Zusammenfassung:
Das Memorandum über Sicherheitszusagen für die Ukraine, das im Dezember 1994 auf dem KSZE-Gipfeltreffen in Budapest unterzeichnet wurde, schuf eine Verbindung zwischen dem Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) von 1968 sowie der ukrainischen politischen Souveränität und territorialen Integrität. Kiew hatte sich erst dann bereit erklärt, sein damals in der Welt drittgrößtes Atomwaffenarsenal abzubauen, nachdem die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Russland, als die Depositarstaaten des NVV, im Budapester Memorandum sowie Frankreich und China in separaten Regierungsdeklarationen der Ukraine ihren Respekt für ihre Unabhängigkeit und Grenzen versichert hatten. Dies ist einer der Gründe, weshalb mögliche Pläne der Trump-Administration für einen Neustart der Beziehungen zum Kreml weder eine explizite noch implizite Aufweichung der US-amerikanischen Position gegenüber der fortgesetzten russischen Bekämpfung des ukrainischen Staates einschließen sollte.
Abstract:
The Memorandum on Security Assurances for Ukraine, signed at the December 1994 CSCE summit in Budapest, created a link between the 1968 Treaty on Nuclear Non-Proliferation (NPT) and Ukrainian political sovereignty as well as territorial integrity. Kyiv only agreed to dismantle the world's then third largest atomic weapons arsenal after the United States, United Kingdom and Russian Federation, as the NPT's depositary states, in the Budapest Memorandum, and France as well as China in separate governmental declarations assured Ukraine of their respect for her independence and borders. That is one of the reasons why the new Trump administration's possible plans for a reset with the Kremlin should include neither an explicit nor an implicit softening of Washington's stance on Russia's ongoing assault against the Ukrainian state.
1 Einleitung
Wird das neue außenpolitische Team von Präsident Donald Trump die Haltung der USA gegenüber Russland und der Ukraine revidieren? Falls die neue Regierung in Washington tatsächlich versuchen sollte, die amerikanische Osteuropa-Politik neu auszurichten, könnte dies gravierende Auswirkungen auf die Tragfähigkeit des derzeitigen internationalen Regimes zur Verhinderung der Verbreitung von Kernwaffen haben. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde die territoriale Integrität der Ukraine eng mit dem Atomwaffensperrvertrag von 1968 verbunden – eines der weitreichendsten Rüstungskontrollabkommen, das je unterzeichnet wurde und dem die meisten Staaten der Welt beigetreten sind.
Zwar gibt es inzwischen eine Fülle von Signalen aus Washington, die darauf hindeuten, dass die Vereinigten Staaten zumindest ihre Rhetorik gegenüber Russland nicht ändern werden. So sagte etwa die neu ernannte US-Botschafterin Nikki Haley bei den Vereinten Nationen am 2. Februar 2017 auf einer (infolge erneuter Eskalation der Kämpfe im Donezbecken) von der Ukraine beantragten Sitzung des UN-Sicherheitsrats: „Die Vereinigten Staaten stehen an der Seite des ukrainischen Volkes, das seit mittlerweile fast drei Jahren unter russischer Besatzung und militärischer Intervention leidet.“[1] Sie versicherte der Staatengemeinschaft auch, dass die Sanktionen, die die USA nach der Annektierung der Krim gegen Russland verhängt hatten, so lange in Kraft bleiben werden, bis die Halbinsel an die Ukraine zurückgegeben ist. Andere Vertreter der Trump-Administration und Republikanischen Partei haben in ähnlicher Weise ihre Unterstützung für die Ukraine und ihre Kritik an Russland zum Ausdruck gebracht. Solche Aussagen sind eine Erleichterung für all diejenigen, die nach dem Sieg Trumps befürchteten, der Wunsch des neuen Präsidenten und einiger seiner Berater, ein partnerschaftliches Verhältnis zu Russland aufzubauen, könnte zur Folge haben, dass die neue US-Regierung die russische Ukraine-Politik stillschweigend akzeptieren könnte.
Allerdings bleibt weiterhin unklar, inwieweit etwa Botschafterin Haley in ihren zitierten Ausführungen tatsächlich die Präferenzen der Trump-Administration wiedergibt oder ob sie beziehungsweise das State Department zunächst einfach der Linie ihrer Vorgängerin Samantha Power folgte. Auch bei ähnlichen Aussagen anderer US-amerikanischer offizieller Repräsentanten stellt sich die Frage, ob sie letztlich repräsentativ für die langfristige Strategie der neuen Washingtoner Mannschaft sein werden. Die künftige Russland-Politik Trumps bleibt somit von Zweifeln geprägt, die etwa von Enthüllungen über Versprechungen, die der zurückgetretene erste Nationale Sicherheitsberater des neuen Präsidenten, Michael Flynn, gegenüber Russland im Vorfeld der Wahlen offenbar gemacht hat, genährt werden. Sollte die neue US-Regierung, wie von Trump im Wahlkampf mehrfach angekündigt, tatsächlich eine Annäherung zwischen den USA und Russland in die Wege leiten, würde es für Washington schwierig werden, die derzeitigen US-Sanktionen gegen Moskau voll aufrecht zu erhalten beziehungsweise im Falle weiterer russischer Eskalationen in der Ukraine konsequent auszuweiten. Sollte daraufhin gar der derzeitige westliche Konsens in Bezug auf Russland schwinden, müsste sich die Ukraine womöglich mit ihren Gebietsverlusten auf Dauer abfinden. Der Kreml würde für die Hartnäckigkeit, mit der er seine territoriale Expansionspolitik verfolgt hat, belohnt werden. Dies hätte weitreichende Konsequenzen nicht nur für die politische Kräftebalance, Stimmung und Stabilität in Osteuropa, sondern auch für die globale Sicherheitsordnung.
