mich so an François Quesnays Tableau Économique fasziniert. Die Grundeigentümer, die Pächter, die Gewerbetreibenden sind einzel- wie volkswirtschaftlich auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden. Insofern sind alle von gleicher Bedeutung. Die Wechselwirkungen darzustellen und zu analysieren, das war seine Absicht. Oder Alfred Marshall. Bei ihm gibt es dieses Bild von dem Wasserbassin, das mit schwimmenden Kugeln angefüllt ist. Wenn man nur eine davon antippt, kommt in dem Becken alles in Bewegung. Genau deswegen führt er ja die Partialanalyse ein, weil das Ganze – wie er meinte – totalanalytisch nicht in den Griff zu bekommen sei. Natürlich kann man da bei der Auswahl der unabhängigen und abhängigen Variablen nicht nach dem Zufallsprinzip verfahren, sondern man muss herausfinden, was im jeweils untersuchten Fall eine größere und was eine kleinere Bedeutung hat. Um das zu unterscheiden, führte Marshall unter anderem die Elastizitätsanalyse ein, die dann allerdings auch nicht alles hielt, was er sich davon versprach. Aber der Punkt ist und bleibt, dass wir uns stets der Komplexität der Ökonomie und ihrer Interdependenzen bewusst sein müssen. Wie Marshall sagte: „Every dogma that is short and simple is false.“
PWP: Haben Sie in dem breiten Spektrum der Geschichte des ökonomischen Denkens, das Sie bearbeitet haben, eigentlich einen Liebling?
Rieter: Ja. Im Grunde zwei: Johann Heinrich von Thünen und Alfred Marshall. Thünen, den übrigens auch Marshall sehr schätzte, bin ich dankbar dafür, unsere Wissenschaft mit methodischen Neuerungen, namentlich mit der Marginalanalyse, bereichert zu haben. Seine theoretischen Instrumente waren ihm jedoch nie Selbstzweck. Sie dienten ihm allein dazu, Ideen und Konzepte zu entwickeln, die beanspruchten, wirtschaftliche und soziale Lebensbedingungen zu gestalten. Thünen hätte natürlich gesagt: zu verbessern. Und Marshall mag ich aus gleichem Grund. Auch ihm verdanken wir elementare Werkzeuge und damit eine gute Ausrüstung für unser Fach. Aber ich mag Marshall nicht nur als Ökonom, der sich mit dem Vorhaben, sein Fach als „Economics“ auf eigene Füße zu stellen, gegen Kollegen durchsetzte und es professionalisierte, indem er den Anstoß gab zur Gründung der Royal Economic Society mit eigenem Fachorgan, dem „Economic Journal“. Ich verehre ihn auch wegen seines reformerischen Engagements und wegen seiner Einstellungen. Ich finde schon bewundernswert, dass er seine schöne Stelle als Fellow am St. John’s College in Cambridge aufgab, um seine Schülerin Mary Paley heiraten zu können. An den Colleges in Cambridge und Oxford galt noch der Zölibat. Ich habe auch Hochachtung davor, dass er damals gemeinsam mit dem Philosophen Henry Sidgwick gegen den Protest männlicher Kollegen bereit war, am neu gegründeten Newnham College in Cambridge Frauen eine universitäre Ausbildung zu bieten. Mary Paley Marshall verband mit ihrem Mann neben dem pädagogischen Ehrgeiz, Persönlichkeiten zu bilden, unter anderem auch ein großes Kunstverständnis und die Liebe zur Literatur (übrigens war es im Hause Thünen in Tellow nicht anders). Und sie hat wohl einen größeren Anteil am Werk ihres Mannes, als sichtbar ist. Ein bewundernswertes Paar!

Das Gespräch führte Karen Horn. Heinz Rieter wurde von Holde Schneider fotografiert, Karen Horn von Beatríz Barragán.
Zur Person
Rundes und Unrundes
Heinz Rieter
Heinz Rieter wurde am 9. September 1937 in Weimar geboren. Er wuchs in Erfurt auf, wo seine Mutter in der DDR-Zeit mehrere Konsum-Filialen leitete. Trotzdem war es alles andere als absehbar, dass es ihn eines Tages zu den Wirtschaftswissenschaften hinziehen würde. Der junge Mann schwärmte für die Literatur, das Theater und die Kunst ganz allgemein, und er träumte davon, Dramaturg oder Regisseur zu werden, vielleicht auch Literaturkritiker – oder, warum nicht, Verlagsdirektor. Weil er die deutsche Sprache so liebte, stand für ihn eigentlich fest, dass er Germanistik studieren würde. Nach dem Abitur bewarb er sich, noch 17-jährig, um einen Studienplatz in Leipzig. Die Aussichten waren nicht gut. Er war kein Arbeiterkind; Arbeiterkinder wurden bevorzugt. Was Rieter bekam, war ein Platz für ein Lehramtsstudium.
