PWP: Herr Professor Edenhofer, im März hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Regelungen des Klimaschutzgesetzes vom 12. Dezember 2019 verfassungswidrig sind. Was ist für Sie das Wichtigste an diesem Urteil?
Edenhofer: Durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist der Staat nach Art. 20a GG zum Klimaschutz verpflichtet. Die Ziele des Pariser Klimaabkommens haben damit Verfassungsrang. Vor allem werden die intertemporalen Freiheitsrechte gestärkt: Wird nämlich die Emissionsreduktion bis 2030 verzögert, steigen für die kommenden Generationen die Kosten das Klimaschutzes, und damit wächst auch das Risiko, dass Emissionsminderungen nur um den Preis von schwerwiegenden Freiheitseinbußen möglich werden. Das macht den Beschluss zu einem sehr weitreichenden Urteil. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ist daher vor allem ein Urteil über die Notwendigkeit einer Selbstbindung der Politiker. Sie können notwendige Maßnahmen nicht mehr einfach in die ferne Zukunft verschieben.
PWP: Trägt das Urteil der Möglichkeit Rechnung, dass Deutschlands Bemühungen um Klimaschutz vergeblich sind, weil andere Länder nicht mitziehen, und dass sich die Taktik bedingter Selbstbindung lohnen könnte, nach dem Motto: Deutschland drosselt, wenn die anderen Länder es auch tun?

Edenhofer: Das Urteil verlangt vom Staat international ausgerichtetes Handeln zum globalen Schutz des Klimas. Er soll damit all das unternehmen, was die globale Kooperation fördert und stabilisiert, zum Beispiel auch bedingte Zusagen oder Transferzahlungen an andere Staaten, um Anreize zur Kooperation zu schaffen.[1] Er kann sich aber seinen Verpflichtungen nicht mit dem Hinweis auf die Emissionen in anderen Staaten entziehen und passiv das kooperative Nirwana herbeiwünschen, um erst dann zu handeln. Er muss daran arbeiten, dass globaler Klimaschutz gelingt.
PWP: Das heißt, Sie sind Sie mit der Ermahnung der Politik durch das Gericht sehr einverstanden?
Edenhofer: In dieser Interpretation schon. Die Bundesregierung hat nach dem Urteil schnell beschlossen, das Ziel der Treibhausgasneutralität fünf Jahre vorzuziehen, und hat einen Minderungspfad für die Zeit nach 2030 festgelegt, um das Klimaschutzgesetz verfassungskonform zu formulieren. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch der Politik nicht das Formulieren klimapolitischer Ziele abgenommen. Es hat nur gesagt: Wenn Ihr zum Zeitpunkt x treibhausgasneutral werden wollt, dürft Ihr den Karren nicht einfach bis 2030 laufen lassen und dann erst auf dem letzten Meter mit dem Reduzieren der Emissionen anfangen, um ihn so in die richtige Richtung zu lenken. Das wäre destruktiv, das kann nicht funktionieren. Deswegen müsst Ihr einen klaren Plan angeben, was nach 2030 kommen soll. Ich finde das richtig. Es nervt mich schon lange, dass die Politik immer auf kurze Sicht fährt und keinen langfristigen Gesamtentwurf liefert. Dadurch fehlt es an Glaubwürdigkeit und an verlässlichen Signalen an Konsumenten und Investoren.
PWP: Wie steht es nach dem Nachbessern um die Glaubwürdigkeit?
Edenhofer: Die Nachbesserung ist Folge des European Green Deal: Die Entscheidung der EU, die Treibhausgas-Emissionen bis 2030 um 55 statt 40 Prozent unter das Niveau von 1990 zu senken, bedeutet für Deutschland höhere Minderungsverpflichtungen. Ohne das Verfassungsurteil hätte man den politischen Kraftakt dieser Anpassung lieber der nächsten Bundesregierung überlassen. Nicht das Nachbessern also ist zu kritisieren – sondern dass ständig von Zielen geredet, aber die Frage der Instrumente nicht angegangen wird. Gerade in der Debatte auf der EU-Ebene sieht man im Moment sehr gut, dass die Klimapolitik einen fundamentalen Paradigmenwechsel benötigt: Ordnungsrecht und Technologiestandards sollen zurücktreten, die CO2-Bepreisung soll eine stärkere Rolle spielen. Das kann man nicht von heute auf morgen machen, das wäre unrealistisch. Aber es muss ein glaubwürdiger Pfad skizziert werden. Erst wenn dieser Paradigmenwechsel auf europäischer Ebene vollzogen ist, kann die Klimapolitik tatsächlich Glaubwürdigkeit beanspruchen.
PWP: Lassen Sie uns erst einmal noch im deutschen Kontext bleiben. Nach meiner Erinnerung waren Sie mit dem alten Klimaschutzgesetz nicht so ganz glücklich. Oder?
Edenhofer: Ich fand das Ziel der Treibhausgasneutralität bis 2050 richtig.
PWP: Aber den CO 2 -Einstiegspreis, der zunächst bei 10 Euro pro Tonne liegen sollte, fanden Sie viel zu niedrig. Hatten Sie kein Verständnis für die Angst der Bundesregierung, in Deutschland so etwas loszutreten wie in Frankreich die Gelbwesten-Proteste?
Edenhofer: Doch, und dafür gab es ja dann eine Lösung: Man hat im Gegenzug durch die Senkung des Strompreises eine sichtbare Entlastung geschaffen und mit der Fernpendlerpauschale Arbeitnehmer, die auf das Auto angewiesen sind, vor starken Belastungen bewahrt. Im Vermittlungsausschuss wurde die Entlastung durch verringerte Strompreise nochmals angehoben – im Rahmen dieses Deals konnte man den Einstiegspreis immerhin auf 25 Euro anheben, ohne Geringverdiener damit mehr zu belasten.[2] Was mich schon damals in der Tat gestört hat, war die Unklarheit: Wie geht es nach 2026 weiter? Wie gesagt: Langfristigkeit ist in der Klimapolitik das A und O. Ich hätte auch mit einem Einstiegspreis von 10 Euro leben können, wenn man zugleich ab 2026 klar gesagt hätte, wie im Emissionshandel die Preise freigegeben werden. Das war die eine Kritik.
PWP: Und die andere?
