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Publicly Available Published by De Gruyter August 28, 2020

„In dieser Krise wirken alle Kräfte in Richtung einer Spaltung der Gesellschaft“

Ein Gespräch über die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Krise, die Zukunft der Globalisierung und die Probleme der ökonomischen Disziplin

  • Karl-Heinz Paqué EMAIL logo

PWP: Herr Professor Paqué, wir alle wissen nicht, wie lange uns das Corona-Virus noch im Griff halten wird. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es wieder zu Lockdowns kommt, mit den nun schon bekannten schmerzhaften wirtschaftlichen Folgen. Die Unsicherheit ist so groß wie selten. Wie besorgt sind Sie?

Paqué: Ich bin sehr besorgt. Man muss schon im Blick haben, dass die meisten großen Schocks und schweren Rezessionen in der Wirtschaftsgeschichte Spuren hinterlassen haben, vor allem am Arbeitsmarkt. Sie führen in der Regel dazu, dass das Produktionspotential dauerhaft schrumpft. Das ist meine Hauptsorge und zugleich das große Fragezeichen in der Corona-Krise: Wie schnell kommt die Erholung, werden wir da ein V, ein U, ein L sehen? Mein Gefühl ist, dass es ein langgezogenes U wird, und dies leider mit langfristigen Folgen.

PWP: Kurze Zwischenfrage: Wann wird das V eigentlich zum U? Und sind wir nicht über den Punkt, wo es ein V werden könnte, nicht schon hinaus?

Paqué: Die Abgrenzung ist natürlich schwierig. Auf jeden Fall sehen wir jetzt gerade, dass die Motoren der Wirtschaft wieder anspringen. Aber es wird eine Menge von Nachwirkungen geben, insbesondere deshalb, weil diese Krise den gesamten gewerblichen Mittelstand getroffen hat. Das war ganz anders als beim Konjunktureinbruch im Zuge der Weltfinanzkrise 2009, der nach den Banken vor allem die exportorientierte Industrie traf. Wir sehen auch jetzt international zusammengebrochene Wertschöpfungsketten, die wohl wiedererstehen werden. Ob zu 100 Prozent oder weniger, ist allerdings eine offene Frage. Ich rechne mit einem beachtlichen Strukturwandel in manchen Branchen, nicht nur im Flugverkehr und Flugzeugbau, wo wir wohl kaum auf das Vorkrisenniveau zurückkehren werden. Die Corona-Krise hat aber viel mehr als bisherige Einbrüche die Binnenwirtschaft getroffen: kleine Dienstleister und Handwerksbetriebe, Gastronomie, Frisöre, Nagelstudios, Fitness-Center, der Blumenladen an der Ecke – fast kein lokales Gewerbe blieb verschont. Es ist überhaupt nicht gesagt, dass die sich alle wieder erholen. Manche Selbstständige und Unternehmer werden demotiviert aufgeben oder früher aufhören zu arbeiten als eigentlich geplant. Wenn das nur jeder Zehnte von ihnen macht, erleben wir eine kräftige dauerhafte Senkung des Produktionspotenzials. Das Magazin The Economist[1] nannte das jüngst treffend die „90 Percent Economy“ – und präsentierte dazu eine Titelseite, von der 10 Prozent abgerissen erschienen, per Hand mit unschöner Reißkante. Als Ökonomen würden wir von Hysterese-Effekten sprechen, wie nach den Ölkrisen der siebziger und achtziger Jahre.

PWP: Einfacher gesagt, Strukturbrüche.

Paqué: Ja. Das ist nichts Unbekanntes. Das kann sich sehr stark auf den Arbeitsmarkt auswirken. Wir hatten jüngst über 10 Millionen angemeldete Kurzarbeiter. Anmeldungen und Realität mögen auseinanderklaffen; in der Realität waren es Mitte des Jahres 2020 rund 6,7 Millionen. Schon das ist eine erschreckende Zahl, viel höher als 2009 in der Schlussphase der Weltfinanzkrise. Das kann tiefgreifende langfristige Wirkungen haben, und die sind alle negativ.

PWP: Sie sind doch sonst eher Optimist?

Paqué: Stimmt! In den vergangenen Jahren war es ja auch so, dass wir uns mit Riesenschritten der Vollbeschäftigung näherten, zumal die demografische Entwicklung mit dem Ausscheiden der Babyboomer-Generation zwischen 2020 und 2035 die Knappheit an Arbeitskräften noch forciert. Aber jetzt haben wir einen Schock, der schlimmer kaum sein könnte, weil er viele Bereiche der Wirtschaft trifft, in denen weniger qualifizierte Arbeit ihren Platz hat. Das ist hochproblematisch.

PWP: Müssen wir befürchten, dass diese Krise auch die Ungleichheitstendenz noch weiter verschärft?

Paqué: Ja, leider. Die Spaltung der Gesellschaft wird durch diese Entwicklung geradezu befördert. Die Wirkung der Krise geht in die Breite der Bevölkerung. In der Weltfinanzkrise waren in erster Linie die Banken betroffen – und wurden gerettet, was viele Menschen geärgert hat. Aber jetzt geht es um den gesamten Klein- und Mittelstand. Ihm wird geholfen, und das finde ich absolut richtig.

PWP: Es ist eine Menge unternommen und aufgegleist worden, um die Krise abzupuffern – von den nationalen und europäischen Hilfspaketen bis hin zu dem voluminösen EU-Wiederaufbauprogramm für die kommenden Jahre, auf das sich der Europäische Rat Ende Juli nach langen und schwierigen Verhandlungen geeinigt hat. Wie bewerten Sie dieses europäische Programm?

Paqué: Im Prinzip positiv. Es gab in den achtziger Jahren einmal die Diskussion um den „Two-handed approach“[2]. Ich bin immer ein Anhänger dieser Vorstellung gewesen: Wenn man die Möglichkeit hat – und die ist zumindest in einem Land wie Deutschland bei unserem Schuldenstand, der AAA-Bonität des Staates und dem seit langem negativen Realzins für langfristige staatliche Schuldverschreibungen fiskalisch derzeit gegeben –, dann sollte man wirklich alles versuchen, um sowohl von der Nachfrageseite als auch von der Angebotsseite aus die Lage nachhaltig zu stabilisieren. Da will ich gar nicht über Summen reden.

PWP: Doch, bitte.

Paqué: Die Summen, die jetzt auf dem Tisch liegen, sind gewaltig. Wenn man alles aufaddiert, kommen allein auf europäischer Ebene in der mehrjährigen Planung 1,8 Billionen Euro zusammen. In Deutschland beläuft sich die zusätzliche Staatsverschuldung 2020 auf über 200 Milliarden Euro. Da würde ich eher schon sagen: Das ist des Guten zu viel. Es könnte passieren, dass das Geld gar nicht vollständig untergebracht werden kann. Die administrative Praxis wird davon überfordert sein, und es werden viele Mittel gar nicht abgerufen werden.

PWP: Schafft gerade diese Üppigkeit vielleicht Vertrauen – oder muss man das Gegenteil befürchten?

Paqué: Sie ist schon ein Signal, das im Notstand Vertrauen schafft. Nach dem Motto: Der Staat steht bereit, die Wirtschaft auf einen langfristigen Wachstumspfad zurückzuführen. Das gilt nicht nur für die kurzfristige Liquiditätshilfe, sondern auch und besonders für jene gesellschaftliche Infrastruktur, deren überragende Bedeutung wir erst durch die Krise kennengelernt haben. In Deutschland ist das die Digitalisierung, besonders im Bildungsbereich. Die Spaltung der Gesellschaft zeigt sich ja weniger in den Einkommen als in den Bildungschancen und damit langfristig am Arbeitsmarkt. Wenn wegen eines Corona-Lockdown über Wochen und Monate die Schule ausfällt, ist das in einer Akademikerfamilie in der Regel ein kleineres Problem für die Kinder als in einem bildungsfernen Haushalt. Das wird die Spaltung der Gesellschaft auf dem Arbeitsmarkt noch weiter akzentuieren. Ich sehe darin eine auch politisch sehr gefährliche Entwicklung. Da gibt es dann natürlich auch staatlichen Investitionsbedarf. Der Staat muss dafür sorgen, dass möglichst alle Schulen und Familien eine vernünftige Ausstattung haben, mit geeigneten Geräten und Materialien für den digitalen Fernunterricht.