Im Zulassungsbüro machte man ihm unmissverständlich klar, dass er keinesfalls im Verlauf des Studiums in sein Wunschfach wechseln dürfe und dass er nach dem Abschluss jede Stelle annehmen müsse, die ihm der Arbeiter- und Bauernstaat zuweisen werde, um dort seine Dankbarkeit abzudienen. Er kehrte auf dem Absatz um: „Ich wollte kein Lehrer werden“. Er beschloss, die DDR zu verlassen. Er wartete noch bis zum 18. Geburtstag, damit seine Mutter keine Schwierigkeiten bekam, und fuhr, den Koffer auf das Fahrrad geladen, nach West-Berlin. Dort musste er wie alle DDR-Abiturienten das 13. Schuljahr nachholen. In einer Studienberatung an der Freien Universität (FU) Berlin wurde ihm dann allerdings klar, dass ihn ein Studium der Germanistik nicht glücklich machen würde. Sich unter anderem mit Althochdeutsch auseinanderzusetzen, reizte ihn ganz und gar nicht. „Mich interessierte nur die Literatur, nicht so sehr die Sprache an sich.“
Von einem Studenten der Volkswirtschaftslehre, der von seinem Fach hellauf begeistert war, bekam er daraufhin den Rat, sich doch dort einmal umzusehen, auch wenn das bedeuten würde, sich von der Schönen Literatur ganz zu entfernen. Die Ökonomik sei das ideale Studium, weil es so breit gefächert sei, es gehe zwar um Wirtschaft, aber auch um Politik und Geschichte, und man könne Mathematik gebrauchen. Von dieser Begeisterung ließ sich Rieter anstecken, obwohl er von der Volkswirtschaftslehre noch nie gehört und die Wirtschaft ihn auch nicht interessiert hatte: „Aus der Sicht der DDR war die Wirtschaft ein eindeutiges Phänomen, ein monolithischer Block, der fes

te Prinzipien hatte. Da gab es nichts zu erforschen, das nahm man einfach so zur Kenntnis.“ In der DDR wurde in der Schule zwar Marxismus-Leninismus unterrichtet, aber nicht, wie ein Wirtschaftssystem funktioniert.
An der FU herrschte damals eine völlig andere Atmosphäre als in den sechziger und siebziger Jahren, geschweige denn heute[12]. „Damals wurde noch jeder Student vom Rektor per Handschlag begrüßt.“ Prägende Köpfe waren für Rieter dort der Keynesianer Andreas Paulsen und der Sozialpolitiker Joachim Tiburtius, der wie der Ökonom und Soziologe Friedrich Bülow noch in der Historischen Schule verwurzelt war. Bülows Nazi-Vergangenheit war damals noch nichts, worüber man an der Universität groß sprach. Für die Aufarbeitung der Rolle von deutschen Ökonomen im Nationalsozialismus setzte Rieter später, auch in Zusammenarbeit mit seinen Doktoranden, entscheidende Impulse[13].