2 Washington und Moskau nach der Ukrainekrise
Moskaus unerwartete Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim im März 2014 hat den Beziehungen zwischen den USA und Russland einen schweren Schlag versetzt. Das Verhältnis verschlechterte sich weiter, als der Kreml einen bewaffneten Konflikt im Donezbecken zu schüren begann, in Syrien aufseiten des Regimes von Bashar al-Assad militärisch intervenierte und sich zuletzt in die US-Präsidentschaftswahlen einmischte. Die daraus erwachsenen Spannungen zwischen den beiden größten Atommächten der Welt sind Grund zu großer Sorge, und eine Entspannung wäre nur zu begrüßen. Trump hat außenpolitische Fehlentscheidungen seines Amtsvorgängers für die Spannungen verantwortlich gemacht und den Wunsch zum Ausdruck gebracht, einen neuen Weg der Zusammenarbeit mit Russlands Präsident Wladimir Putin zu finden. Einige Schlüsselpersonen in Trumps neu ernanntem Kabinett scheinen ebenfalls Pläne für eine solche Annäherung zu hegen. Eine weitgehende Normalisierung der Beziehungen zu Russland würde es jedoch womöglich erfordern, dass Washington vor den völkerrechtswidrigen russischen territorialen Veränderungen, die Putin seit seinem Machtantritt im Jahr 2000 im postsowjetischen Raum fortgesetzt oder vorgenommen hat, mehr oder minder stark die Augen verschließt. Es könnte im schlimmsten Fall bedeuten, dass die US-Regierung die fortlaufende Destabilisierung der Ukraine durch eine Vielzahl militärischer und nicht-militärischer Maßnahmen des Kremls ignorieren, herunterspielen und/oder tolerieren müsste.
Insbesondere würde ein wirklicher Neustart der Beziehungen zwischen Russland und den USA implizieren, dass zumindest einige der Sanktionen, die die USA aufgrund von Putins Völkerrechtsverletzungen seit 2014 gegen Russland verhängt haben, aufgehoben beziehungsweise bei weiteren Provokationen Moskaus in der Ukraine nicht oder nicht hinreichend ausgeweitet werden. Präsident Trump, so ist der Verdacht, betrachtet die territoriale Integrität der Ukraine womöglich als ein unzulänglich wichtiges Hindernis für eine Verbesserung der Beziehungen zu Putin: „Ist die Ukraine wirklich solchen Einsatz des Westens wert?“ – so denken vermutlich etliche Politiker, Diplomaten und Berater auf beiden Seiten des Atlantiks. Sollten Präsident Trump und seine außenpolitischen Berater, wie Henry Kissinger, tatsächlich eine substantielle Annäherung an Russland in Erwägung ziehen, könnte dies gar – wie sich zeitweise andeutete – auf eine neue Aufteilung von Einflusssphären à la Jalta hinauslaufen.
In diesem Fall muss daran erinnert werden, dass sich die USA nach dem Zusammenbruch der UdSSR dazu verpflichtet hatten, die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine konsequent zu achten und aktiv zu unterstützen. Vor mehr als zwanzig Jahren gab Washington eindeutige schriftliche Sicherheitszusagen an Kiew im Zusammenhang mit dessen Verzicht auf jene Kernwaffen, die der junge ukrainische Staat von der Sowjetunion geerbt hatte. Die damaligen US-amerikanischen Versprechungen sind mehr als belanglose Plattitüden und stellen heute einen integralen Bestandteil des internationalen Regimes zur Nichtverbreitung von Kernwaffen dar.
3 Das Kernwaffenerbe der Ukraine und das Budapester Memorandum
Auf dem Budapester Gipfel der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (heute: OSZE) im Jahre 1994 unterzeichneten die USA, Großbritannien, Russland und die Ukraine in Verbindung mit dem Beitritt der Ukraine zum Atomwaffensperrvertrag ein Memorandum über Sicherheitszusagen.[2] Im Budapester Memorandum, wie das Dokument seither genannt wird, verpflichteten sich die drei Depositarstaaten des Atomwaffensperrvertrags, die politische Unabhängigkeit und bestehenden Grenzen der Ukraine zu achten und sich der Anwendung militärischer Gewalt sowie der Ausübung politischen und ökonomischen Drucks gegen sie zu enthalten.[3] China und Frankreich, die anderen beiden im Atomwaffensperrvertrag anerkannten offiziellen Nuklearmächte, gaben in separaten regierungsamtlichen Erklärungen ähnliche Statements ab.[4]
Das Budapester Memorandum ist zweifellos ein unvollkommenes völkerrechtliches Dokument. Es war Ergebnis von Verhandlungen zwischen Parteien mit verschiedenen nationalen Interessen und internationalen Machtpositionen. Auch ist das Schriftstück lediglich eine diplomatische Absichtserklärung, in der politische Selbstverpflichtungen schriftlich festgehalten wurden. Das Memorandum ist kein verbindlicher internationaler und ratifizierter Vertrag – eine Tatsache, auf die Dutzende russische und prorussische Kommentatoren seit 2014 immer wieder verwiesen haben. Auch enthält das Budapester Memorandum keine Bestimmungen über Sanktionen für den Fall eines Verstoßes. Die vier Parteien des Memorandums erklären lediglich, sich miteinander beraten zu wollen, falls eine Situation eintritt, die die erklärten Verpflichtungen der Signatarstaaten bezüglich der Souveränität, Integrität und Sicherheit der Ukraine verletzt. Jedoch deuten die Vorgeschichte des Memorandums, der Hergang der nuklearen Abrüstung der postsowjetischen Ukraine und die Unterschriften der drei Depositarstaaten des Atomwaffensperrvertrags von 1994 darauf hin, dass es mit dem Budapester Memorandum mehr auf sich hat, als sich aus seinem bloßen Wortlaut ableiten lässt.[5]