Edenhofer: Die zweite Kritik bezog sich auf die Kompensation für die Bürgerinnen und Bürger. Man hat 75 Prozent der Einnahmen verwendet, um den Klimaschutz über Ausgabenprogramme und steuerliche Förderung voranzubringen – etwa durch öffentlichen Nahverkehr, Elektro-Ladeinfrastruktur und Gebäudesanierung. Und nur 25 Prozent für direkte Entlastungen via EEG-Umlage, Pendlerpauschale, Wohngeld, Mobilitätsgeld und Mehrwertsteuer bei Bahntickets.[3] Das ist für die Zukunft, wenn wir dann einmal 100 Euro je Tonne CO2 bezahlen müssen, keine Perspektive.

Dann werden wir über großzügigere Kompensationen nachdenken müssen.
PWP: Wie gestaltet man solche Kompensationen am besten? Sie müssen ja sichtbar sein, damit sie ihren politischen Effekt erreichen und das Ungerechtigkeitsgefühl verschwinden lassen. In der Schweiz gibt es zum Beispiel eine Rückerstattung von zwei Dritteln des Aufkommens aus der CO 2 -Abgabe an die Bürger über die Krankenkassenabrechnungen – nur ist sich dessen kaum jemand bewusst.
Edenhofer: In Deutschland würden wir kurzfristig davon profitieren, erst einmal die gesamte EEG-Umlage nicht mehr über die privaten und betrieblichen Stromrechnungen zu finanzieren, sondern über die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung. Das hätte den Effekt, dass der Strompreis sinkt, dass er sich auf den Märkten freier bilden kann und dass dann die Sektorkopplung funktioniert: Die Leute haben dann mehr Anreiz, zum Beispiel Elektroautos und Wärmepumpen zu nutzen, aber auch in Speichertechnologien zu investieren. Diesen Schritt sollten wir auf jeden Fall gehen. Wie man das konkret umsetzen kann, ist ein Teil des Vorschlages, an dem wir am MCC arbeiten. Die EEG-Umlage war zwar anfänglich ein legitimes Instrument, um Innovationen und Lerneffekte anzuschieben,[4] sie hätte aber zügiger mit einer substanziellen CO2-Bepreisung kombiniert und von ihr abgelöst werden sollen, um eine Übersubventionierung zu vermeiden. Jetzt aber haben wir nun mal die EEG-Förderung und können die eingegangenen Zahlungsverpflichtungen an die Investoren nicht ausblenden. Es wäre gut, diese Last aus dem Strombereich herauszubekommen. Bevor wir über komplexere Kompensationen nachdenken, sollte man das als Erstes machen.
PWP: Und dann?
Edenhofer: Dann sollten wir uns damit beschäftigen, wie wir eine Pro-Kopf-Pauschale einführen können, auch wenn noch nicht klar, wie das administrativ umgesetzt werden kann. Die Erfahrungen in anderen Ländern zeigen, dass CO2-Preise nur dann erfolgreich eingeführt werden können, wenn die Regierung den Bürgern erklärt, wie die Einnahmen verwendet werden sollen.[5] Es ist nicht notwendig, dass alle Einnahmen direkt an die Bürger zurückerstattet werden. Die Förderung von neuer Technologie oder Pilotprojekten kann die Akzeptanz erhöhen, wenn das verständlich kommuniziert wird. Jedenfalls dürfen die Einnahmen nicht in einem schwarzen Loch verschwinden. Was der Staat mit den Einnahmen aus der CO2-Bepreisung macht, ist für deren Akzeptanz von fundamentaler Bedeutung.
PWP: Wenn die Sichtbarkeit der Kompensation gewährleistet ist, darf aber der mit ihr verbundene Einkommenseffekt den Substitutionseffekt der Lenkungsabgabe nicht wieder zunichtemachen. Bekommt man das hin?
Edenhofer: Empirische Studien zeigen, dass der Substitutionseffekt um ein Vielfaches größer ist als der Einkommenseffekt.[6] Bei einer Steuer müsste der Einkommenseffekt bei der Festlegung des Steuersatzes antizipiert werden, um die gewünschte Emissionsminderung einzuhalten. Hat man jedoch einen Emissionshandel, wird der Einkommenseffekt automatisch korrigiert, da die Emissionsobergrenze eingehalten werden muss und der CO2-Preis entsprechend ansteigt. Die Rückerstattung neutralisiert daher den Substitutionseffekt nicht. Das ist ja schon mal tröstlich. Bei Technologiestandards hingegen wird der Effekt teilweise zunichtegemacht: Er zwingt zwar die Autohersteller zu weniger Emissionen pro Kilometer – aber damit kann nicht verhindert werden, dass die Autos schwerer werden, mehr gefahren wird und so die Emissionen steigen. Verbindet man den Technologiestandard mit einem CO2-Preis, so wird dieser „Rebound-Effekt“ wieder neutralisiert, und die Emissionen sinken. Auch unter verteilungspolitischen Aspekten schneidet der Technologiestandard schlechter ab als der CO2-Preis mit Rückerstattung. Er belastet nämlich die einkommensschwachen Haushalte überproportional. Zwar fahren Leute mit geringem Einkommen typischerweise eher Kleinwagen, doch relativ zum Einkommen schlagen die Kosten von Effizienzstandards bei ihnen stärker zu Buche als bei Leuten mit hohen Einkommen, die mit einer Limousine fahren. So zeigen jüngste empirische Studien, dass das reichste Fünftel über ein gut 3,5-mal so hohes Einkommen verfügt wie das ärmste Fünftel, aber nur einen um knapp 1 Prozent höheren Benzinverbrauch pro Kilometer hat. Zudem legen ärmere Haushalte weitaus weniger Distanz zurück als reichere Haushalte, profitieren also deutlich geringer von der höheren Energieeffizienz eines PKW. Im Gegensatz zum CO2-Preis entstehen bei der Einführung eines Technologiestandards keine Einnahmen, mit denen die Verbraucher kompensiert werden können.[7]
PWP: In der Schweiz gibt es tatsächlich für alle dieselbe Rückvergütung, vom Baby bis zum Greis.