PWP: Noch einmal zum Two-handed approach. Das passt natürlich zur Corona-Krise, die sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite zugeschlagen hat: Es konnte nicht mehr produziert werden, und weil sie zuhause blieben, haben die Leute auch wesentlich weniger gekauft. Aber gibt es nicht insofern einen wesentlichen Unterschied, als die Nachfrage möglicherweise in großen Teilen nur zurückgestaut wurde, das Angebot aber schlicht nicht zustande kam? Oder fürchten Sie, dass die mit dem Lockdown verbundenen Einkommenseinbußen die Nachfrage schmerzhaft komprimieren?

Paqué: So ist es: Wo Einkommen wegfällt, nimmt auch der Konsum ab; und wo Jobs gefährdet sind, verschwindet das Vertrauen in die Zukunft – und damit auch die Zuversicht, sich mit langlebigen Konsumgütern wie Autos und Möbeln auszustatten. Ein wichtiger Aspekt ist schließlich die Atmosphäre: Mit einer Maske im Gesicht macht es doch keinen Spaß, beim Herrenausstatter einen Anzug zu kaufen. Das verschiebt man. Natürlich holt man die Anschaffung irgendwann nach. Aber es ist schon richtig, wenn in der jetzigen Situation der Staat die Menschen glaubhaft wissen lässt, dass Aufschieben auch gesellschaftlich unerwünscht ist. Das war ja auch seinerzeit in der Finanzkrise die Idee der Abwrackprämie, die ich allerdings für viel schlechter halte als eine Mehrwertsteuersenkung. Denn die fördert den gesamten Konsum, aber sie lenkt und verzerrt ihn nicht.

PWP: Hätten Sie die Mehrwertsteuersenkung gern länger als nur ein halbes Jahr gehabt?

Paqué: Ja, ganz eindeutig. Es geht vor allem um den nachhaltigen Anreiz zum Konsum und nicht nur um das kurzfristige Vorziehen. Derzeit ist die Auslastung des vorhandenen Produktionspotentials miserabel. Und erst wenn sie sich deutlich verbessert, werden auch Vergünstigungen für Investitionen ihre Wirkung entfalten. Denn wer investiert schon, wenn der vorhandene Maschinenpark nicht voll genutzt wird? Ich habe übrigens auch keine großen Bedenken, dass die Mehrwertsteuersenkung nicht weitergegeben wird, wie manche Ökonomen befürchten. Im Handel herrscht gerade in der Konjunkturflaute starker Wettbewerb; und es gibt auch einen gewaltigen öffentlichen Druck auf die Unternehmen, den Steuernachlass nicht in die eigene Tasche zu stecken. Die Mehrwertsteuersenkung wird wohl auch nicht zu Inflation führen, wie manche Beobachter unken, eben weil wir Überkapazitäten haben. Einen Preisanstieg wird man vielleicht irgendwann später sehen, wenn tatsächlich der Hysterese-Effekt des geschrumpften Produktionspotenzials einsetzt.

PWP: Fürchten Sie nicht, dass das Programm der EU zu spät kommt und somit vor allem prozyklisch wirkt, dass es also in den einsetzenden Aufschwung hineinstößt und vielleicht zur Überhitzung führt?

Paqué: Nein, diese Sorge teile ich nicht. Dass das Wachstum in der Erholung gleich derart stark ausfällt, dass wir ganz rasch an die Kapazitätsgrenzen stoßen, halte ich eher für eine unrealistische Wunschvorstellung. Ich bin geneigt zu sagen: Schön wär’s! Selbst mit dem Risiko einer leicht höheren Inflation, die ja derzeit in Deutschland und der EU zwischen 0 und 1 Prozent liegt. Da sehe ich keine Gefahr.

PWP: Und wie sieht es mit der drastisch erhöhten Verschuldung aus?

Paqué: Wie gesagt: Wir können uns in Deutschland diese zusätzliche Verschuldung leisten – bei unserer vorzüglichen Bonität und den derzeit negativen Nominal- und Realzinsen sowie einer Schuldenquote, die in den letzten Jahren deutlich von rund 80 auf 60 Prozent des BIP gesunken ist. Wir können uns nur eines nicht leisten: kein Wachstum, denn dann treibt die zusätzliche Kreditaufnahme die Schuldenquote auf Dauer nach oben. Das wäre fatal. Wir haben nach der internationalen Finanzkrise in Deutschland ein gutes Beispiel erlebt, wie die Erholung laufen kann. Es war ein gutes U oder vielleicht sogar ein V. Wir hatten schnell wieder Vollbeschäftigung, keine Inflation, ordentliches Wachstum; die Steuereinnahmen sprudelten. Das Ziel jetzt muss sein, einen ähnlichen Zustand zu erreichen. Leider ist das wohl heute noch schwieriger als damals.

PWP: Für das Wiederaufbauprogramm verschuldet sich die EU erstmals gemeinsam. Man hat eine Konstruktion unter Einbindung der EU-Kommission gefunden, die den Verträgen nicht widerspricht und insofern auch keiner Veränderung der Verträge bedarf, wie es bei Eurobonds der Fall wäre.

Paqué: Der Unterschied zu Eurobonds liegt darin, dass es jetzt keine gesamtschuldnerische Haftung gibt. Das ist ein gewaltiger Unterschied, sowohl fiskalisch als auch rechtlich – und natürlich darüber hinaus auch psychologisch. Die gesamtschuldnerische Haftung ist der Rubikon, dessen Überschreitung die ganze EU schwer verändern würde. Dass wir politisch und volkswirtschaftlich, wenn es zu einem schweren Einbruch kommt, doch gemeinsam in einer Art Haftung stecken – wegen der engen ökonomischen Verflechtung und des moralischen Drucks untereinander – das versteht sich von selbst und ist nicht zu ändern. Das haben die Weltfinanzkrise 2009 und die Schuldenkrise 2011 gezeigt. Und die Corona-Krise tut es ebenso.

PWP: Es gibt aber Befürchtungen, man habe mit dieser ersten gemeinsamen Verschuldung trotzdem einen Präzedenzfall geschaffen. Ich persönlich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass man diese Konstruktion regelmäßig nutzen wird, eben weil sie dem Geist der Verträge widerspricht. Man müsste dafür dann schon die Verträge ändern, und das ist nicht leicht. Wie sehen Sie das?

Paqué: Ich sehe das genauso. Man segelt bei diesen Dingen natürlich immer zwischen Scylla und Charybdis, also zwischen Treue zu Prinzipien einerseits und Pragmatik des Katastrophenfalls andererseits. Dabei sind die Prinzipien unverändert, die Katastrophen aber immer unterschiedlich. Wir können aus der Corona-Pandemie 2020 und der Finanz- und Schuldenkrise ein Jahrzehnt zuvor viel lernen, aber die kommenden Katastrophen werden wieder anders aussehen – und eine neue Pragmatik verlangen. Ich sehe nicht, dass sich hier ein Muster verfestigt. Ich teile auch nicht die Sorge der Staatsskeptiker, dass jetzt ein unwiderstehlicher politischer Druck entsteht, das Außergewöhnliche zur Regel zu machen. Da gibt es durchaus Grenzen und Widerstand. Die Verhandlungen zum Wiederaufbauprogramm und zum EU-Haushalt in Brüssel haben das übrigens sehr schön gezeigt.

PWP: Inwiefern?

Paqué: Insofern, als sich die Gruppe der „Frugalen Vier“ bzw. Fünf gebildet hat, die dem finanziell vorpreschenden deutsch-französischen Tandem etwas entgegenhielt, nämlich ihren gesunden Menschenverstand. Dass man sich nicht vorab mit den dabei beteiligten kleinen Ländern abgestimmt hat, das war ein schwerer Fehler von Emmanuel Macron und Angela Merkel. Die Franzosen sind wie immer mit der pathetischen Geste der großen Führungsmacht aufgetreten, und die Deutschen wollten um jeden Preis Eurobonds vermeiden und hatten deswegen das Gefühl, sie müssten an anderer Stelle Opfer bringen. Deswegen ist man in den Volumina des Pakets derart inflationär weit gegangen und hat die Finanzierung über Zuschüsse (statt Kredite) massiv angehoben. Es war an der Zeit, dass sich da eine Gruppe von Ländern bildet, die gegensteuert. Übrigens sind das alles Länder mit bestens funktionierender Demokratie, einwandfreiem Rechtsstaat, vorbildlicher Zivilgesellschaft und offener Marktwirtschaft, von deren Erfolgen man sich in mancherlei Hinsicht eine Scheibe abschneiden kann.