Das Memorandum war der entscheidende Teil einer umfassenderen Übereinkunft zwischen den Großmächten und Kiew, wonach sich die Ukraine bereit erklärte, als Gegenleistung für politische, wirtschaftliche und technische Hilfe aus dem Westen vollständig auf das damals drittgrößte Atomwaffenarsenal der Welt sowie auf seine Kapazität zur Nuklearwaffenproduktion zu verzichten. Als die Ukraine im Jahr 1991 als unabhängiger Staat entstand, erbte sie eine Vielzahl von Kernwaffen, darunter 176 interkontinentale ballistische Raketen und 44 strategische Bomber, die insgesamt mit rund 2.000 Nuklearsprengköpfen bestückt waren, sowie über ca. 2.600 taktische Kernwaffen. All dies entsprach summa summarum etwa 15 Prozent des früheren sowjetischen Kernwaffenarsenals.[6] Außerdem besaß die Ukraine eine beachtliche militärisch-industrielle Infrastruktur, darunter Kernforschungsreaktoren, die weltweit größte Fabrik für Interkontinentalraketen, Anlagen zur Herstellung von Zielerfassungs- und Feuerleitsystemen sowie Uranbergwerke. Obwohl die operative Kontrolle der ukrainischen strategischen Waffensysteme in Moskau verblieben war, verfügte die Ukraine damit über ein vollständiges „Starterpaket“ zur Umwandlung in einen vollwertigen Kernwaffenstaat sowie über ausreichendes technologisches und wissenschaftliches Potenzial, um sich gegebenenfalls die Kontrolle über einen signifikanten Teil ihrer Kernwaffen zu verschaffen und zumindest einige dieser Sprengköpfe sowie Trägersysteme voll einsatzfähig zu machen.[7]
Trotzdem (oder vielleicht gerade weil) die Ukraine dem Status einer vollwertigen Atommacht derart nahe war, wollte sie nach dem Zerfall der UdSSR zunächst auf alle Massenvernichtungswaffen auf ihrem Territorium verzichten und ein neutraler Staat werden.[8] Fünf Jahre vor Erlangung ihrer Unabhängigkeit hatte die damalige Sowjetrepublik die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl erlebt – eine Erfahrung, die ein wesentlicher Grund dafür war, dass die Ukrainer ursprünglich wenig Interesse an ihrem geerbten sowjetischen Atomwaffenarsenal zeigten. Die ukrainische Regierung war daher zunächst bereit, sich ihrer Tausenden von Atomsprengköpfe, -granaten und -minen bedingungslos und so schnell wie möglich zu entledigen. Überdies empfand man die sowjetischen Kernwaffen mit ihren in Moskau zentralisierten Kommando- und Steuerungssystemen als ein Band, das die Ukraine an Russland fesselte, während Kiew seine Unabhängigkeit vom Kreml festigen wollte.
Im Laufe der Monate nach der offiziellen Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 begann die ukrainische Staatsführung im Lichte erster Erfahrungen mit dem neuen russischen Staat allerdings ihr nukleares Erbe nuancierter zu betrachten.[9] So behinderte das militärische Establishment der neuen Russischen Föderation trotz der offiziellen und einvernehmlichen Trennung der beiden Länder die Aufstellung unabhängiger ukrainischer Streitkräfte – eine zentrale hoheitliche Kompetenz eines souveränen Staates. Die ukrainische Führung hielt eigene Streitkräfte für unerlässlich, um die neugewonnene Unabhängigkeit zu sichern. Das russische Verteidigungsministerium dagegen bemühte sich darum, gemeinsame militärisch-strategische Institutionen im postsowjetischen Raum zu erhalten.
Gleichzeitig begannen russische Politiker Gebietsansprüche anzumelden, die offenkundig von dem im Dezember 1991 ratifizierten dreiseitigen Belowescher Abkommen zur Auflösung der UdSSR abwichen. In ihm hatte Moskau die Souveränität der Ukraine sowie deren Grenzen ohne Einschränkungen anerkannt. Dennoch verabschiedete das russische Parlament im Mai 1992 – in manifestem Widerspruch zu seiner Ratifikation des Belowescher Abkommens nur wenige Monate zuvor – eine Resolution, die jenes sowjetische Gesetz für nichtig erklärte, welches 1954 die Überführung der Krim von der Russischen Sowjetrepublik an die Ukrainische Sowjetrepublik verfügt hatte.[10] Im Juli 1993 erkannte der Oberste Sowjet der Russischen Föderation darüber hinaus offiziell die Stadt Sewastopol auf der Krim, wo sich eine große russische Militärbasis und ein bedeutender Marinestützpunkt befinden, als eigenes Hoheitsgebiet an.[11] Auch unterstützte Moskau zu dieser Zeit immer offener separatistische Bewegungen in den georgischen Regionen und selbsternannten Republiken Südossetien und Abchasien sowie im zur Republik Moldau gehörenden Gebiet Transnistrien militärisch, ökonomisch und politisch.