Edenhofer: Eine solche Pauschalrückerstattung entfaltet eine enorm progressive Wirkung. Denn der CO2-Fußabdruck einkommensstarker Haushalte ist größer als der von einkommensschwachen Haushalten, weil sie mehr konsumieren, in größeren Wohnungen leben und größere Autos fahren. Deshalb zahlen sie auch bei CO2-Bepreisung mehr. Wenn die Einnahmen dann gleichmäßig an die Bürger zurückgegeben werden, machen jene, die weniger CO2 verbraucht haben, unter dem Strich einen Gewinn. Wir Ökonomen sprechen von nicht-homothetischen Präferenzen, die dafür verantwortlich sind, dass ein CO2-Preis regressiv wirkt und durch eine Pro-Kopf-Rückerstattung zu einem progressiven Instrument wird. Trotz der Rückerstattung bleibt der Anreiz erhalten, mit der Heizung effizient umzugehen. Niemand kann seine Rückerstattung dadurch erhöhen, dass er die Heizung stärker aufdreht – im Gegenteil. Bei der Rückerstattung geht aber nicht nur um die Frage von Reich und Arm, also um die vertikale Einkommensverteilung, sondern auch um die Frage der horizontalen Einkommensverteilung. Also darum, dass sich vom Einkommen her ähnliche Haushalte in ihrer CO2-Effizienz unterscheiden.[8] Es gibt ja zum Beispiel Leute, die in schlecht gedämmten Wohnungen leben, Ölheizungen besitzen, auf dem Land leben. Diese Unterschiede werden durch eine pauschale Rückerstattung unzureichend erfasst. Es bedarf eines differenzierteren Rückerstattungssystems.
PWP: Sie haben eine pauschale Kompensation auch für Deutschland vorgeschlagen.
Edenhofer: Ja, aber gerade konservative Parteien wie die CSU hatten noch 2019 Schwierigkeiten damit, dass eine Rückerstattung ohne Bedürftigkeitsprüfung möglich sein sollte. Für die CSU war der Gegensatz von Stadt und Land wichtiger; darum war sie damals für eine Anhebung der Pendlerpauschale. Wer eine CO2-Bepreisung durchsetzen will, muss die horizontale und die vertikale Verteilung im Blick haben, um Widerstände zu überwinden. Einerseits wollen wir über die Einkommensgruppen hinweg eine progressive Wirkung erzeugen und damit einen Anstieg der vertikalen Ungleichheit verhindern, also die zwischen Arm und Reich. Andererseits gibt es aber eben auch innerhalb der einzelnen Einkommensgruppen eine große Streuung der Kostenbelastung, also eine horizontale Ungleichheit, und darum auch Widerstände. Wir versuchen am MCC gerade, das genauer zu beleuchten, denn daran muss man unter Umständen politisch ansetzen. Ein Grundproblem ist dabei die richtige Erfassung dieser horizontalen Ungleichheit: Wenn Politik kaum Informationen über die horizontale Belastung der Haushalte hat und zielgenaue Kompensationen nur mit hohem Aufwand einführen kann, können direkte Subventionen für Investitionen in CO2-arme Technologien sinnvoll sein, etwa zur Ersetzung von Ölheizungen. Möglicherweise kommt auch man um Härtefallfonds nicht herum. Sicherlich stimmt es, dass ein so grobes Instrument wie die pauschale Rückvergütung nicht ausreichend ist, um alle relevanten Widerstände zu überwinden und der horizontalen Gerechtigkeit gleichermaßen Rechnung zu tragen. Hinzu kommt, dass Politiker oft über beträchtlichen Erfindungsreichtum verfügen, drastische Härtefälle zu kommunizieren. Die Empirie hat dann einen schweren Stand gegenüber der anekdotischen Evidenz – schließlich kennen viele Parlamentarier in ihren Wahlkreisen Ölheizungsbesitzer, Pendler und Menschen, die in schlecht gedämmten Häusern leben. Leider zieht der farbige Einzelfall in Talkshows besser als die statistische Häufigkeit.
PWP: Im Mai hat die Bundesregierung das Klimaschutzgesetz nun wie gesagt nachgebessert. Der Pfad zur Senkung der Emissionen ist jetzt etwas konkreter beschrieben, auch für die Zeit nach 2030 und bis 2040. Was fehlt jetzt noch?
Edenhofer: In der Landwirtschaft ist bislang im nationalen Emissionshandel nur der Verbrauch fossiler Brennstoffe erfasst, also die CO2-Emissionen, aber andere Treibhausgase wie Methan und Lachgas bleiben außen vor. Doch auch sie bedürfen einer Regulierung. Zudem stellt sich die Frage, wie die Landwirtschaft für den Aufbau von Kohlenstoffsenken und für Biodiversitätsdienstleistungen bezahlt werden soll. Man darf nicht vergessen, wie heikel Reformen hier sind, man denke nur an das jahrzehntelange Gezerre um die EU-Agrarsubventionen. Die Landwirtschaft wurde schon 2019 bei der CO2-Preisreform bewusst ausgeklammert – es war klar, dass man sonst den Einstieg in eine CO2-Bepreisung ganz hätte vergessen können. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, was die EU mit Blick auf Gebäude, Wärme und Verkehr macht. Die im Brennstoffemissionshandelsgesetz bezifferte CO2-Bepreisung für diese Sektoren wirkt „upstream“: De facto bepreisen wir Kohle, Öl und Gas an der Stelle, an der diese in den Wirtschaftskreislauf eintreten. Die Raffinerien zum Beispiel überwälzen die Last auf die Unternehmen, und die schieben sie dann weiter zu den Konsumenten. Wenn jetzt die EU tatsächlich den zweiten Emissionshandel für die Sektoren Gebäude, Wärme und Verkehr einführen sollte, würde das bedeuten, dass wir unser nationales System europäisieren könnten. Das wäre im Prinzip gut – aber die Frage wäre, wie das dann ausgestaltet würde.
PWP: Was macht Ihnen da Sorgen?