PWP: Die Dominanz des deutsch-französischen Tandems ist unter demokratischen Gesichtspunkten vielleicht ohnehin nicht so günstig.

Paqué: Richtig. Und wir sind nicht mehr in den fünfziger Jahren, als die epochale Versöhnung der Völker im Vordergrund stand und nicht die gemeinsame Lösung eines riesigen Sachproblems. Die EU hat sich verändert. Es ist deshalb auch völlig unangemessen, dass in der öffentlichen Debatte dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte nationaler Egoismus und Krämergeist vorgeworfen wird.

PWP: Bahnt sich da eine Spaltung der EU an?

Paqué: Die Gefahr ist real. Und zwar in drei von vier Himmelsrichtungen: Denn der Zwist des Tandems Macron/Merkel mit den „Frugalen“ erlaubte es Viktor Orbán, in deren Windschatten allzu starken Druck auf sein Land und Polen wegen der Aushöhlung rechtstaatlicher Prinzipien zu vermeiden und dafür sogar noch Verbündete zu finden. Auf einmal war sogar die alte Visegrád-Gruppe wieder da. Und jetzt ist Europa ziemlich gespalten. Wir haben die Frugalen; wir haben Visegrád; wir haben den Süden, der sein Haus nicht in Ordnung bringt; und wir haben dazwischen Frankreich und Deutschland, das die Frugalen, die doch eigentlich so ähnlich argumentiert haben wie die Deutschen bisher, im Stich gelassen hat – ein Vertrauensbruch, den man dort so leicht nicht vergessen wird. Insgesamt ein nicht ungefährlicher Zustand. Allerdings ist er auch heilbar, wenn man nur die richtigen Lehren zieht und in Zukunft eine bessere Diplomatie und Kommunikation einsetzt.

PWP: Dass sich nach dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs die Machtverhältnisse innerhalb der EU neu sortieren, war aber durchaus erwartbar.

Paqué: Natürlich. Es ist aber eine krasse Fehldeutung, wenn es jetzt heißt, Mark Rutte werde ein neuer David Cameron. Die Niederländer sind engagierte Europäer und mit den Briten überhaupt nicht zu vergleichen, was die EU-Skepsis betrifft. Sie haben immer eine konstruktive Rolle gespielt.

PWP: Man sieht, die europäische Einigung ist nach wie vor eine schwierige Sache. Aber sie lohnt sich.

Paqué: Mehr als das, sie ist eine riesige Erfolgsgeschichte. Die EU ist für den europäischen Kontinent als Rahmen völlig unentbehrlich, übrigens selbst für die Länder, die nicht unmittelbar mitmachen, zum Beispiel die Schweiz und Norwegen sowie nun auch das Vereinigte Königreich. Deshalb ist es auch politisch sehr wichtig, die Briten nach dem Brexit möglichst stark mit der EU zu verbinden, auch wenn dies noch diplomatische Kunststücke erfordert. Auf dem internationalen Parkett ist die EU in der Zukunft wichtiger denn je. Vor allem kommt ihr eine zentrale Rolle bei der Rettung des Multilateralismus zu. Die Vereinigten Staaten waren nach dem Zweiten Weltkrieg die treibende Kraft zur Schaffung internationaler Vertragswerke in freiheitlichem Geist. Sie sind es nicht mehr, selbst wenn der nächste amerikanische Präsident Joe Biden und nicht Donald Trump heißt. Vor allem mit Blick auf den Freihandel muss Europa aktiver werden und sich ein Stück weit von Amerika emanzipieren.

PWP: Was heißt das konkret?

Paqué: Es heißt zweierlei. Zum einen brauchen wir Amerika als Partner, und zwar nicht nur in der Sicherheits-, sondern auch in der Handelspolitik, vor allem auch, um den Staatskapitalismus Chinas in die Schranken zu weisen. Deswegen bin ich unverändert ein großer Befürworter des transatlantischen Freihandelsabkommens TTIP, auch wenn es derzeit wegen Trumps Widerstand nicht zur Debatte steht. Aber wenn sich die Vereinigten Staaten weiterhin gegen die Welthandelsorganisation und den Abschluss von Freihandelsabkommen stellen, dann muss Europa bereit sein, auch ohne sie voranzuschreiten. Das hat die EU auch schon getan: durch den Abschluss von Abkommen mit Kanada, Mexiko, Südkorea und Japan, Weiteres wird folgen. Wenn Amerika nicht mitmachen will, muss man den Multilateralismus eben ohne die Vereinigten Staaten retten – und am Ende werden die Amerikaner vielleicht doch noch die Vorteile erkennen und mitmachen.

PWP: Die Corona-Krise hat der Globalisierung einen Schlag versetzt. Wir haben gesehen, wie verletzlich uns die gegenseitige Abhängigkeit macht. Wie wird es weitergehen?

Paqué: Die Globalisierung ist ein Segen, aber sie ist krisenanfällig, wie die Corona-Pandemie gezeigt hat. So erlebten wir zum Beispiel, dass Deutschland – weltführend in High-Tech-Medizintechnik – zunächst über Wochen außerstande war, den Bedarf an Mund-Nasen-Schutz-Masken aus eigener Herstellung zu decken – wohlgemerkt: ein klassisches Low-Tech-Produkt. Was wir also für die Zukunft brauchen, ist eine „safe globalization“. Medizinische Versorgungskrisen müssen wir ein Stück weit mit einkalkulieren. Der Staat sollte deshalb auf Unternehmen zugehen, die ohne allzu großen Aufwand über die Möglichkeit verfügen, ihre Produktion kurzfristig umzurüsten. Dafür braucht man eine vorausschauende staatliche Planung, die auch sicherstellt, dass im Krisenfall nicht massenhaft Wertschöpfungsketten zerstört werden. Das alles ist umso wichtiger, als wir es im Außenhandel mit vielen Ländern zu tun haben, in denen der Staat massiv in der Wirtschaft mitmischt und eigene machtpolitische Interessen vertritt. Bedeutendster Fall: das staatskapitalistische China.

PWP: Aber wie kann man da mithalten, ohne selber staatskapitalistisch oder zumindest protektionistisch zu werden?

Paqué: Wenn man zum Beispiel an das Thema der 5G-Technologie von Huawei denkt, muss man sich schon darüber klar sein, dass es sich um eine höchst sicherheitsrelevante Infrastruktur handelt. Es wäre deshalb sehr wichtig, dass die Welthandelsorganisation (WTO) weiterentwickelt wird – mit Blick auf die Sicherheitsinteressen und den Schutz von Eigentumsrechten der am Handel beteiligten Länder. Selbst die Vereinigten Staaten müssten daran ein Interesse haben. Es wird höchste Zeit dafür. Denn wenn sich in wenigen Jahren die ökonomischen und geopolitischen Gewichte noch weiter zu Gunsten von China verschoben haben, wird es gefährlich. Mit seiner neo-imperialistischen Politik der Seidenstraße, der „Road and Belt Initiative“, schafft China durch weltumspannende Direktinvestitionen ein System von Einflussmöglichkeiten, die über ganz Afrika, aber auch über Griechenland und Italien nach Europa reichen. Man darf die Augen vor diesen politischen Risiken nicht verschließen, mit denen wir es auf den Weltmärkten zu tun haben. Da haben wir uns als Volkswirte und Freunde des Freihandels vielleicht allzu lange etwas vorgemacht. Auch ich war früher der Überzeugung: Die Welt wächst zusammen, und es gibt irgendwann fast nur noch freundliche Partner, die miteinander friedlich Handel treiben. Dass sich im Außenhandel immer auch massive staatliche Machtinteressen zeigen, haben wir unterschätzt.

PWP: Ist es nicht schon zu spät, da gegenzusteuern?

Paqué: Nein, es ist noch nicht zu spät. Und ich glaube auch, dass die Chinesen, eben weil sie inzwischen so stark in die Weltwirtschaft integriert sind, letztlich konstruktiv reagieren werden. Sie werden nicht mit den Achseln zucken, wenn man ihren Staatskapitalismus beim Namen nennt. Sie haben auch nicht gleichgültig, sondern empfindlich und empört reagiert, als ihnen von der WTO das Prädikat „Marktwirtschaft“ vorenthalten wurde. Kurzum: Wir brauchen eine kraftvolle Verteidigung der liberalen privatwirtschaftlichen Welthandelsordnung. Sie darf nicht von staatlichen Machtinteressen usurpiert werden. China ist riesengroß und viel mächtiger, als uns lieb ist. Aber es gibt genug Länder in der Welt, insbesondere in Asien, die alles tun würden, um die chinesische Dominanz einzudämmen. Da findet man Verbündete. Und je weniger China die Menschenrechte im eigenen Land (einschließlich Hong Kong) respektiert, desto entschlossener wird der Widerstand gegen die Übermacht in den marktwirtschaftlichen Nachbarländern.