Die geopolitischen Umstände der beginnenden Entnuklearisierung der Ukraine änderten sich infolge dieser und anderer Entwicklungen. Kiews bilaterale Beziehungen zu Moskau und sein Vertrauen in die künftige Außenpolitik der jungen Russischen Föderation verschlechterten sich zusehends. Dies veranlasste führende ukrainische Politiker, Diplomaten und Experten dazu, ihre anfängliche Bereitschaft zu einer bedingungslosen nuklearen Abrüstung zu überdenken. Die verschiedenen unerwarteten Aktionen und Deklarationen des gerade entstandenen postsowjetischen russischen Staates riefen bei außenpolitischen Entscheidungsträgern in Kiew die Sorge hervor, dass Moskau in der Zukunft zu einer militärischen Bedrohung für die Ukraine werden könnte.
Zwar erkannten der Präsident und das Parlament Russlands die Grenzen der Ukraine zuerst im Belowesher Abkommen von 1991 und in der Folgezeit etliche weitere Male offiziell durch diverse Vertragsunterzeichnungen und -ratifikationen an. Offenbar hatten – wie sich damals bereits andeutete – jedoch einflussreiche Kreise des russischen Establishments die im Dezember 1991 erzielte Übereinkunft zur Auflösung der UdSSR niemals in vollem Umfang akzeptiert. Auch wenn dies nicht bedeutete, dass sich die Ukraine der nuklearen Abrüstung nun verweigerte, ging Kiew fortan vorsichtiger vor und stellte nun Bedingungen. So forderte das ukrainische Außenministerium von den Westmächten Unterstützung für den Fall, dass Russland in Zukunft militärischen, politischen und/oder ökonomischen Druck auf die Ukraine ausüben sollte.
Als Reaktion auf diese Forderungen begann Mitte 1992 eine Reihe schwieriger Verhandlungen zwischen den USA und der Ukraine über künftige Sicherheitsgarantien für Kiew. Ursprünglich strebte das ukrainische Außenministerium ein multilaterales Abkommen zwischen der Ukraine und den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats an und erarbeitete einen Vertragsentwurf hierfür. Dieses Abkommen wäre rechtlich bindend gewesen, hätte die Grenzen der Ukraine garantiert und konkrete Sanktionen für den Fall ihrer Nichtachtung vorgesehen.[12] Auch dieser Vertragsentwurf und die damalige Politik Kiews lief allerdings nicht auf eine Sicherheitsallianz der Ukraine mit dem Westen hinaus. Vielmehr wollte die Ukraine neutral bleiben – ein Ansatz, der in gewisser Hinsicht dem Verhalten z. B. Österreichs in den 1950er-Jahren ähnelte.
Jedoch waren weder die scheidende Bush Senior- noch die neue Clinton-Administration bereit, dem jungen ukrainischen Staat völkerrechtlich verbindliche Garantien zu geben. Vielmehr sahen Anfang der 1990er-Jahre weite Teile des politischen und intellektuellen Establishments der USA und Westens insgesamt in einem sich schrittweise reformierenden und zunehmend demokratischen Russland den entscheidenden Grundpfeiler regionaler Stabilität im postsowjetischen Raum. Sie wollten sich daher nicht in einem als antirussisch interpretierbarem Vertrag festlegen. Verbindliche Verpflichtungen des Westens gegenüber der Ukraine hätten womöglich feindselige Reaktionen in Moskau ausgelöst, welches die Ukraine und ihr Atomwaffenproblem als eine Art innerslawische Familienangelegenheit ansah. Auch mag eine Rolle gespielt haben, dass ein vollwertiger multilateraler Vertrag einen langwierigen Ratifizierungsprozess in den Parlamenten aller Signatarstaaten des Abkommens hätte durchlaufen müssen. Dies hätte wahrscheinlich zur Folge gehabt, dass sich der Abschluss der atomaren Abrüstung der Ukraine weiter verzögern würde.
Daher überzeugten die Vereinigten Staaten die Ukraine, dass das Maximum dessen, was Kiew vom Weißen Haus erwarten könne, eine hochrangige Zusicherung Washingtons zur Wahrung der ukrainischen politischen Souveränität und territorialen Integrität ist. Außerdem wollte man Russland dazu bewegen, eine ebensolche Zusicherung abzugeben. Daneben versprach Washington umfassende finanzielle und technische Hilfe für die Umsetzung des kostspieligen nuklearen Abrüstungsprozesses sowie Ersatz für das in den ukrainischen Sprengköpfen enthaltene Spaltmaterial, sofern dieses für friedliche Ziele nutzbar gewesen wäre. Diese Zusagen wurden in einer Trilateralen Erklärung, die am 14. Januar 1994 in Moskau von den Präsidenten der Ukraine, der USA und Russlands unterzeichnet wurde, förmlich bekräftigt.[13]
Obgleich Washington und Moskau in diesem Dokument Kiew gemeinsame Sicherheitszusagen machten, war allen Beteiligten klar, dass die Ukraine russischen territorialen Revisionismus fürchtete und daher nach US-amerikanischem Schutz strebte. Es wurden zwar keinerlei konkrete Sanktionen für den Fall eines Verstoßes gegen die Verpflichtungen vereinbart, die die beiden nuklearen Supermächte in der Trilateralen Erklärung eingegangen waren. Dennoch bedeuteten die darin gemachten Zusagen, dass Washington eine Verletzung der politischen Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine als eine Handlung betrachten würde, die den nationalen Interessen der USA schadet. Dies erzeugte in Kiew Vertrauen darin, dass die Vereinigten Staaten ihre politischen Versprechungen ernst nehmen würden.