Aus der DDR hatte Rieter vor allem eine Aversion gegen scheinbar feststehende Wahrheiten mitgebracht. Bis heute hat er dafür eine ausgeprägte Sensibilität, gerade mit Blick auf sein eigenes Fach. Als er zum Beispiel die Rektoratsrede von Gustav Schmoller aus dem Jahr 1897 das erste Mal gelesen habe, so erzählt er, da sei er schlichtweg empört gewesen, wie Schmoller auf die Idee kommen konnte, dass es auf der einen Seite feste Wahrheiten gebe und auf der anderen Seite wechselnde Theorien. „Dass jemand derart meinte, die Weisheit gepachtet zu haben, das kam mir sehr bekannt vor. In meiner Schulzeit musste man nur in seinen Aufsätzen die marxistische Basis-Überbau-Theorie und die Formationslehre erwähnen, und kein Lehrer wagte es, einen zu kritisieren. Ich habe bei der Lektüre Schmollers gespürt, dass es auch in der Ökonomie Leute gibt, die so denken, die sich im Besitz feststehender Wahrheiten wähnen und versuchen, andere Theorien als vorübergehende Moden zu diskreditieren.“ Rieter selbst hat sich einen Satz des französisch-kubanischen Künstlers Francis Picabia zum Wahlspruch erhoben: „Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.“
Nach Assistentenjahren in Berlin ging Rieter 1965 mit seinem Chef und Doktorvater Rudolf Schilcher, einem Schüler Paulsens, an die damals erst drei Jahre alte Ruhr-Universität Bochum, die erste Universitäts-Neugründung nach dem Krieg. An Schilchers Lehrstuhl war Rieter zuständig für alles, was mit Geldtheorie und Geschichte der Wirtschaftswissenschaft zu tun hatte. Er wurde 1969 mit einer Arbeit über „Die gegenwärtige Inflationstheorie und ihre Ansätze im Werk von Thomas Tooke“[14] promoviert. In der Folge unterrichtete Rieter – ein den Studenten stets zugewandter, geduldiger, ermutigender Lehrer – als Wissenschaftlicher Assistent und Akademischer Rat an der Ruhr-Universität, bis er 1984 einem Ruf auf einen Lehrstuhl an der Universität Hamburg folgte. Dort leitete er bis zur Emeritierung den Arbeitsbereich „Geschichte der Volkswirtschaftslehre“ des Instituts für Wirtschaftssysteme, Wirtschafts- und Theoriegeschichte.
Vor vierzig Jahren war Rieter Gründungsmitglied des Dogmenhistorischen Ausschusses im Verein für Socialpolitik, der heute zu seiner Freude als „Ausschuss für die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften“ firmiert. Ein „Meister seines Fachs“, als den ihn der frühere Vorsitzende Hans-Michael Trautwein in einem Sammelband zu seinen Ehren[15] würdigte, prägt er den Ausschuss mit seiner stupenden Belesenheit, sanften Autorität und begütigenden Versöhnlichkeit bis heute, wie auch das von ihm mitinitiierte jährliche Doktorandenseminar zur Erneuerung der Ordnungsökonomik an der Universität Erfurt.
Als Historiker der Wirtschaftswissenschaften vertritt Rieter einen Ansatz, in dem es nicht so sehr darum geht, die Lehren von Denkern aus vergangenen Epochen auf das zu überprüfen, was zum heute als gültig anerkannten Theoriebestand passt: Die „rationale Rekonstruktion“ ist nicht seine Sache; den heutigen Theoriebestand betrachtet er nicht als systematisch überlegen und schon gar nicht als abschließend. Für ihn besteht die Herausforderung darin, ältere, zum Teil auch in Vergessenheit geratene Lehren aus sich selbst heraus, vor ihrem zeitgeschichtlichen Hintergrund und im Lebenskontext ihrer Erfinder zu erfassen, was aber voraussetzt, dass man sich selbst so weit wie möglich von den eigenen geistigen Prägungen löst und in die Denkweisen der historischen Figuren eintaucht. Mit seiner Schrift zu den „Autobiographien und Memoiren von Ökonomen“[16], ein Produkt langer und akribischer Recherchen, hat er der theoriegeschichtlichen Forschung hierfür einen wichtigen Anstoß gegeben. Auch hinter den Kulissen hat er viel bewegt, zum Beispiel mit Blick auf die Erhaltung von Johann Heinrich von Thünens Gut im mecklenburgischen Tellow (es ist heute ein Museum) sowie auf die Erschließung und Veröffentlichung von Thünens Briefen.
Inhaltlich bewegt sich Rieter hauptsächlich in dem von Geldtheorie und Makroökonomik aufgespannten Themenraum, ohne sich auf bestimmte Schulen oder Epochen festgelegt zu haben. Er hat sich in großer Tiefe mit dem Leben und Werk einer Vielzahl von bekannten und weniger bekannten ökonomischen Denkern befasst, von François Quesnay und Adam Smith bis hin zu Gustav Schmoller und Wilhelm Röpke. Dabei treibt ihn immer wieder um, welche konzeptionellen Vorprägungen oder „voranalytischen Visionen“ (Schumpeter) Denker in eine bestimmte Richtung gehen lassen, von der sie später nicht mehr abweichen können: was ihre eigentlich runden Köpfe dann womöglich doch noch unrund macht. (orn.)
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