PWP: Warum ist es so wichtig, dass die Globalisierung weitergeht?

Paqué: Die Globalisierung, die Spezialisierung, die internationale Arbeitsteilung, die komplexen Wertschöpfungsketten sind so wichtig, weil sie die Prosperität der Menschheit fördern, in einem weiten Sinne.

PWP: Also nicht bloß die Maximierung des Bruttoinlandsprodukts.

Paqué: Nein, um Himmels Willen. Das Ziel, die Prosperität zu steigern, innerhalb vernünftiger ökologischer Leitplanken, umschließt auch noch die Ärmsten, wenn es richtig gemacht wird. Dieses Ziel darf man nicht aufgeben. Schauen wir zurück in die Geschichte. Anders als die politische Geschichte, die oft abrupte Brüche aufweist, verläuft die Wirtschaftsgeschichte zumeist in längeren Schüben und Wellen. Das gilt auch für die Geschichte des Handels. Im 19. Jahrhundert gab es eine Generation lang eine Bewegung in Richtung Freihandel. Dann gab es ab den siebziger Jahren eine protektionistische Gegenbewegung, die sich bis zum Ersten Weltkrieg hinzog, aber die weitere Globalisierung dann doch nicht verhindern konnte. Die technologischen Wachstumskräfte waren so stark, dass Industrialisierung und Globalisierung trotz Protektionismus weitergingen. Ich denke, wir sind heute in einer ähnlichen Situation.

PWP: Inwiefern?

Paqué: Wir haben eine Welle hinter uns, in der alles sehr flott lief und alle optimistisch waren. Sie begann nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 sowie der Öffnung des Eisernen Vorhangs; und sie währte fast zwei Jahrzehnte. Dann kam die Weltfinanzkrise. Sie ist wie ein Markstein, der anzeigt, ab wann das einsetzte, was das Magazin The Economist so treffend als „Slowbalization“ bezeichnet hat.[3] Seither geht alles langsamer, und die protektionistischen Verwerfungen sind größer. Das ist ein guter Grund zur Klage. Aber man darf nicht vergessen, dass wir auf einem ganz anderen Niveau der wirtschaftlichen Integration stehen als einst, und zwar weltweit und vor allem in Europa. Ähnliches gilt übrigens für unsere völlig berechtigten Klagen über die erodierende Rechtstaatlichkeit Ungarns und Polens oder die Verletzung von Freiheits- und Menschenrechten in Russland. Wir klagen von einem Niveau aus, das wir uns vor fünfzig Jahren nicht hätten erträumen können. Da gab es in Russland gerade mal zwei (weltberühmte) Dissidenten; die hießen Solschenizyn und Sacharow. Heute ist der Sowjetblock zerfallen, und es gibt Millionen von Russen, die öffentlich Wladimir Putin kritisieren. Es ist eine andere Welt geworden – in der Summe mit viel mehr Freiheit als früher. Insofern darf man es mit Skepsis und Pessimismus wirklich nicht übertreiben.

PWP: Und wie geht es weiter?

Paqué: Wir bleiben in der Phase der Slowbalization, und es wird keine rasante Beschleunigung geben. Wir werden uns hoffentlich von Corona einigermaßen erholen und die meisten globalen Wertschöpfungsketten wieder zusammenfügen können. Dann entsteht wieder eine gewisse Normalität des moderaten Wachstums. Das ist dann die Zeit, ein neues Regelwerk in Angriff zu nehmen. Die WTO muss weiterhin den Rahmen abstecken, aber wir brauchen daneben auch mehr plurilaterale Strukturen, also „offene Clubs“ von Nationen, die Freihandelsverträge abschließen und Standards setzen. Nur so kann es für ein Land wie China dann auch irgendwann einmal attraktiv werden, sich selbst an die sonstwo üblichen Regeln zu halten. Im Übrigen muss man auch ganz pragmatisch bereit sein, bestimmte hochsensible Bereiche aus dem Spektrum des Handels mit China herauslösen. Dies gilt vor allem für die Infrastruktur der Datennetze: Solange in diesem Bereich das (womöglich berechtigte) Misstrauen im Westen so massiv ist wie bisher, wird es schwer sein, auf freien Handel zu setzen. Dann ist es vielleicht besser, solche politischen Minenfelder ganz außen vor zu lassen, weil sie sonst den Handel in anderen – und quantitativ bedeutsameren – Feldern politisch kontaminieren.[4]

PWP: Befürchten Sie nicht, dass es zu immer neuen Handelskriegen kommt?

Paqué: Das kann durchaus passieren. Die Möglichkeit von Handelskriegen darf man nicht dogmatisch ausschließen. Wo sich Länder nicht an Regeln halten, muss es auch Strafen geben – also Strafzölle. Die libertäre Vorstellung, dass man unilateral die Zölle abschaffen sollte, unabhängig vom Verhalten der anderen, einfach weil Freihandel immer gut ist – das greift politisch einfach zu kurz. Es hilft nichts: Wenn ein Land keine liberale, sondern eine neo-merkantilistische oder gar neo-imperiale Strategie verfolgt und im Übrigen so furchtbar die Menschenrechte mit Füßen tritt, wie China das tut, dann braucht man zur Not solche rustikalen Mittel.

PWP: Die Bundesregierung plant ein Lieferkettengesetz. Es soll dafür sorgen, dass sich Unternehmen darum kümmern, ob ihre Zulieferer im Ausland die Menschenrechte einhalten und pfleglich mit der Umwelt umgehen. Es wird nicht leicht sein, diesen Anspruch zu erfüllen. Wie wird sich das, wenn es sich auch in anderen Ländern durchsetzt, auf die Globalisierung auswirken?

Paqué: Die Motivation für ein Lieferkettengesetz ist nachvollziehbar und nobel: Man möchte in Deutschland jenen Verbrauch von Gütern vermeiden, die unter inakzeptablen Bedingungen produziert werden – unter Missachtung der Menschenrechte oder mit Raubbau an der Natur. Krasse Beispiele dafür sind Kinderarbeit oder die Abholzung tropischer Regenwälder. Die Frage ist allerdings, wie man das humanitäre oder ökologische Ziel am besten erreicht. Der traditionelle Weg ist der Abschluss internationaler Abkommen, die bestimmte Methoden der Produktion ausschließen und ächten. Überwachung und Sanktionierung der Regeln sind dann staatliche Aufgaben, die auch in Handelsverträgen vereinbart werden können. Das Besondere eines Lieferkettengesetzes ist es nun, dass es die Kontrolllaufgabe und die Haftung dafür auf die privaten Unternehmen verlagert, die den Handel betreiben und die Vor- und Zwischenprodukte einkaufen. Dies sind natürlich zusätzliche Kosten ...

PWP: ... aber sind die nicht gerechtfertigt, auch als Anreiz?

Paqué: Ja, natürlich. Allerdings muss man hier die praktischen Probleme sehr ernst nehmen: Wie soll ein deutsches Unternehmen im Einzelfall sicherstellen, dass ein Zulieferer tatsächlich vor Ort die vereinbarten Arbeitsbedingungen zu jedem Zeitpunkt exakt einhält – und zwar auch dann, wenn sie in dem betreffenden Land keineswegs einer gesetzlichen Auflage entsprechen? Jedenfalls kann es praktisch sehr schwierig werden, unangemeldete Kontrollen in einem weit entfernten Land durchzuführen und auf diesem Weg den humanitären Qualitätsstandard zu garantieren. Dies gilt umso mehr, wenn in dem betreffenden Land Korruption weit verbreitet ist, so dass auf beauftragte nationale Kontrollinstanzen kaum Verlass ist. Die Folge wird vielerorts sein, dass deutsche Unternehmen von vornherein vom Handel und der Globalisierung der Wertschöpfungskette Abstand nehmen, um die hohen Haftungsrisiken zu vermeiden. Dies gilt vor allem für kleinere und mittlere Unternehmen, die sich keine ständige Vertretung vor Ort leisten können.

PWP: Sehen Sie in einem Lieferkettengesetz deshalb eine Gefahr für die deutsche Exportwirtschaft?