4 Die territoriale Integrität der Ukraine und der Atomwaffensperrvertrag
Auch nach Unterzeichnung der Trilateralen Erklärung durch die USA, die Russische Föderation und die Ukraine im Januar 1994 verstanden die Kiewer Unterhändler jedoch, dass die Zusicherungen, die Washington und Moskau in diesem Dokument gemacht hatten, weit hinter einer vollwertigen Sicherheitsgarantie für ihr Land zurückblieben. Aus diesem Grund verlangte und erhielt schließlich die ukrainische Staatsführung eine weitere, in gewisser Hinsicht redundante Sicherheitszusage in einem zusätzlichen umfassenderen internationalen Dokument. Diese zweite Erklärung wurde nun demonstrativ mit Kiews Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag (NVV) – also mit einem der bedeutendsten multilateralen Übereinkommen der Welt – verknüpft. Im Dezember 1994 entstand durch das Budapester Memorandum eine klare Verbindung zwischen der territorialen Integrität der Ukraine und dem internationalen Regime zur Nichtverbreitung von Nuklearwaffen.
Dieser Zusammenhang fand symbolischen Ausdruck in einer an und für sich unnötigen Abwendung von dem früheren trilateralen Format bei den Verhandlungen und Vereinbarungen über das Schicksal des ukrainischen Atomwaffenarsenals: Großbritannien als der dritte offizielle Depositar des Atomwaffensperrvertrags unterzeichnete, neben den USA und Russland, im Dezember 1994 ebenfalls die zuvor schon in der Trilateralen Erklärung vom Januar desselben Jahres gemachten Sicherheitszusagen an die Ukraine im Rahmen des Budapester Memorandums. Darüber hinaus wurden die beiden übrigen der fünf im NVV anerkannten Kernwaffenstaaten, China und Frankreich, durch getrennte offizielle Regierungserklärungen zur Achtung der Souveränität und Integrität der Ukraine in den Budapester Prozess einbezogen. Schließlich erhielten Kasachstan und Weißrussland – als zwei weitere postsowjetische Staaten, die sich ebenfalls bereit erklärten, auf ihre (wesentlich kleineren) Kernwaffenarsenale, die sie von der UdSSR geerbt hatten, zu verzichten – ähnliche Sicherheitszusagen wie die Ukraine.
Die Bestimmungen im Budapester Memorandum unterschieden sich freilich kaum von den Zusagen, die die Vereinigten Staaten und Russland bereits in der Trilateralen Erklärung vom Januar 1994 gemacht hatten. Zusätzlich zur Zusicherung, die Grenzen der Ukraine zu achten und, in Übereinstimmung mit der UN-Charta und der OSZE-Schlussakte von Helsinki, auf die Anwendung oder Drohung mit militärischer Gewalt zu verzichten, enthielt das Memorandum die allgemeinen negativen und positiven nuklearen Versicherungen, welche die Kernwaffenstaaten des Atomwaffensperrvertrags üblicherweise den Nicht-Kernwaffenstaaten, die dem Abkommen beitreten sind, erteilen. Entscheidend am Budapester Memorandum war jedoch, dass es den Sicherheitszusagen der drei Großmächte an die Ukraine eine neue Qualität verlieh: Sie wurden damit zu einem integralen Bestandteil des Regimes zur Verhinderung der Proliferation von Kernwaffen.
Die Denuklearisierung der Ukraine geschah in einem kritischen Moment für die Zukunft des Nichtverbreitungsregimes, das auf der Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags 1995 auf unbegrenzte Zeit ausgedehnt werden sollte.[14] In der Folge des Ersten Golfkriegs von 1991 wurde die Welt durch die Enthüllung des Atomprogramms im Irak erschüttert, der den NVV zwar unterzeichnet hatte, dem es aber dennoch gelungen war, Inspektoren der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA) in die Irre zu führen. Im Jahr 1993 drohte mit Nord-Korea ein nicht-kooperierendes Mitglied des Atomwaffensperrvertrags mit dem Austritt aus diesem. Libyen und Iran wurden zudem verdächtigt, gegen den NVV verstoßende geheime Atomprogramme zu betreiben. Schließlich waren Pakistan und Indien dabei, sich Israel als Atommächte außerhalb des NVV-Regimes hinzuzugesellen. Der Verzicht der Ukraine auf ihre Kernwaffen stellte 1994 daher einen eindrucksvollen Vertrauensbeweis für die normativen Grundlagen und politische Potenz des Nichtverbreitungsregimes dar. Für nahezu 20 Jahre schien die ukrainische Entscheidung, zusammen mit der Einstellung der Atomprogramme Weißrusslands, Kasachstans und Südafrikas aller Welt zu demonstrieren, dass eine nukleare „Rolle rückwärts“ möglich und für die betroffenen Staaten vorteilhaft ist.
Für die Ukraine bestand die Bedeutung des 1994er-Memorandums somit weniger darin, Sicherheitszusagen als solche erhalten zu haben. Das Budapester Dokument wiederholte lediglich die Aussagen der Trilateralen Erklärung desselben Jahres und ist kein völkerrechtlich bindendes Abkommen. Vielmehr bestand und besteht die Signifikanz des Memorandums darin, dass es die Erfüllung der in ihm festgehaltenen politischen Verpflichtungen mit dem Verzicht der Ukraine auf Kernwaffen sowie dem Beitritt zum NVV verknüpfte und sie so zu einem Baustein des internationalen Nichtverbreitungsregimes machte. Dieser Logik folgend, kündigte die ukrainische Ratifikationsurkunde des NVV dann auch bereits 1994 an, dass jede Bedrohung der territorialen Integrität der Ukraine und Revision ihrer Grenzen durch einen atomar bewaffneten Staat als „außergewöhnliche Ereignisse, die eine Gefährdung der höchsten Interessen“ der Ukraine darstellen, betrachtet würden.[15] Diese Klausel wurde wortwörtlich aus Artikel 10 des NVV übernommen, in dem die Möglichkeit eines legitimen Rücktritts vom Vertrag geregelt ist. Damit bewahrte die Ukraine einen rechtlichen Titel, sich gegebenenfalls Kernwaffen erneut zu beschaffen.