Edenhofer: Aus der Umweltszene, auch von den Grünen, hört man in letzter Zeit immer öfter eine Ablehnung der Bepreisung, auch aus der Angst heraus, dass uns das sozial um die Ohren fliegen könnte. Man muss das vor dem Hintergrund dessen sehen, wie ambitioniert unsere Ziele sind: Bis 2045 treibhausgasneutral zu sein – das ist sehr ehrgeizig! Angesichts des Transformationspfads, der jetzt für Klimaneutralität 2045 notwendig ist, kann einem schwindelig werden. Wenn man die Profis im Politikbetrieb, denen ein solches Ziel locker über die Lippen kommt, jetzt damit konfrontiert, dass das auch ein entsprechendes Instrument voraussetzt und dass der CO2-Preis dann auf weit über 150 Euro je Tonne steigen müsste – dann sagen die gleichen Leute: Auweia, das geht auf keinen Fall! Das finde ich offen gesagt empörend. Als gäbe es irgendwelche magischen Mittel, die uns die reale Anpassungslast ersparen. Wenn es etwa heißt, man könne ja statt auf CO2-Bepreisung auf technische Vorgaben zur CO2-Effizienz zurückgreifen, dann kann ich nur entgegnen: Auch Technologiestandards kosten die privaten Haushalte Geld. Und sie belasten besonders die Einkommensschwachen. In der Vergangenheit hat die Klimapolitik tatsächlich versucht, die Kosten der Transformation zu verstecken. Aber jetzt schauen alle genau hin. Und da wäre es angezeigt, der Bevölkerung offen zu sagen, dass unser ambitioniertes Ziel nicht gratis zu haben ist. Energie wird nie wieder so billig werden wie in den siebziger Jahren. Dafür bekommen wir die Chance, die Klimakatastrophe abzuwehren.
PWP: Wie beurteilen sie denn die Chancen, dass das zweite Emissionshandelssystem auf europäischer Ebene tatsächlich kommt?
Edenhofer: Was soll die EU-Kommission denn sonst machen? Wenn sie es nicht einführt, muss sie die Lastenverteilungsverordnung anschärfen. Aber was, wenn ein Mitgliedsstaat seine angeschärften Pflichten nicht erfüllt? Dann muss er von einem anderen Staat das Recht kaufen, an seiner Stelle zu emittieren, es kommt also zu einem Handel zwischen den Staaten. Damit haben wir auf globaler Ebene im Rahmen des Kyoto-Prozesses keine guten Erfahrungen gemacht. Auch beim Handel zwischen den Mitgliedsstaaten gibt es keinen transparenten Markt. Keiner weiß, wie teuer ein solches Recht tatsächlich ist, denn es kommt da typischerweise zu „Package deals“ nach dem Motto: Gebt Ihr uns Zertifikate, beim Preis schauen wir nicht so genau hin, aber dafür helfen wir Euch dann bei anderen strittigen Themen. Um es auf einen drastischen Punkt zu bringen: Am Ende verhandeln wir wegen der Emissionszertifikate mit Polen über Konzessionen in Sachen Rechtsstaatlichkeit. Das ist inakzeptabel. Und selbst wenn das Verfahren für ein solches Geben und Nehmen der EU-Mitgliedstaaten transparent wäre: Wer garantiert uns, dass die Staaten das intern auch umsetzen, es also auf die Ebene der Unternehmen und der Verbraucher herunterbrechen? Ein zweiter europäischer Emissionshandel für Unternehmen wäre eindeutig die sinnvollere Lösung. Man hätte dann eine Entscheidung über eine gesamteuropäische „Cap“, und sie würde da umgesetzt, wo es am kostengünstigsten geht.
PWP: Wenn dann ein zweites Emissionshandelssystem käme, das ETS II, dann stünde es unverbunden neben dem ersten. Das heißt, es ergäben sich unterschiedliche Preise.
Edenhofer: Das ist politisch wohl kaum anders zu machen. Ein einheitlicher Emissionshandel für alle Sektoren würde dazu führen, dass die Sektoren Strom und Industrie im Jahr 2030 rund 80 Prozent weniger CO2 emittieren müssen als 2005 – hingegen wären es in den Sektoren Verkehr, Gebäude, Landwirtschaft, wo die CO2-Minderung schwerer zu realisieren ist, nur rund 30 Prozent weniger. Die energieintensive Industrie müsste um ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit bangen. Zudem würde sich der Kohleausstieg etwa in Polen so sehr beschleunigen, dass es erhebliche soziale Verwerfungen geben könnte. Wer auf ein solches Szenario setzt, riskiert die Zustimmung zum European Green Deal. Wir werden zwei Emissionshandelssysteme mit zunächst unterschiedlichen Preisen benötigen. Allerdings könnte es sein, dass der Markt den Job übernimmt, den sich die Politik nicht zutraut: Marktteilnehmer werden die Situation nach 2030 antizipieren und sich für das künftige ETS II schon vorausschauend mit den vergleichsweise günstigen Zertifikaten aus dem ETS I eindecken. Juristisch laufen die beiden Systeme dann nebeneinander, aber durch Spekulation und Arbitrage ergibt sich rasch ein einheitlicher Preis. Mit dem Ergebnis, dass dann auch Energieversorger und Großindustrie noch sehr viel mehr reduzieren müssen.
PWP: Der Vorteil bestünde also darin, dass die Umstellung einfach nicht so abrupt käme. Die Erwartungsbildung allein wird das aber nicht schaffen, weshalb Ihre Kollegen und Sie auch spezifische Instrumente vorgeschlagen haben, einen „Stabilizer“ und einen „Balancer“ [9] .
Edenhofer: Dabei handelt es sich um Übergangsinstrumente, die dafür sorgen, dass beispielsweise die Zertifikate aus dem einen System im anderen vermehrt angerechnet werden können, sodass man einer Verbindung der beiden Systeme irgendwann einmal näherkommt und die Preise freigeben kann – vielleicht schon im Jahr 2028, wenn man mal träumen darf.
PWP: Aber sind durch den unterschiedlichen Preis nicht zumindest vorübergehend allokative Verzerrungen zu erwarten?
Edenhofer: Schon. Aber man muss realistisch sehen: Ohne diese Zweigleisigkeit wird ein umfassendes System niemals kommen. Es wird anfangs in beiden Systemen einen politisch fixierten Preiskorridor geben, um extreme Preissprünge zu vermeiden. Und dann werden die beiden unterschiedlichen Preise langsam und schrittweise zusammengeführt. Natürlich hätte man theoretisch sagen können, es gibt nur ein einheitliches System, und man kompensiert den Stromsektor und die Industrie für die riesige Minderungsleistung, die sie erbringen müssen. Aber bei einem politisch kreierten Markt spielen die expliziten und impliziten Verteilungsfragen nun einmal naturgemäß eine entscheidende Rolle. Industrie und Stromsektor haben schon klargemacht, dass sie einen einheitlichen Emissionshandel vor 2030 auf keinen Fall akzeptieren werden. Also müssen wir mit zwei Systemen und zwei Preisen beginnen. Das ist natürlich eine Verzerrung, aber wenn man dafür langfristig einen einheitlichen Preis bekommt, ist das als Übergang doch ein akzeptabler Weg.