Paqué: Der Gesetzgeber braucht Augenmaß. In den letzten 70 Jahre deutscher Wirtschaftsgeschichte hat es eine beispiellos erfolgreiche und nachhaltige Integration der deutschen Industrie in die Weltwirtschaft gegeben.[5] Diese darf

nicht gefährdet werden – auch nicht durch gut gemeinte, aber bürokratische Vorschriften, die gerade kleine und mittlere Unternehmen vom Weltmarkt abhalten könnten. Es kommt also ganz darauf an, wie ein Gesetzentwurf schließlich aussieht. Er muss im Gespräch mit Wirtschafts

vertretern und -verbänden auf seine Praxistauglichkeit geprüft werden – übrigens auch mit Blick auf protektionistische Tendenzen „durch die Hintertür“: Niemandem wäre geholfen, wenn mächtige inländische Unternehmen durch politischen Druck dem konkurrierenden Mittelstand die Auslandspräsenz erschwerten. Dies würde auch zu Lasten der betroffenen Entwicklungs- und Schwellenländer gehen, denen damit der Weg in die globalen Wertschöpfungsketten erschwert würde. Ein Stück Prosperität ginge verloren – für alle.

PWP: Blicken wir noch einmal auf Deutschland. Müssen wir befürchten, dass die Corona-Krise die regionalen Disparitäten noch weiter verschärft, und dass insbesondere Ostdeutschland das zu spüren bekommen wird?

Paqué: Soweit der Osten eine stärker gespaltene Gesellschaft hat als der Westen, treffen ihn die indirekten Effekte der Corona-Krise tatsächlich härter. Ich glaube aber nicht, dass dies eine sehr große Bedeutung hat. Für den Osten ist und bleibt der zentrale Engpass die Innovationskraft. Die sehe ich auch in Deutschland insgesamt als das zentrale Problem. Die Frage ist: Wie erhält ein Land, das altert, seine technologische Vitalität? Das ist alles andere als ein triviales Problem. Die Generation der Babyboomer geht in den nächsten 15 Jahren aus dem Arbeitsmarkt. Die Ingenieure dieser Generation sind das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Immer weniger junge Leute studieren Ingenieurwissenschaften; handwerkliche Tätigkeiten, die mit Technik verbunden sind, gelten auch nicht mehr als attraktiv und interessant. Der generelle Trend der Gesellschaft geht weg von der Technik – abgesehen von der Anwendung der Informationstechnologie. Das kann weitreichende Konsequenzen haben: Die Innovationskraft wird immer knapper und immer schwieriger zu ergänzen, am besten noch durch ein politisch liberales und ökonomisch rationales Einwanderungsgesetz, das Talente auch aus dem außereuropäischen Ausland anzieht. Weil es an wichtigen Fähigkeiten überall fehlt und die Ballungszentren eine starke Anziehungskraft haben, verschärft sich der Standortwettbewerb. Das trifft wirtschaftlich zurückgebliebene Regionen am härtesten. Das ist das Problem Ostdeutschlands.

PWP: Könnte es nicht sein, dass die Corona-Krise zumindest die Anziehungskraft der Ballungszentren schmälert? Einfach weil die Leute den „Dichtestress“ in urbanen Zentren nicht mehr mögen und in vielen Berufen auch festgestellt haben, dass man ganz gut „remote“ arbeiten kann?

Paqué: Das kann schon sein. Es wird sehr darauf ankommen, wir lange die Pandemie uns begleitet. Wenn sie, was wir alle hoffen, bald vorbei ist, dann geht alles einigermaßen normal weiter. Wenn sie länger dauert, dann wird sich möglicherweise auch an unseren Siedlungsstrukturen so manches verändern. Das Problem, wie wir die ländlichen Räume vor der Verödung retten, wird uns aber wohl doch weiter begleiten. Da hat der Staat ganz klar eine infrastrukturelle Aufgabe. Die passive Sanierung, also der massenhafte Wegzug der Leistungsträger, ist nie erstrebenswert. Attraktive ländliche Räume haben eine große Bedeutung für den Zusammenhalt in einer Gesellschaft. Das heißt nicht, dass der Staat auch noch den allerhintersten Winkel im Land fördern soll. Aber er muss sich um die mittelgroße Stadt kümmern, gewissermaßen „die kleine Ballung“, die auf ihre ländliche Umgebung ausstrahlt und ihr wirtschaftliche Stabilität gibt. Das ist übrigens auch ungeheuer wichtig im Kampf gegen den Populismus. Wir müssen zeigen, dass die vernünftige Seite der Politik Phantasie, Kompetenz und Lösungen auch für entlegene Räume hat, und dass sie dabei den Stolz der Menschen vor Ort wahrnimmt. Das ist eine äußerst komplexe Aufgabe, die weit über die reine Ökonomie hinausgeht.

PWP: Der ökonomischen Kompetenz und Beratung bedarf es dabei aber schon. Geschieht da genug?

Paqué: Ich würde mir wünschen, dass sich mehr Ökonomen aus der akademischen Deckung wagen und sich aktiv im politischen Prozess einbringen. Dahinter steckt ein verbreitetes Problem unserer Disziplin, das ich als „Modell- und Regelgläubigkeit“ bezeichnen würde. Diese Schwäche ist, wie so vieles im Leben, Reflex einer Stärke. Die ungeheure Stärke der Volkswirtschaftslehre besteht darin, die Realität in Modelle pressen zu können. Das gibt uns eine Qualität und eine Stringenz, auch in der empirischen Forschung, um die uns andere Sozialwissenschaften nur beneiden können. Es erlaubt uns auch, für die Politik feste Regeln aufzustellen, die wir zur strikten Einhaltung empfehlen. Allerdings geht damit auch eine gewisse Arroganz einher, die in der Politik schädlich ist. Andere Wissenschaften befassen sich vielleicht mit Phänomenen, die sich aus der Natur der Sache heraus nicht so leicht in Modelle und Regeln pressen lassen, aber trotzdem politisch von großer Bedeutung sind. Wir Ökonomen neigen zu dem Vorurteil: Was nicht formal modellierbar ist, das ist dann eben auch nicht relevant.

PWP: Und was ist aus Ihrer Sicht relevant?

Paqué: Nun ja: Relevant ist, was die Gesellschaft bewegt und was sie deshalb intensiv diskutiert. Wir Volkswirte müssen uns bewusst sein, dass unsere Stringenz einen Preis hat. Wir müssen Dinge ausblenden. Mal mag das Ausblenden völlig harmlos sein, mal mag dort aber der Kern der Sache liegen. Ähnlich ist es bei Regeln. Sie zu haben, ist wichtig und richtig, bis hin zur Verfassung. Aber das perfekte Regelwerk, mit dem man für jeden Fall Vorsorge getroffen hat, gibt es nicht. Mich überzeugt deshalb niemand, der sagt, eine Regel dürfe nie gebrochen werden. Es braucht immer eine Generalklausel, die Ausnahmen zulässt, wobei die Beweislast bei denen liegt, die überzeugt sind, dass eine Abweichung von der Regel gerechtfertigt ist. Diese Skepsis nehme ich aus der Wirtschaftsgeschichte. Wir haben mehrfach schmerzvoll erlebt, dass Regelwerke völlig zusammenbrachen, oder, anders formuliert, dass Notstände entstanden sind, in denen Regelwerke zu Recht missachtet oder gar aufgegeben wurden, einfach deshalb, weil das Modell, das diesem Regelwerk zugrunde lag, nicht mehr funktionierte.

PWP: Könnten Sie konkrete Beispiele geben?

Paqué: Ein zentrales Beispiel dafür ist die deutsche Wiedervereinigung – und ihre wirtschafts- und finanzpolitischen Konsequenzen. Die massive Mobilität der Menschen nach dem Mauerfall sorgte dafür, dass alle modellhaften Vorstellungen einer graduellen, evolutorischen Öffnung des Ostens obsolet wurden. Das Ergebnis war, dass die Politik den Rat vieler Ökonomen beiseiteschob und den Aufbau Ost mit sofortiger Währungsunion, schneller Privatisierung und teurem Aufbau Ost „auf eigene Faust“ vorantrieb. Ich selbst bin der Überzeugung: Das war richtig, denn alles andere wäre völlig unrealistisch gewesen.[6]

PWP: Da haben Sie aber ein Extrembeispiel aus der Geschichte herausgepickt. Die deutsche Wiedervereinigung gab es ein einziges Mal und wird so nie wieder geschehen.