5 Die Folgen der russischen Aggression gegen die Ukraine
Moskaus Annektierung der Krim im März 2014 und die anhaltende verdeckte russische Intervention im Donezbecken sind „außergewöhnlichen Ereignisse, die eine Gefährdung der höchsten Interessen“ der Ukraine darstellen. Es war daher nicht verwunderlich, dass dies im ukrainischen Parlament 2014 zu einem Antrag führte, in dem der Austritt der Ukraine aus dem NVV gefordert wurde.[16] Es kann auch nicht überraschen, dass die öffentliche Unterstützung für eine atomare Wiederbewaffnung der Ukraine im Jahr 2014 auf 43 Prozent rapide anstieg, wobei die Zustimmung unter der jüngeren Generation noch höher war.[17]
Jedoch erhielt der Parlamentsantrag auf atomare Wiederbewaffnung keine Mehrheit. Obwohl den Ukrainern immer deutlicher bewusst wird, dass die Art und Weise ihrer nuklearen Abrüstung Mitte der 1990er-Jahre ein gravierender Fehler war, ist zumindest bislang die Wahrscheinlichkeit gering, dass Kiew neue Kernwaffen baut oder erwirbt.[18] Dies hängt damit zusammen, dass eine hypothetisch mögliche nukleare Wiederbewaffnung der Ukraine hohe wirtschaftliche und politische Kosten für das Land bedeuten würde. Die Ukraine müsste bei einer eigenen Herstellung von Atomwaffen hohe Summen investieren, die sie nicht hat. Sie müsste einen vollständigen Kernbrennstoffkreislauf sowie aufwändige Träger- und Steuerungssysteme entwickeln, die für eine glaubwürdige nukleare Abschreckung erforderlich wären.
Darüber hinaus würden derartige Bestrebungen auf erbitterten Widerstand nicht nur in Russland, sondern auch in jenen westlichen Ländern stoßen, von denen die Ukraine heute den Großteil ihrer wirtschaftlichen und politischen Unterstützung erhält. Sollte diese Hilfe versiegen, wäre die Regierung der Ukraine in ernsten Schwierigkeiten. Mutatis mutandis würden vor diesem Hintergrund allerdings auch die Gründe für die Ukraine nicht wiederaufzurüsten schwinden und der Wunsch nach einem nuklearen Abschreckungsmittel (und sei es mittels einer „schmutzigen Bombe“) steigen, sollten die Ukrainer die derzeitige westliche Unterstützung für ihre politische Souveränität und territoriale Integrität als unzureichend erachten. Dies gälte insbesondere für den Fall weiterer militärischer Offensiven Moskaus – z. B. eine etwaige gewaltsame Herstellung eines russischen Landkorridors zwischen dem Donezbecken und der Krim – und einer inadäquaten Reaktion des Westens auf derartige Angriffe.
Der für die Weltgemeinschaft und Zukunft der Menschheit besorgniserregendste langfristige Aspekt der russischen Gebietsgewinne in der Ukraine hat jedoch weniger mit dem Konflikt zwischen Moskau und Kiew selbst oder einer möglichen ukrainischen nuklearen Wiederbewaffnung zu tun. Vielmehr untergräbt der offenkundige und dreiste Verstoß des Kremls gegen das Budapester Memorandum die normativen, politischen und psychologischen Grundlagen des gesamten internationalen Regimes zur Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen.[19] Mit jedem Monat, den die russische Besetzung der Krim und verdeckte Intervention in der Ostukraine andauert, wird das Vertrauensfundament des weltweiten NVV-Deals tiefer untergraben.
Die schleichende Delegitimierung des derzeitigen Mechanismus zur Verhinderung nuklearer Proliferation ereignet sich überdies in einer Zeit, in der dieses Regime ohnehin Druck ausgesetzt ist. Die steigende Unzufriedenheit mit dem derzeitigen Atomwaffensperrregime hat mit dem offen diskriminierenden Charakter des NVV zu tun: Nach dem Vertrag sind nur fünf Staaten, die auch die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sind, völkerrechtlich legitimiert Kernwaffen zu besitzen. Allen anderen Unterzeichnerstaaten des NVV wird dagegen der vollständige Verzicht auf Kernwaffen sowie auf das Recht auch nur der Vorbereitung ihrer Entwicklung auferlegt. Der kritische Punkt der weltweiten Übereinkunft im NVV zwischen den Kernwaffenbesitzern USA, Großbritannien, Russland, Frankreich und China einerseits und den Nicht-Kernwaffenstaaten andererseits ist daher die Anerkennung der besonderen Verantwortung Ersterer. Die außergewöhnlichen Privilegien der Kernwaffenstaaten innerhalb des NVV legen ihnen die Pflicht auf, diese nicht zum eigenen Vorteil und insbesondere nicht gegen Nicht-Kernwaffenstaaten zu missbrauchen. Ansonsten schwindet die Logik des gesamten Regimes der nuklearen Nichtweiterverbreitung und insbesondere die Legitimität der darin enthaltenen Ausnahmeregelungen für die P5.[20]
Auch liegt der NVV-Übereinkunft die Annahme zugrunde, dass die Atomwaffenbesitzer ihre Bestände an Sprengköpfen aus eigenem Antrieb schrittweise abbauen. In diesem Zusammenhang wurden die fünf offiziellen NVV-Nuklearwaffenstaaten bereits vor 2014 von einer wachsenden Zahl von Nicht-Kernwaffenstaaten wegen unzureichender Bemühungen kritisiert, den ihnen aus dem Abkommen erwachsenden Verpflichtungen zur nuklearen Abrüstung nachzukommen. Aus dieser Frustration ist in den vergangenen Jahren eine Bewegung hervorgegangen, die sich dafür einsetzt, den Besitz von Atomwaffen grundsätzlich völkerrechtlich zu ächten sowie zu verbieten – und so den Kernwaffenbesitz überhaupt zu delegitimieren.