PWP: Die dem Zertifikatehandel zugrundeliegende Idee ist doch, dass man die Menge fixiert und den Preis sich durch das Spiel von Angebot und Nachfrage auf dem Markt ergeben lässt, womit man eine effiziente Allokation erreicht. Ein politisch festgesetzter, durch Steuern gelenkter CO 2 -Preis oder Preiskorridor hingegen funktioniert laut Lehrbuch anders herum, es ist die Menge, die sich ergibt. Ist es nicht ein Widerspruch, beides zu kombinieren?
Edenhofer: Es stimmt: Wenn ich von einer CO2-Bepreisung rede, ist es mir nicht so wichtig, ob das durch einen Emissionshandel oder durch eine Steuer implementiert wird. Man kann beide Ansätze so ausgestalten, dass sie annähernd gleich wirken.[10] Wenn Sie den CO2-Preis festsetzen, haben Sie natürlich Unsicherheiten über die Menge, zumal sich ja die primären Erdöl- und Erdgaspreise und damit auch der CO2-Preis laufend ändern. Sie müssen also über einen iterativen Lernprozess die Steuersätze solange anpassen, bis Sie die gewünschte Menge haben. Umgekehrt haben Sie in einem Emissionshandelssystem Unsicherheit über den Preis. Warum man beides in einem Hybridsystem kombinieren sollte, statt sich auf eines zu konzentrieren? Weil die Lehrbuchfälle nicht ganz realistisch sind.
PWP: Inwiefern?
Edenhofer: Die Lehrbücher gehen meistens davon aus, dass die „Cap“, die Mengenbeschränkung, ein für alle Mal festgelegt ist. Und dass auch der Staat über keine bessere Information verfügt als jenen Preis, der sich im Handel mit den erlaubten Mengen ergibt. Es gibt nur eine Schwierigkeit damit: Die Marktteilnehmer erwarten nicht wirklich, dass die Politik tatsächlich zu ihrer Mengenbeschränkung steht, wenn die Preise extrem hoch oder extrem niedrig werden. Das zieht nach sich, dass die Preise am Anfang zu niedrig sind und erst am Schluss rapide ansteigen – nämlich wenn sich zeigt, dass die Beschränkung doch greift. Dann aber fangen die Lobbyisten an zu protestieren, es entsteht massiver politischer Druck auf die Cap. Der Emissionshandel ist so gesehen immer auch eine Art Wettbüro, wo Prognosen über politische Entscheidungen gehandelt werden.[11] Das klammern die Lehrbücher aus. Weil das so ist, habe ich gemeinsam mit Axel Ockenfels[12] immer dafür plädiert, einen Mindestpreis einzuführen.
PWP: Was leistet ein Mindestpreis?
Edenhofer: Ein Mindestpreis stabilisiert die Erwartungen und schafft einen Anreiz, schon heute Emissionen zu vermeiden, auf dass die Aufgabe morgen nicht ganz so groß ist. Es ist ein bisschen so, wie wenn Kinder sich auf eine Schulprüfung vorbereiten müssen: Wenn sie faul sind und sagen, am letzten Tag vor der Prüfung würden sie dann ganz viel machen, dann ist das einfach nicht glaubwürdig. Die Politik muss ein Minimum vorgeben. Und umgekehrt muss sie auch eine Übertreibung in die entgegengesetzte Richtung verhindern.
PWP: Warum?
Edenhofer: Wenn die Preise im Emissionshandel zu stark steigen, bringen wir die Politiker in eine Situation, in der sie das gegenüber den Lobbyinteressen und auch gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr vertreten können. So wie der Mindestpreis verhindert, dass die Leute der Cap nicht glauben, macht der Höchstpreis am anderen

Ende des Preisbandes für alle Marktteilnehmer klar ersichtlich: Die Politik ist bereit, komplementäre Maßnahmen zu ergreifen, wenn der Preis eine bestimmte Höhe hat, zum Beispiel eben doch temporäre Standards oder auch Technologiesubventionen. Nur so bekommt man den Prozess politisch hin. Es geht bei solchen Interventionen im Kern um Glaubwürdigkeit und die Stabilisierung von Erwartungen.
PWP: Klaus Schmidt hat in seiner Thünen-Vorlesung [13] auf der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik 2020 gezeigt, dass es für den Erfolg von systematisch von Trittbrettfahrerverhalten geprägten internationalen Klimakonferenzen helfen kann, sich nicht mehr auf Mengenziele zu konzentrieren, sondern gleich eine Einigung auf einen Mindestpreis anzustreben. Ist das auch aus Ihrer Sicht einfacher?
Edenhofer: Das Problem mit einer Einigung auf Mengenziele liegt darin, dass nicht so leicht Reziprozität zu erreichen ist, weil sich Mengenziele nur schwer vergleichen lassen. Preise hingegen sind sehr gut vergleichbar. Sie messen das Anstrengungsniveau, das das jeweilige Land bereit ist zu erbringen. Ein Preis ist daher ein guter gemeinsamer Fokalpunkt, an dem sich alle ausrichten können. Wenn diese Niveaus auseinanderklaffen, ist es aber immerhin möglich, ein Land, das nur einen niedrigeren Preis akzeptiert, finanziell zu unterstützen, um es auf ein höheres Niveau zu bringen.
PWP: Dieser Ansatz eignet sich gut für die EU, die man ja vor dem Hintergrund ihres Green Deals als eine Art Klimaclub bezeichnen könnte, in Übereinstimmung mit der Nordhaus-Idee [14] .
Edenhofer: Ja, wobei meine Kollegen und ich diese Idee schon viel früher als Nordhaus[15] ins Spiel gebracht haben. Schon vor gut zehn Jahren haben wir über zwei Varianten von Klimaclubs nachgedacht: Die eine brummt allen Ländern, die nicht teilnehmen, einen Zoll auf; die andere teilt Technologien, die Spillover-Effekte haben. Wir haben uns dann näher angeschaut, in welchem Ausmaß in diesen beiden Varianten die Kooperation zunimmt. Von dem Modell, das Nordhaus zur Klärung dieser Frage heute verwendet, bin ich nicht überzeugt. Es hat spieltheoretisch Schwächen, weil es unterstellt, dass innerhalb des Clubs das Kooperationsproblem schon gelöst ist: dass also die teilnehmenden Länder quasi eine Metamorphose in Richtung Kooperation durchgemacht und ihren Egoismus abgelegt haben. Über differenziertere Modelle verfügen wir heute zum Glück durchaus.[16]
PWP: So wie in der ersten Variante Ihres Modells schickt sich die EU heute an, sich gegenüber Ländern, die nicht mitmachen, mit einer Grenzausgleichsabgabe abzuschotten.