Paqué: Stimmt, aber es gibt andere Beispiele, und zwar von Phänomenen, die sich langsam anbahnen und bei denen genügend Zeit ist, sein Weltbild zu erneuern, bevor es allzu dogmatisch wird. So etwa bei der langfristigen Entwicklung der Realzinsen. Empirisch lässt sich zeigen, dass in Deutschland die Realzinsen schon seit Mitte der achtziger Jahre im Trend gesunken sind.[7] Carl Christian von Weizsäcker weist seit über zehn Jahren darauf hin, dass sich ein solcher – übrigens globaler – Trend nicht als Ergebnis laxer Geldpolitik einzelner (oder aller!) Zentralbanken interpretieren lässt, jedenfalls nicht nach allen plausiblen Theorien, die wir kennen. Er hat deshalb eine realwirtschaftliche Theorie der Kapitalschwemme in der Tradition von Eugen Böhm-Bawerk entwickelt, die das „neue“ Phänomen als Folge demografischer und technologischer Trends erklärt. Ich finde seine Theorie überzeugend, aber darüber mag man im Einzelnen streiten. Es mutet allerdings merkwürdig an, wenn auch 35 Jahre nach dem Einsetzen des neuen Trends immer noch nach monetären statt realen Ursachen gesucht wird – oder gar die Stabilität des Trends in Zweifel gezogen wird. Immerhin haben wir inzwischen sogar einige Jahre negativer Realzinsen hinter uns. „Wir leben in einem gänzlich neuen Zeitalter“, so hat dies Carl Christian von Weizsäcker 2014 in einem Gespräch mit dieser Zeitschrift formuliert.[8] Da frage ich mich schon: Schließen manche Volkswirte, um ihr Modell nicht zu gefährden, die Augen vor der Wirklichkeit? Ähnliches gilt übrigens für das langfristige globale Verschwinden der Preisinflation in den letzten drei Dekaden.

PWP: Sehen Sie darin eine Art ideologischen Dogmatismus in unserem Fach?

Paqué: Vielleicht eine Neigung dazu – aus Liebe zum Modell. Daneben ist es aber auch so etwas wie eine fehlende Neugier auf neue Rätsel der Realität. Dafür gibt es eine Fülle von Beispielen, und zwar stets überraschende, plötzliche Ereignisse, die gewissermaßen die Ökonomenzunft „kalt erwischen“: die Weltwirtschaftskrise 1930/32, die beiden Ölkrisen und schweren Rezessionen 1973/75 und 1980/82 und eben derzeit die Corona-Pandemie. Dabei sage ich nicht, dass Volkswirte nicht dazulernen. Das konnte man am Verlauf der Weltfinanzkrise ab 2007/08 beobachten: Als ein „Run on Banks“ drohte, stellte sich die Mehrheit der Ökonomen hinter die Notmaßnahmen der Regierungen und Zentralbanken, obwohl sie allen Regeln der Vermeidung von „Moral hazard“ widersprachen. Aber die Schleusen der Liquidität mussten geöffnet werden, um eine Katastrophe wie in der Weltwirtschaftskrise 1930/32 zu verhindern. Allerdings gab es vor allem im deutschsprachigen Raum auch viele Volkswirte, die dies noch immer für falsch hielten – genauso wie die Rettung von Griechenland, Portugal, Spanien und Irland im Zuge der Schuldenkrise ab 2011. Ihr Bild war unverändert dominiert von der Vorstellung, man müsse Regeln um jeden Preis einhalten und die Anreize richtig setzen.

PWP: Aber wo liegt nach Ihrer Meinung die Grenzlinie zwischen prinzipienlosem und sachgerechtem Pragmatismus? Oder auch zwischen hilfreicher Orientierung und allzu starrer Dogmatik?

Paqué: Das lässt sich nur im Einzelfall entscheiden. Es ist das Ergebnis abwägender Vernunft, also einer Art impliziter Kosten-Nutzen-Analyse. Beispiel: der Run on Banks. Wenn er tatsächlich kommt oder droht zu kommen, dann muss man diesem Run liquiditätsmäßig nachgeben und dies möglichst vorher glaubwürdig ankündigen, um den Run zu verhindern, sonst wird der Schaden riesengroß sein. Anschließend kann man dann überlegen, wie man die Institutionen so reformiert, dass die Wahrscheinlichkeit eines Runs mit anschließender Inanspruchnahme des Staates minimiert wird. Aber das kann man nicht in der Notstandssituation selbst tun, so wenig wie man im Brandfall, während das Haus schon in Flammen steht, noch eine Untersuchung vornehmen kann, wer da gezündelt hat. Das ist erst einmal uninteressant; es muss gelöscht werden. Und an dieser Stelle kommt neben Modelle und Regeln noch ein Drittes ins Spiel, die Anreize.

PWP: Sie meinen die Anreize, sich so zu verhalten, dass möglichst viel Nutzen und wenig Schaden entsteht, also auch das Vermeiden von Moral hazard ...

Paqué: Genau, und da werfe ich manchen Vertretern unserer Zunft ein allzu mechanistisches Weltbild vor. Es ist nämlich nicht richtig zu denken, dass monetäre Anreize immer und überall wirken. Oft sind die Anreizstrukturen, die das Handeln bestimmen, so vielfältig und komplex, dass der simple monetäre Anreiz nicht ausreicht oder sogar in die falsche Richtung wirkt. Auch ist häufig die Nachprüfbarkeit nicht gegeben. Die Leistung von Lehrern zum Beispiel erkennt man erst nach Jahrzehnten – an dem Lebens- und Berufsweg ihrer Schüler. Wenn man nun für Lehrer einen kleinen Zusatzbetrag auslobt, damit sie mehr und Besseres leisten, dann bringt das nicht nur nichts, sondern sie empfinden das in aller Regel als demotivierende Zumutung und Missachtung ihres Berufsethos. Je komplexer das Ergebnis einer Dienstleistung ist, desto problematischer wird der Einsatz finanzieller Anreize.

PWP: Oftmals haben finanzielle Anreize ja auch „Unintended consequences“; oder sie werden in unerwünschter Weise dominant. Ich erinnere nur an das Desaster der „Stock options“ und der Boni.

Paqué: Und manchen Ökonomen fehlt die notwendige Offenheit, um solche Phänomene wirklich ernst zu nehmen. An dieser Stelle kommen eben die anderen wissenschaftlichen Disziplinen ins Spiel. Ein typisches Beispiel ist auch die materielle Ungleichheit in unserer Gesellschaft, die als Spaltung wahrgenommen wird. Sie hat politisch eine immense Bedeutung. Da hilft es nichts, darauf hinzuweisen, dass es sich um ein Marktergebnis handelt. Wir müssen uns als Ökonomen schon fragen, wie wir das Bildungssystem so umgestalten können, dass die Menschen am Markt weniger ungleiche (und hoffentlich alle die bestmöglichen) Ergebnisse erzielen. Wir müssen also die Themen anderer Wissenschaften und die politischen Sorgen der Gesellschaft ernst nehmen.

PWP: Wie kann man das ändern?

Paqué: Am besten indem sich mehr Volkswirte in die Politik einmischen!

PWP: Aber Moment. Wissenschaft ist doch wie alles andere auch ein arbeitsteiliger Prozess. Warum sollte es da nicht unterschiedliche Spezialisierungen geben – mit Leuten, die sich der reinen Forschung verpflichtet sehen und ihre akademischen Kämpfe austragen, und anderen, die sich bemühen, aus der Forschung praktische Hilfestellungen für die Politik abzuleiten und sie einzuspeisen?

Paqué: Ich gebe Ihnen sofort recht. Nicht jeder ist für den politischen Raum geeignet. Die Gesetze der Arbeitsteilung gelten selbstverständlich auch für die Ökonomen selbst. Aber es stört mich schon, dass der Einfluss der Ökonomen zwar im Stimmengewirr der veröffentlichten Meinung zugenommen hat, nicht aber in der Politik. Das liegt zum Teil daran, dass jene Stimmen, die differenziert und nicht schon aus Prinzip alles skandalisierend an die Dinge herangehen, in den Medien oftmals überhaupt nicht zu Wort kommen. Trotzdem würde ich mir wenigstens wünschen, dass man in der Ausbildung der Ökonomen deren politische Ader bewusst sensibilisiert, statt sie zu reinen Technokraten zu machen. Es geht darum, einen breiteren Blick zu trainieren. Insbesondere eine stärkere Verknüpfung der Ökonomie mit Philosophie, Politikwissenschaft, Geschichte und Soziologie erscheint mir sehr wichtig.

PWP: Also der Weg zurück zur guten alten deutschen Staatswissenschaft, die es ja mal gab?