Dass Russland, ein anerkannter Nuklearwaffen- und Depositarstaat des NVV, jetzt militärische Gewalt gegen die Ukraine, einem Nicht-Kernwaffen- und NVV-Unterzeichnerstaat, einsetzt, während es gleichzeitig westlichen Staaten mit der Atomkeule droht, verheißt wenig Gutes für die künftige Effektivität des weltweiten Nichtweiterverbreitungsregimes. Die Entscheidung der Ukraine, dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten, hatte nicht nur zur Folge, dass Kiew auf die Absicht und das Recht verzichtete, Kernwaffen zu entwickeln. Es bedeutete auch die Überstellung des drittgrößten Arsenals an Nuklearsprengköpfen der Welt vom ukrainischen Hoheitsgebiet ausgerechnet nach Russland.
Schließlich ahnte die Ukraine bereits Anfang der 1990er-Jahre die irredentistische Bedrohung aus Russland und trat daher dem Atomwaffensperrvertrag nicht bedingungslos bei. Sie tat dies nur, nachdem ihr nicht nur von Russland die Achtung ihrer Souveränität, sondern auch von den übrigen vier offiziellen NVV-Kernwaffenstaaten schriftlich zugesichert worden war, dass diese es nicht tatenlos hinnehmen würden, wenn Moskau seinen Verpflichtungen gegenüber der Ukraine nicht nachkommt. Sollten die Vereinigten Staaten nun diese Zusagen abschwächen, indem sie ihre kritische Haltung gegenüber Moskau revidieren, die Sanktionen gegen Russland lockern oder sonstige Konzessionen gegenüber Russland machen, wäre dies vor dem Hintergrund der Trilateralen Erklärung und insbesondere des Budapester Memorandums von 1994 fatal. Solches Verhalten würde einen – nach der demonstrativen russischen Aggression seit 2014 – zweiten expliziten Verstoß einer Großmacht gegen den Geist und Sinn des Nichtverbreitungsregimes bedeuten.
6 Warum die Vereinigten Staaten den NVV stützen müssen
Freilich werden auch das Ausmaß und die Angemessenheit der bisherigen westlichen Reaktionen auf die Aggression Russlands gegen die Ukraine kontrovers beurteilt. Man kann jedoch argumentieren, dass die bisherigen Maßnahmen der USA weitgehend dem entsprachen, was man von einem Depositarstaat des NVV erwarten darf, und im Wesentlichen den politischen Zusicherungen folgten, die Washington im Jahr 1994 gegenüber Kiew gemacht hatte. Die Obama-Administration berief Konsultationen ein, wie es das Budapester Memorandum vorsieht. Im Unterschied zum Kernwaffenstaat China, der sich der Abstimmung in der UN-Generalversammlung im März 2014, in der die russische Annektierung der Krim verurteilt wurde, ostentativ enthielt, haben die Vereinigten Staaten konsequent, unmissverständlich und wiederholt Putins Invasion in die Ukraine verurteilt. Washington verhängte Sanktionen gegen Russland und stellt der Ukraine wirtschaftliche, technische, Ausbildungs- und Militärhilfe zur Verfügung – wenn auch in weit bescheidenerem Umfang, als sich das Kiew wünscht, und bislang nur mit nichtletalen Waffen.
Es wäre ein schwerwiegender geopolitischer Fehler, wenn die Trump-Administration den bisherigen US-Kurs einer fragwürdigen Détente mit Putin zuliebe opfern würde. Der neue Präsident und seine Berater sollten nicht nur die beunruhigenden Konsequenzen einer Beschwichtigungspolitik gegenüber Moskau für das Nichtverbreitungsregime erkennen. Eine Abschwächung der gegenwärtig ohnehin nur halbherzigen Unterstützung des Westens für die Ukraine könnte den Kreml dazu ermutigen, noch mehr Druck auf Kiew auszuüben. Neue Konzessionen gegenüber Russland würden frühere westliche Erfahrungen mit russischem Irredentismus in Moldau oder Georgien ignorieren. Sie könnten signalisieren, dass die Vereinigten Staaten Moskau einen Freibrief geben, auch in anderen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion seine Interessen mit allen Mitteln, die ihm geeignet erscheinen, einschließlich militärischer Gewalt, durchzusetzen.