Edenhofer: Ja, und genau das ist mir ein Dorn im Auge. Ich sähe es ungern, wenn uns die Klimapolitik am Ende in einen Handelskrieg führte. Sowohl das Nordhaus-Modell als auch unser eigenes enthält keine „Retaliation“, also keine Vergeltung: Der Klimaclub darf auf andere draufhauen, aber die vom Zoll Betroffenen reagieren nicht. Das ist unrealistisch. Wir brauchen noch ausgeklügeltere Modelle, die auch das explizit betrachten. Abgesehen davon halte ich es für wichtig, dass ein Klimaclub so angelegt ist, dass er wachsen kann, dass er andere zum Mitmachen motiviert. Und das erreicht man nicht mit Bestrafung allein. Einige Länder werden zwar schon deshalb mitmachen, weil sie wissen, dass dann mehr vom globalen Gut Klimaschutz bereitgestellt werden kann. Aber die anderen Länder, besonders die kleineren Länder in Südostasien, die noch stark auf Kohlekraftwerke setzen, muss man durch konditionale Transferzahlungen ins Boot zu holen versuchen.
PWP: Wie könnte man das konkret machen?
Edenhofer: Man könnte ihnen beispielsweise beim Ausstieg aus der Kohle helfen, indem man ihnen etwas zahlt, ihnen zinsverbilligte Kredite gibt oder die Anfangsinvestitionen für erneuerbare Energien übernimmt. Dafür müssten auch sie einen CO2-Preis einführen. Das Beispiel zeigt wieder, wie klasse dieses Instrument ist. Ein Land, das einen CO2-Preis einführt, kann selber entscheiden, ob es das über eine Steuer machen will oder über einen Emissionshandel mit Mindestpreis. Und die Unterstützer müssen nicht lange nachprüfen, welche Projekte genau mit ihrem Geld gemacht werden.
PWP: Ein häufig erhobener Einwand gegen den Green Deal der EU bezieht sich auf die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Andere hoffen allerdings auf eine „grüne Dividende“.
Edenhofer: Man muss da ehrlich sein. Wer über Treibhausgasneutralität nachdenkt, darf nicht darauf setzen, dass die Energie billiger wird. Zwar sind die Gestehungskosten von Photovoltaik und Wind so dramatisch gesunken, wie wir es uns noch vor ein paar Jahrzehnten nicht hätten vorstellen können. Aber grüner Wasserstoff als Energieträger der Zukunft, mit Infrastruktur und allem, was dazugehört, ist nochmal ein Jahrhundertprojekt. Und wenn Sie synthetische Kraftstoffe erzeugen wollen, dann benötigt man CO2. Das darf natürlich nicht aus der Verbrennung von Kohle, Öl oder Gas kommen, sondern Sie müssen es direkt aus der Luft entziehen oder aus Biomasse gewinnen.
PWP: Das ist teuer.
Edenhofer: Eben. Vielleicht werden wir 2030 synthetische Kraftstoffe haben, die sich bei CO2-Preisen von 200 Euro pro Tonne am Markt durchsetzen werden.[17] Aber die Vorstellung, es werde jetzt auf einmal alles schöner, besser und grüner, ist schlichtweg Quatsch. Mit Blick auf die europäische Wettbewerbsfähigkeit wäre ich trotzdem durchaus optimistisch. Die Vereinigten Staaten haben sich inzwischen auf dieselben Ziele verpflichtet wie die Europäer. China hat sich mehr Zeit ausbedungen, bis 2060 wollen sie CO2-neutral sein. Man mag den Zusagen Chinas misstrauen, aber die gewaltigen Klimaschäden werden China dazu bringen, eine stärkere internationale Kooperation zu suchen. Wenn es in dieser G3 – Amerika, China, EU – zu einer strategischen Kooperation käme, wäre das sehr gut. Man könnte in einem solchen Kontext dann auch daran denken, einen gemeinsamen Investitionsfonds aufzusetzen, der den kleineren asiatischen Ländern beim Ausstieg aus der Kohle unter die Arme greift. So müsste es meiner Ansicht nach gehen. Klimapolitik ist ein Thema für einen kooperativen Multilateralismus.
PWP: Sie beraten unter anderem auch den Vatikan. Finden Ihre ökonomischen Argumente für eine effiziente Klimapolitik dort Gehör?
Edenhofer: Mir scheint, dass Papst Franziskus – ich habe zweimal mit ihm geredet – kein Spezialist für Klimaökonomie ist. Aber er hat die enorme Bedeutung des Klimaproblems als soziales Problem für die Menschheit erkannt. In seiner Umwelt-Enzyklika „Laudato si“ aus dem Jahr 2015 gibt es dabei durchaus Passagen, die eine aus meiner Sicht wenig nachvollziehbare Kritik an der Idee des Zertifikatehandels enthalten. Die Kirche hat immer noch Vorbehalte gegen die Marktwirtschaft, aber sie warnt auch vor einem zu großen Staat und betont die Bedeutung der Tugendethik. Das ist nicht unbedingt falsch, aber ihr scheint das Projekt der Moderne nicht ganz geheuer. Dabei wird die Kirche in einer Weise mit den Ansprüchen der Moderne konfrontiert, die historisch ziemlich einzigartig sein dürfe. In den sechziger und siebziger Jahren war sie noch bereit, sich auf das Projekt ein Stück weit einzulassen, aber dann bekam sie offenbar kalte Füße. Interessanterweise zwingt aktuell der Missbrauchsskandal die Kirche dazu, sich mit der Moderne in einer nie dagewesenen Weise auseinanderzusetzen.
PWP: Wie meinen Sie das?
Edenhofer: Dieses dramatische Kapitel Kirchengeschichte, das ja jetzt intensiv aufgearbeitet werden muss, macht etwas sehr Grundsätzliches deutlich: Ihr eigenes Rechtssystem hat versagt, sie braucht Gewaltenteilung, Rechenschaftspflichten, Gleichberechtigung von Frau und Mann, Verträge wie andere Institutionen auch. Sie lernt gerade, dass ihre Institution mit den Mitteln der Psychologie, Soziologie und Ökonomie analysiert und verändert werden muss, wenn sie ihrer Sendung treu bleiben will. Die Vorstellung, die Kirche wirke ohne Macht und zugleich aus Vollmacht wie eine Monarchie, kann nicht mehr funktionieren. Es sind Errungenschaften der Moderne, die jetzt mit großer Verspätung in der Kirche ankommen. Die Kirche muss das Projekt der Moderne und ihre Rolle darin noch einmal überdenken, und damit auch ihr Verhältnis zu Rechtsstaat, Markt, Staat und Demokratie.