Paqué: Na ja, die Uhr zurückdrehen will ich natürlich nicht, obwohl so manche Diskussion, wie sie Max Weber vor über 100 Jahren im Kaiserreich über das Wesen des Kapitalismus führte, unserer modernen Volkswirtschaftslehre gar nicht schlecht täte. Aber ich denke eher an moderne Formen wie die „Government Schools“ in den Vereinigten Staaten. Möglicherweise wären die der bessere, fruchtbarere Humus für Wissenschaftler, die nachher in der Politik oder in gesellschaftlich relevanter Politikberatung landen.

PWP: Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Theorie im Vergleich zur Empirie in der Ökonomie ein wenig an Gewicht verliert – mit dem Nebeneffekt, dass es thematisch in vielen Fällen gar nicht mehr um genuin ökonomische Fragen geht, sondern um die Evaluation von politischen Maßnahmen auf allen möglichen Feldern. Die kraftvollen Methoden der modernen Ökonometrie spielen dann nur noch als „Metrie“ eine Rolle, das „Ökono“ ist weg. Das ist vielleicht nicht schlimm, aber es fällt auf.

Paqué: Ich teile diese Beobachtung. In der Empirie sind die Ökonomen zwar exzellent, aber dieser Fokus führt dazu, dass sich die Forschung hauptsächlich mit statistischen und ökonometrischen Schätz- und Testverfahren beschäftigt und weniger mit den Inhalten. Das ist der Preis, den wir für eine saubere Methodik zahlen. Es gibt auch aus meiner Sicht noch einen weiteren Strang der Kritik. Was mich stört, ist vor allem, dass wir uns in der Theorie in die Nähe geschlossener Glasperlenspiele und selbstgestellter Puzzles begeben. Es ist oft nicht mehr die Realität, die uns die Fragen stellt. Es gibt einen schönen Satz von Kurt Schumacher: „Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit“. Als Volkswirt bin ich geneigt hinzuzufügen: „Wissenschaft auch“.

PWP: Sehen Sie in dieser Hinsicht Reformbedarf?

Paqué: Nicht politisch. Denn es gilt die Freiheit der Wissenschaft. Und die liegt in den guten Händen jener Kolleginnnen und Kollegen, die in der Zukunft in unseren Fakultäten wirken werden. Da mache ich mir keine Sorgen.

Mit Karl-Heinz Paqué sprach Karen Horn. Karl-Heinz Paqué wurde von Matthias Lüdecke fotografiert, Karen Horn von Beatríz Barragán.

Zur Person

Weltwirtschaftliche Integration und Freiheit

Karl-Heinz Paqué

Karl-Heinz Paqué, geboren 1956 in Saarbrücken, stammt aus einer Brauereifamilie. Die Vorfahren, im 18. Jahrhundert aus Lothringen zugewandert, gründeten 1836 die Brauerei Paqué in St. Wendel. Bis 1967 blieb sie in Familienbesitz; dann wurde die Firma an die Brauerei Becker verkauft, die sie später an die Karlsberg Brauerei weiterreichte. „Es war eine sehr schöne Kindheit“, erinnert sich Paqué und erzählt von dem Pferdefuhrwerk, auf dem er, stolz neben einem trinkfesten Kutscher hoch oben auf dem Bock platziert, bei der Auslieferung von Fassbier mit von der Partie sein durfte. Die unternehmerische Selbständigkeit bedeutete allerdings auch harte Einschränkungen für das Familienleben: Der Vater, der gern Jura oder Altphilologie studiert hätte, nach seiner Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft jedoch die Nachfolge seines Onkels in dem Betrieb hatte übernehmen müssen, arbeitete 16 Stunden am Tag, und die Sommerferien im Allgäu fanden ohne ihn statt. Seinem Sohn wünschte er ein anderes Los und riet ihm, zu studieren und Beamter zu werden. Als 16jähriger hatte Karl-Heinz Paqué noch vor, sich der Germanistik und Philosophie zu widmen – Interessen, die sich in seiner geschliffenen Sprache und gedanklichen Breite bis heute niederschlagen. Doch dann traf 1973 der Ölpreisschock Deutschland und weckte bei ihm das Interesse für volkswirtschaftliche Zusammenhänge. „Ich habe die Ölkrise damals sehr bewusst wahrgenommen und sie als tiefen gesellschaftlichen Bruch empfunden“, erzählt er, „und dies nicht allein wegen des Sonntagsfahrverbots, das vorübergehend verhängt wurde.“

Er begann 1975 an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken zu studieren. Vor allem Wolfgang Stützel beeindruckte ihn, der in der Volkwirtschaftslehre eine legendäre Einführungsvorlesung hielt. Auf dem Campus im Saarbrücker Stadtwald indes „schwebte immer noch der Geist von Giersch“. Der Ökonom Herbert Giersch, Gründungsmitglied und paradigmatisch prägender Kopf des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, war allerdings schon 1969 als Nachfolger von Erich Schneider ans Institut für Weltwirtschaft in Kiel gewechselt. „Der Mann interessierte mich – wie alle Menschen, die etwas ungewöhnlich sind, sich nicht beirren lassen und somit aus der Masse herausragen.“ Um bei ihm zu hören, ging Paqué nach dem volkswirtschaftlichen Vordiplom an die Förde. „Ich war vom

ersten Augenblick von ihm fasziniert.“ Giersch wurde zu seinem wichtigsten akademischen Lehrer und Vorbild, insbesondere was die Präzision der Sprache betrifft. Heute steht Paqué der Herbert-Giersch-Stiftung vor, die der gebürtige Schlesier, der im kommenden Jahr 100 Jahre alt würde, als Forum zur Diskussion von Fragen der Weltwirtschaft selbst gegründet hatte.

Noch vor dem Diplom verbrachte Paqué im Rahmen eines Austauschprogramms ein Jahr an der University of British Columbia im kanadischen Vancouver – eine für ihn intensive Zeit nicht nur des Trainings in formaler Mikro- und Makroökonomik, sondern auch der Vertiefung seines wirtschaftsgeschichtlichen Interesses. Bei Robert C. Allen (seit 2000 University of Oxford) hatte er einen Kurs in „European Economic History“ belegt, den er als ausgesprochen inspirierend empfand. „Es war ein extrem wichtiges Jahr zur Ergänzung meines Studiums“, bilanziert Paqué. Zurück in Kiel, wurde er nach dem Diplom am Institut für Weltwirtschaft wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Staat und Wirtschaft, damals von Roland Vaubel geleitet, und begann mit der Dissertation zu „Philanthropie und Steuerpolitik“. Es ging darin wohlfahrtstheoretisch, empirisch und institutionenvergleichend um die Frage, ob gemeinnützige private Spenden und Stiftungen in Deutschland – ähnlich wie in den Vereinigten Staaten – den Staat in der Bereitstellung öffentlicher Güter stärker entlasten könnten und welche Reformen der steuerlichen Rahmenbedingungen dafür empfehlenswert wären.

Einen Teil der Arbeiten hierfür erledigte Paqué 1982/83 auf Empfehlung von Giersch und Vaubel als Research Fellow am Center for Study of Public Choice in Blacksburg im amerikanischen Bundesstaat Virginia. Es war das letzte Jahr dort, bevor die zwei führenden Köpfe des Centers, der spätere Nobelpreisträger James M. Buchanan und sein langjähriger Koautor Gordon Tullock, mit ihrer Forschungseinrichtung an die George Mason University in Fairfax umzogen. Mit Steuerdaten schätzte Paqué – was damals für Deutschland ein Novum war – die Preiselastizität des Spendenaufkommens in Deutschland. Sie erwies sich als sehr hoch. Paqué kam zu dem Schluss, dass es gesellschaftlich nützlich und fiskalisch effizient wäre, die Abzugsfähigkeit von Spenden durch eine großzügige pauschale Steuergutschrift zu ersetzen, damit jeder Betrag gleichermaßen honoriert wird, und nicht in Abhängigkeit vom marginalen Einkommensteuersatz. Die Arbeit brachte ihm drei Preise ein, aber in der praktischen Politik hat sich die Idee bisher nicht durchgesetzt.