Tatsächlich verfolgt Russland seit vielen Jahren eine Politik der Revision von Grenzen im ehemaligen sowjetischen Herrschaftsbereich. Dazu gehört die Einrichtung von russischen Protektoraten im moldauischen Transnistrien und in den georgischen Regionen Südossetien und Abchasien sowie die Annexion der Krim und verdeckte Invasion in das Donezbecken. Weder die 1994 begonnene Strategische Partnerschaft der EU mit Russland oder Modernisierungspartnerschaft von 23 EU-Staaten mit Russland nach 2008, noch der 2002 gegründete NATO-Russland-Rat und eine Palette weiterer institutioneller Rahmenstrukturen sowie Kooperationsvereinbarungen konnten die russische Unterwanderung des europäischen Sicherheitssystems verhindern. In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, wie wenig hilfreich der Hinweis auf die angebliche Missachtung russischer Sicherheitsbefindlichkeiten durch die NATO-Erweiterung als Erklärung des russischen Revisionismus ist. Die Republik Moldau hatte sich 1994 in Artikel XI seiner neuen Verfassung zu einem dauerhaft bündnisfreien Land erklärt; seither hat sich Chişinău konsequent an diese Bestimmung gehalten. Die frühe Entscheidung zur Neutralität und entsprechende moldauische Außenpolitik hat dem Land allerdings weder dabei geholfen, die Moskauer Unterstützung für transnistrischen Separatismus zu verringern, noch die illegale russische Truppenpräsenz auf moldauischem Staatsgebiet zu beenden.
Während solche und ähnliche Aspekte der postsowjetischen internationalen Beziehungen im Westen nur wenig bekannt sind, ist man sich ihrer in der Ukraine und in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken nur allzu sehr bewusst. Das verbreitete Misstrauen gegenüber dem Kreml unter den nichtrussischen Eliten des ehemaligen Zaren- und Sowjetreichs ist das Ergebnis von jahrzehnte-, wenn nicht jahrhundertelangen ambivalenten Erfahrungen mit den oft imperialistisch eingestellten Herrschern Moskaus. Die häufigen Vorschläge westlicher Politiker und Diplomaten, den Konflikt zwischen dem Westen und Russland dadurch zu lösen, dass man die Ukraine dauerhaft zu einem neutralen Staat macht (manchmal als „Finnlandisierung“ bezeichnet), werden daher von vielen Sicherheitsexperten in der ehemaligen UdSSR als wenig tauglich für eine nachhaltige Lösung des russisch-ukrainischen Konfliktes erachtet. In Kiew werden diese Vorschläge als Resultat anhaltender Naivität des Westens im Umgang mit Russland gedeutet. Es erscheint vor diesem Hintergrund unwahrscheinlich, dass die Ukraine sich mit einem dauerhaften Gebietsverlust und einem blockfreien Status einverstanden erklären würde, nur weil dies vom Westen womöglich demnächst verlangt werden könnte.
Ein amerikanischer und/oder europäischer Beschwichtigungskurs gegenüber russischem Revisionismus, Irredentismus und Neoimperialismus hätte daher Nebeneffekte, die die Wahrscheinlichkeit neuer Eskalation im postsowjetischen Raum eher erhöhen als verringern würde. Die mögliche Anerkennung der Annexion der Krim durch die USA würde zu einer allgemeinen Entwertung des Völkerrechts und insbesondere zu seiner Relativierung im postsowjetischen Raum führen. Russland hatte die Grenzen der Ukraine nicht nur im Budapester Memorandum von 1994 und im Belowescher Abkommen zur Auflösung der UdSSR von 1991, sondern auch im Ukrainisch-Russischen Freundschaftsvertrag von 1997, im Russisch-Ukrainischen Grenzvertrag von 2003 sowie in weiteren, von Russland unterzeichneten bi- und multilateralen Verträgen anerkannt. Eine auch nur implizite Akzeptanz der jüngsten territorialen Expansion Russlands durch die Vereinigten Staaten würde einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen und ein beunruhigendes Signal an Politiker sowohl in Moskau als auch in an Russland grenzende Staaten senden, in denen nationales und internationales Recht ohnehin nur bedingt respektiert und befolgt werden.
Sollten die USA unter Trump ihre Sicherheitszusagen gegenüber der Ukraine aufweichen, wäre dies auch eine verhängnisvolle Botschaft an alle künftigen potenziellen Kernwaffenbesitzer- und -verbreiterstaaten – ganz gleich, ob es sich dabei um Freunde oder Feinde Amerikas handelt. Die USA würden der internationalen Staatengemeinschaft signalisieren, dass Versprechen von Großmächten, wie die im Budapester Memorandum formulierten, wenig wert sind. Die Lektion für alle gegenwärtigen und zukünftigen Staatsoberhäupter würde lauten: „Wenn du die Bombe hast, behalte sie. Wenn du weder eine Bombe hast noch unter dem Schutz eines Bündnisses mit Atomschirm stehst, jedoch einen mächtigen, potenziell unfreundlichen Nachbarn hast, brauchst du die Bombe. Sei nicht so naiv wie die Ukrainer 1994 und verlass dich nicht auf Schriftstücke wie den NVV. Wenn es hart auf hart kommt, werden die Garantiemächte derartiger Abkommen – selbst die mächtigsten wie die USA – ihre Zusagen vergessen.“
Die Regierung Trump könnte Amerika daher heute (wieder) „zu alter Größe verhelfen“, indem sie ihre internationalen Verpflichtungen einhält und sich in dem fortdauernden Kampf gegen die Weiterverbreitung von Kernwaffen auf die richtige Seite der Geschichte stellt. Wie wichtig dafür auch die Einhaltung des internationalen Nichtverbreitungsregimes ist, hatte der Geschäftsmann Donald J. Trump schon vor 18 Jahren erkannt, als er in einem Interview sagte: „Wir können über Wirtschaft sprechen, wir können über soziale Sicherheit sprechen – das größte Problem der Welt aber ist die Weiterverbreitung von Kernwaffen“.[21] Man kann nur hoffen, dass Präsident Trump sich an diese Maxime erinnern und halten wird.
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