PWP: Worauf fußen nach Ihrer Sicht die Vorbehalte gegen die Moderne?
Edenhofer: Die Moderne gilt in der Kirche als große Moralzehrerin. In dieser Vorstellung saugen Institutionen wie Markt, Demokratie und Bürokratie die intrinsische Motivation der Menschen auf; die kleinen Einheiten, vor allem die Familie, kommen unter beständigen Druck. Kaum ist der Mensch im Markt, wird er egoistisch, geizig und gierig. Die Kirche hat große Angst davor, dass die moralischen Ressourcen der Gesellschaft aufgebraucht und verschleudert werden. Das ist nicht ganz falsch, aber es führt nicht weiter, wenn sie sich einem tugendethischen Refugium einrichtet, anstatt sich an der öffentlichen Debatte zu beteiligen, wie das Projekt der Moderne weiterentwickelt werden kann. Das macht es sehr schwer, sie für ökonomische Instrumente zu erwärmen. Es gibt aber dennoch positive Entwicklungen. Papst Franziskus will junge Unternehmerinnen fördern, die nachhaltig wirtschaften wollen. Die Päpstliche Akademie der Wissenschaft spricht mit großen institutionellen Investoren über ethisches Investment. Manche Kirchen fragen, wie sie ihren Grund und Boden bewirtschaften wollen, und schließlich werden die Finanzen zumindest teilweise offengelegt. Und sie bewegt sich doch! Es gibt ja auch Unzulänglichkeiten auf der anderen Seite: Ich finde nicht hilfreich, wenn viele Ökonomen den Markt vor allem deshalb als Institution vergöttern und verteidigen, weil er angeblich auch mit lauter bösen Menschen funktioniert.
PWP: Das ist doch nur eine Heuristik.
Edenhofer: Ja, aber die meisten Menschen sind empfänglich dafür, wenn man an ihre bessere Seite appelliert. Die meisten Leute wollen nicht böse sein, sie wollen nur nicht am Altruismus zugrunde gehen. Die Institutionenökonomik hat uns gelehrt, dass wir in unserem Handeln auf dem Markt nicht alles abschließend regeln können und dass wir deshalb „incomplete contracts“ eingehen. Um diese abzusichern, braucht es auch die Tugend. Die Verhaltensökonomie zeigt ja sehr schön, dass ökonomische Instrumente wie der CO2-Preis diese „moralischen“ Absichten unterstützen.[18] Aber zurück zur Kirche: Ich versuche in Gesprächen, an diesem Punkt argumentativ anzusetzen. Ich habe dabei auch durchaus das Gefühl, dass man weiterkommt.
PWP: Als ehemaliges Mitglied des Jesuitenordens sprechen Sie immerhin die Sprache der Kirche. Das dürfte helfen.
Edenhofer: Ja, das hilft. Vor allem habe ich bei den Jesuiten gelernt, die Position des Gesprächspartners genau zu verstehen, auch wenn man meint, sie oder er irre. Wir wurden bei den Jesuiten trainiert, alle philosophischen Positionen darzustellen, ohne Polemik und ohne die Taktik des gezielten Missverständnisses. Das hilft auch in den Gesprächen mit Theologen. Wenn ich das Kernproblem des Klimawandels erklären will, versuche ich immer, an die Grundfigur der universalen Widmung der Erdengüter anzuknüpfen, die bereits Thomas von Aquin entwickelt hat. Sie nimmt den Grundgedanken vorweg, den später Elinor Ostrom mit den Allmenden thematisiert hat. Thomas von Aquin hatte konzeptionell schon die globalen Allmenden im Blick, die globalen Gemeinschaftsgüter, und analysiert deren Beziehung zum Privateigentum. Für Theologen ist der Gedanke gewöhnungsbedürftig, dass man die globalen Gemeinschaftsgüter effizient und fair durch CO2-Preise bewirtschaften kann. Aber darin unterscheiden sich Theologen nicht von meinen naturwissenschaftlichen Kollegen am PIK, die manchmal mit den Augen rollen, wenn ich wieder mit meinem CO2-Preis komme. Sie sagen dann, man müsse doch endlich mal richtig hinlangen, mit einem richtigen Verbot. Gerade weil ich der Letzte bin, der das Klimaproblem kleinreden will, sage ich: Wir können es uns nicht leisten, bei der Lösung das Innovationspotential von Märkten ungenutzt zu lassen. Und diese Märkte entstehen eben nicht von selbst, sondern wir müssen sie in einem bewussten Akt politischer Gestaltung schaffen. Daran stören sich dann wieder Libertäre, auch libertäre Katholiken, die vor allem in den USA nicht ohne Einfluss sind. Ich befinde mich da also wie so oft zwischen allen Stühlen. Aber ich habe gelernt, dass man auch da ganz gut sitzen kann.

Mit Ottmar Edenhofer sprach Karen Horn. Ottmar Edenhofer wurde von Matthias Lüdecke fotografiert, Karen Horn von Beatríz Barragán.
Zur Person
Ottmar Edenhofer: Klima, Kapitalismus, Kirche
Karen Horn
Ottmar Edenhofer, geboren 1961 im niederbayrischen Gangkofen, auf halber Strecke zwischen München und Passau, stammt aus einer Unternehmerfamilie. Der Vater besaß ein Landkaufhaus und zog später gemeinsam mit einem Partner einen Textildiskonter mit beinahe 80 Filialen in ganz Bayern hoch. Die Eltern hofften, dass der Filius einmal ins Geschäft einsteigen würde, aber dieser hatte völlig andere Interessen. Auch mit der Schule konnte er, wie er sagt, lange nichts anfangen. Ihn faszinierten die ganz großen Fragen: die Evolution, die Unendlichkeit, Gott. Obschon keineswegs religiös erzogen, wurde er in der katholischen Kirche aktiv. Eine Spur hinterließ die Schule erst, als ihm eine Lehrerin ein Referat über die Arbeitswert- und Krisentheorie von Karl Marx aufgab: „Selbst im konservativen Niederbayern war man in den siebziger Jahren links – zumindest ein bisschen“.