Nach der Rückkehr wurde Paqué Assistent von Giersch, der ihn 1986 summa cum laude promovierte. Anschließend wurde er Hochschulassistent am Institut für Theoretische Volkswirtschaftslehre der Universität Kiel. Er übernahm 1991 am Institut für Weltwirtschaft die Leitung der Forschungsabteilung Wachstum, Strukturpolitik und internationale Arbeitsteilung als Professor und Wissenschaftlicher Direktor – eine Aufgabe des Wissenschaftsmanagements, die dem im Elternhaus unternehmerisch geprägten, umtriebigen „Macher“ Paqué lag. Er schloss 1995 seine makroökonomische Habilitation bei Giersch unter dem Titel „Structural Unemployment and Real Wage Rigidity in Germany“ ab. In der Studie untersuchte er, inwieweit die schubweisen Wellen der De-Industrialisierung der siebziger und achtziger Jahre im Gefolge der beiden Ölkrisen in ihrer Wirkung auf den Arbeitsmarkt durch eine Reallohnstarrheit akzentuiert wurden – im Unterschied zu den Vereinigten Staaten, wo entlassene Arbeitskräfte der Industrie im Dienstleistungssektor wiederbeschäftigt wurden. Was sich in Deutschland in dauerhaft erhöhter Langzeitarbeitslosigkeit niederschlug, zeigte sich demnach in den Vereinigten Staaten in einer verstärkten Lohndifferenzierung.

Im Jahr 1996 folgte Paqué einem Ruf auf den Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Internationale Wirtschaft an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg. Paqué ließ sich zusammen mit seiner Frau Sabine auf Magdeburg, auf Sachsen-Anhalt, auf Ostdeutschland mit der Vorbehaltlosigkeit, der Begeisterungsfähigkeit und dem Tatendrang ein, die für ihn typisch sind. Sachsen-Anhalt wurde ihm zur Heimat. Er erfreute sich an Wissenschaft, Kultur, Zivilgesellschaft und Natur gleichermaßen: an der aus Technischer Universität, Medizinischer Akademie und Pädagogischer Hochschule 1993 neu gegründeten Otto-von-Guericke-Universität und dem dortigen Kollegium ebenso wie am Dessau-Wörlitzer Gartenreich oder an mittelalterlichen Städten wie Quedlinburg und Wernigerode oder Naumburg und Stendal. Die Herausforderungen des Strukturwandels und der Integration der ostdeutschen Wirtschaft fesselten ihn; die Arbeit der Treuhandanstalt und ihres Nachfolgers, der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben, zur Privatisierung der volkseigenen Betriebe der DDR hatte er stets mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgt.

Es dauerte nicht lange, da begann er sich politisch zu engagieren – einerseits aus dem selbstbewussten Pflichtgefühl heraus, in der neu gewonnenen Heimat mit der eigenen ökonomische Kompetenz im harten Standortwettbewerb der Regionen etwas Vernünftiges beitragen zu können, andererseits aus der Überzeugung, dass man sich als Ökonom nicht nur in einer abstrakten Modellwelt bewegen, sondern nach konkreter Wirkung streben sollte. „Alle demokratischen Parteien in Deutschland bräuchten dringend mehr ökonomischen Sachverstand in ihren Reihen [...]. Umgekehrt benötigen Volkswirte genauso dringend die Erfahrungswelt des politischen Entscheidens“, schrieb er erst kürzlich[9]. Diese Erfahrung lehre einen gewissen Pragmatismus und schütze damit außerdem vor Dogmatismus. Paqué selbst war 1999–2002 Mitglied der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestags „Globalisierung der Weltwirtschaft“ sowie 2011–2013 der Enquête-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“.

Außerdem trat der Wissenschaftler, der sich immer schon als Liberaler – ausdrücklich nicht nur in wirtschaftlichen Fragen – verortet hatte, 1999 in die FDP ein. Es war der Startschuss zu einer raschen politischen Karriere und zu einem nicht leichten Navigieren zwischen den Welten der Wissenschaft und der Politik, zwischen der rigorosen Analyse und dem taktischen Kalkül, zwischen der abstrakten akademischen Sprache und dem wahlkämpferischen Diskurs, zwischen dem Dozieren und dem Zuhören. Im Jahr 2001 wurde er zum stellvertretenden FDP-Landesvorsitzenden gewählt und kandidierte für das Amt des Magdeburger Oberbürgermeisters. Im Wahlkampf setzte Paqué bewusst darauf, der Bevölkerung reinen Wein über die erheblichen wirtschaftlichen Herausforderungen einzuschenken, „mit nüchternem Blick, aber durchaus auch mit provozierender Deutlichkeit“, wie er später auch in seinem Buch „Die Bilanz“ seine allgemeine Herangehensweise beschrieb.[10] Zugleich aber verströmte er Freude am Anpacken und Fortschrittsoptimismus. Eine Chance, das Amt zu erringen, hatte er mit seiner Partei nicht, aber er holte für die Liberalen fast 17 Prozent der Stimmen.

In der Landtagswahl kandidierte Paqué auf Platz zwei der FDP-Landesliste. Diesmal erhielten die Liberalen gut 13 Prozent, er selbst in seinem Wahlkreis in Magdeburg-Stadtfeld 21 Prozent. In der neuen CDU-FDP-Regierung unter Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) wurde Paqué Finanzminister und setzte sich die Aufgabe, in dem damals ärmsten Bundesland eine Ansiedlungsoffensive durchzuführen, der Wirtschafts- und Innovationskraft einen Schub zu versetzen und trotzdem einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Der Verzicht auf Neuverschuldung ließ sich wegen des Einbruchs der Steuereinnahmen in ganz Deutschland nicht erreichen aber am Ende der FDP-Regierungsbeteiligung begann das Wirtschaftswachstum anzuziehen und die Arbeitslosigkeit in Sachsen-Anhalt sank – und auch der Haushalt sah inzwischen besser aus. Es folgten nach der Landtagswahl 2006 Jahre der Opposition, mit Paqué als Fraktionsvorsitzendem der Liberalen im Landtag. Im Jahr 2008 legte er das Fraktionsamt ebenso nieder wie sein Mandat und kehrte wieder an die Universität zurück, wo er seit 2002 freigestellt war.

Er ließ nun seine Erlebnisse und Analysen das Buch „Die Bilanz“ einfließen, in dem er sich gegen „eine neue Dolchstoßlegende“ verwahrt: „die Legende, dass die Politik nur vieles anders und besser hätte machen müssen, dann gäbe es heute eine kraftstrotzende ostdeutsche Wirtschaft, und die Probleme der Deutschen Einheit wären gelöst“. Stattdessen verweist er auf die „Flurschäden, die vier Jahrzehnte der Abschottung vom Weltmarkt in Ostdeutschland hinterlassen haben“.[13] Es folgten weitere Bücher, eines zur Verteidigung des wirtschaftlichen Wachstums[11], das für den Wirtschaftsbuchpreis der Zeitung „Handelsblatt“ nominiert wurde, und eines über die allgemeinen Arbeitsmarktperspektiven in Deutschland[12]. In den Jahren 2013-2018 übernahm Paqué die federführende Herausgeberschaft der „Perspektiven der Wirtschaftspolitik“; er hat das Journal neu konzipiert, attraktiver gemacht und in einer breiteren wirtschaftspolitischen Debatte verankert.

Dem Liberalismus blieb Paqué unverändert verbunden. In der schwersten Zeit der FDP nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag 2013 wurde er wieder in den FDP-Bundesvorstand gewählt, dem er schon 2003–2007 angehört hatte. Daneben wurde er 2014 stellvertretender Vorstandsvorsitzender der (FDP-nahen) Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. In Nachfolge Wolfgang Gerhardts wurde er 2018 zum Vorstandsvorsitzenden der Stiftung und daneben zum stellvertretenden Präsidenten der Liberalen Internationalen gewählt. Neben seiner ökonomischen Kompetenz sind auch hier wieder sein Schwung und seine Macher-Qualitäten gefragt. Seither ist er mehr denn je in der Welt unterwegs – oder war es zumindest bis zur Corona-Krise. Neben dem eigenwillig ausrufezeichenstarken Twittern, das er zusätzlich zum Verfassen schwungvoll formulierter Gastbeiträge in Zeitungen und Zeitschriften als Kommunikationsform für sich entdeckt hat, findet er immer noch Zeit zum konzentrierten, ernsthaften und weit ausholenden Schreiben, wie sein neues Buch[13] beweist. Darin schreibt er gemeinsam mit dem Berliner Philosophen und Theologen Richard Schröder gegen den Mythos einer dauerhaften und sich vertiefenden wirtschaftlichen, politischen und sozialen Spaltung Deutschlands an. (orn.)

Published Online: 2020-08-28
Published in Print: 2020-09-09

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 5.12.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/pwp-2020-0044/html
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