Der philosophische Zugang zum Nachdenken über ökonomischen Wert fesselte ihn. Die Auseinandersetzung mit Marx mag mit angestoßen haben, dass er im Alter von 18 Jahren ein Unternehmen gründete, eine nicht auf Gewinnerzielung ausgelegte, „ausbeutungsfreie“ Sozialstation mit 30 angestellten Pflegekräften. Um deren Bestand auf Dauer zu sichern, koppelte er sie gleich an die katholische Kirchenstiftung an. Auf jeden Fall erleichterte es ihm diese Erfahrung, sich nach dem Abitur nicht nur auf Drängen des Vaters für ein Studium der Volkswirtschaftslehre in München zu entscheiden. Dort wurde Hans-Werner Sinn für ihn eine prägende Figur. Bei ihm saß er in allen Vorlesungen und allen Seminaren. „Er war unglaublich, ein intellektuell von seinem Fach besessener, zum Kämpfen aufgelegter Hardcore-Neoklassiker.“ Die mathematische Modellierung machte ihm Freude, aber es blieb ein Gefühl der Unzufriedenheit: „Man kam damit nicht ganz an die zentralen Fragen heran.“
Edenhofer entschied sich deshalb für ein religiöses Leben. Weil ihm die Einstellungen des großen Theologen und Sozialethikers Oswald von Nell-Breuning zu Marktwirtschaft und Ethik gefielen, wählte auch er den Jesuitenorden. „Als ich das dann meinen Eltern offenbarte, sagte mein ziemlich antiklerikaler Vater nur: ‚Jetzt brauche ich einen Cognac.‘“ Nach dem Noviziat studierte Edenhofer an der Hochschule für Philosophie in München und in Frank

furt St. Georgen. In dieser Zeit lernte er den damals 98-jährigen Nell-Breuning auch persönlich kennen. „Er war sehr schroff, aber er hat mich sehr inspiriert.“ Schließlich schickte ihn der Orden als humanitären Helfer für zwei Jahre nach Kroatien und Bosnien, wo der Bürgerkrieg tobte. „Die Erfahrungen dort haben mich sehr verstört“, gibt er zu Protokoll. Es war auch der Anfang vom Ende seines Ordenslebens: 1993 trat er nach langem Ringen wieder aus.
Nach einem Praktikum in der Wirtschaftsredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nahm er das Angebot des Soziologen Carlo C. Jaeger von der Technischen Hochschule Darmstadt an, bei ihm als wissenschaftlicher Assistent einzusteigen und in Ökonomie zu promovieren. Jaeger leitete zugleich auch die Abteilung Humanökologie an der EAWAG, einer Forschungsanstalt des ETH-Bereichs in der Schweiz. Das passte: „Umweltfragen im Verbund mit Wachstum und Ressourcen haben mich immer interessiert. Und das Klima war dabei immer präsent.“ Auch die Soziologie kam ihm gerade recht, weil ihn umtrieb, wie Gesellschaften funktionieren – und auch weil er von der Volkswirtschaftslehre enttäuscht war: „So richtig kam die Neoklassik mit den Umweltfragen ja doch nicht klar.“ Über die Spieltheorie und die evolutionären Modelle, die er in seiner Doktorarbeit über soziale Konflikte und technologischen Wandel nutzte, wandte er sich dann aber doch wieder verstärkt der Ökonomie zu.
Nach der Promotion ging er ans Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), wo er zunächst stellvertretender Leiter der Abteilung Soziale Systeme war, ab 2005 Chefökonom sowie ab 2007 stellvertretender Direktor. Hier erhielt er die Möglichkeit, eine interdisziplinäre Abteilung zu den Lösungsstrategien des Klimawandels aufzubauen. Im Herbst 2018 löste er gemeinsam mit Johan Rockström den sich in den Ruhestand verabschiedenden Institutsgründer und Direktor Hans Joachim Schellnhuber ab. Die beiden haben die Forschung am PIK neu ausgerichtet, sodass nun globale Gemeinschaftsgüter und die planetarischen Belastungsgrenzen im Zentrum stehen.
Seit 2008 hat Edenhofer eine Professur für die Ökonomie des Klimawandels an der Technischen Universität Berlin inne. Seit 2012 ist er darüber hinaus Gründungsdirektor des Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC) in Berlin. Am MCC widmet er sich der Frage, wie man wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Analysen mit einem strukturierten Ansatz an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik verbindet und wie wissenschaftliche Politikberatung zu leisten ist.[19] Insbesondere hat er mit dem Zusammenhang von Ungleichheit und den „Social Costs of Carbon“ beschäftigt,[20] ebenso wie mit der politischen Ökonomie der Klimapolitik.[21]
Danach gefragt, welche Figuren aus der wissenschaftlichen Literatur für ihn besonders prägend waren, nennt er an erster Stelle die Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom wegen ihrer Arbeiten zu lokalen Gemeingütern; in seiner Beschäftigung mit den Global Commons entwickelt er diese Ansätze auch spieltheoretisch weiter.[22] An zweiter Stelle folgt in der Aufzählung Partha Dasgupta, unter dessen Leitung kürzlich die „Dasgupta Review“[23] erschienen ist, ein globaler Bericht über die Ökonomie der Biodiversität – der für Edenhofer ein großer Durchbruch ist. An dritter Stelle nennt er Arthur C. Pigou, der die Idee einer Steuer entwickelt hat, die Externalitäten internalisiert.[24]
Umsichtig und gewinnend, ist Edenhofer neben seiner Forschungsarbeit ein gefragter Berater für Politik, öffentliche Institutionen, Unternehmen und Kirche. Die Liste seiner Ämter und Engagements ist geradezu erschlagend lang; nur einige seien herausgegriffen: Unter seiner Leitung entstand 2014 der fünfte Sachstandsbericht des Weltklimarats (IPCC), der das wissenschaftliche Fundament für das Pariser Abkommen 2015 bildete.[25] Seit 2018 ist er Mitglied in der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, seit 2015 in der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech. Und neuerdings ist er nicht nur zugewähltes Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, sondern darüber hinaus auch noch Berater einer der vom Papst mit der Leitung der römisch-katholischen Kirche beauftragten Zentralbehörden, des „Dikasteriums für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen“. So vollendet sich ein Kreis.
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