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Publicly Available Published by De Gruyter June 12, 2017

Realistisch in den Osten blicken: Belarus nach der Ukraine-Krise und die Neuausrichtung der westlichen Politik

  • Robert Helbig EMAIL logo

Kurzfassung:

Belarus ist an der europäischen Integration nicht ernsthaft interessiert. Es hat sich in der Vergangenheit der EU nur zugewandt, um Druck auf die russische Regierung zu erzeugen. Nicht einmal die Ukraine-Krise hat die außenpolitische Situation des Landes grundlegend geändert, das strukturell von Russland abhängig geblieben ist. Allerdings konnte Präsident Aljaksandr Lukaschenka seine Macht festigen und die aktuelle Wirtschaftskrise eröffnet ihm die Chance, das Land ökonomisch zu diversifizieren. Lukaschenkas gewonnenes Selbstvertrauen und der dringende Bedarf an wirtschaftlicher Umstrukturierung haben die Tür für den Westen geöffnet, seine Belarus-Politik neu aufzustellen und dessen Streben nach strategischer Diversifizierung zu unterstützen, um von Russland größere Unabhängigkeit zu erlangen.

Abstract:

Minsk is not seriously interested in European integration. Lukaschenka has merely been capitalizing on Brussels' competitive relationship with Moscow by turning to the EU as a bargaining chip with the Kremlin. The Ukraine Crisis has not served as a game changer because Belarus remains structurally dependent on Russia. However, the Ukraine Crisis has helped Lukashenko to consolidate his power, while the current economic crisis reinforced Minsk's motivation to diversify its foreign relations. Lukashenko's renewed confidence and Belarus' dire need for economic restructuring have opened the door for the West to reframe its Belarus policy and to enable Belarus achieving strategic diversification on its way towards greater independence from Russia.

1 Einführung

Der seit 1994 regierende Präsident von Belarus Aljaksandr Lukaschenka hat die Grundprinzipien der Außenpolitik seines Landes im Jahr 2008 wie folgt beschrieben:

„Die Außenpolitik von Belarus basiert auf drei Grundprinzipien: politische Souveränität, wirtschaftliche Offenheit und gleiche partnerschaftliche Beziehungen zu anderen Ländern. Die ‚Goldene Regel' unserer Außenpolitik bleibt Multivektorialität […]. Wir sind sehr daran interessiert, mit dem Westen zusammenzuarbeiten, vor allem mit der EU […].“[1]

Lukaschenka hat diese Strategie bisher nicht ernsthaft verfolgt. Zwar hat sich seine Regierung zeitweilig dem Westen zugewandt, um Druck auf Moskau auszuüben, aber Belarus bleibt strukturell von Russland abhängig. Lukaschenka unterhält engere Beziehungen zu Moskau als zu Brüssel. Obwohl die Ukraine-Krise die strategische Situation von Belarus nicht grundlegend geändert hat, haben die Ereignisse Lukaschenka die Möglichkeit geboten, seine Macht intern zu festigen und extern etwas mehr Spielraum zu gewinnen. Die gegenwärtige Wirtschaftskrise, die mindestens teilweise auf die Sanktionen des Westens gegenüber Russland zurückzuführen ist, hat dabei bewirkt, dass in Minsk die Motivation zur Diversifizierung der belarussischen Außenbeziehungen gestiegen ist.

Auf diese Entwicklung könnte der Westen – Europa und die USA – mit einer Öffnung gegenüber Belarus reagieren und dabei Lukaschenka als Partner und Belarus als ein unabhängiges Land behandeln, ohne dessen enge Partnerschaft mit Russland infrage zu stellen. Das belarussische Streben nach größerer Unabhängigkeit und die Versuche, sich wirtschaftlich und politisch zu diversifizieren, könnten Europa und die USA durch eine engere Zusammenarbeit mit dem land in between unterstützen. Wie weit kann der Westen dabei gehen? Und wo sollten die Schwerpunkte liegen?

Diese Fragen werden in drei Schritten beantwortet: Im ersten Abschnitt wird zunächst die außenpolitische Strategie von Belarus dahingehend analysiert, ob und inwieweit Lukaschenkas Engagement mit Blick auf den Westen ein Streben nach Unabhängigkeit oder nur ein taktisches Manöver gegenüber dem Kreml darstellt. Während sich der zweite Teil auf die Konsequenzen der Ukraine-Krise für Belarus und Lukaschenkas Politik konzentriert, werden anschließend die Chancen für Europa und die USA für den Fall aufgezeigt, dass sie ihre Politik gegenüber Minsk neu aufstellen wollen.

2 Die strukturelle Abhängigkeit vom Kreml

Von allen postsowjetischen Staaten bleibt Belarus wohl am stärksten mit Russland verbunden. Als Lukaschenka 1994 an die Macht gekommen ist, institutionalisierte er seine politischen, militärischen und wirtschaftlichen Beziehungen zum Kreml, insbesondere durch die Mitgliedschaft in der Russisch-Weißrussischen Union, der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) und der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU).

Die enge Beziehung zu Moskau wird oft durch die gemeinsam empfundene Bedrohung einer expandierenden NATO nach Osteuropa erklärt.[2] Die These in diesem Aufsatz lautet, dass die Allianz zwischen Belarus und Russland auf einer anderen Grundlage steht: Zum einen ist Belarus aufgrund der früheren Integration aus der Sowjetzeit wirtschaftlich und gesellschaftlich auf das Engste mit Russland verbunden. Zum anderen verfolgt Lukaschenka primär die Ziele des Machterhalts und der Maximierung der damit verbundenen ökonomischen Erträge. Diese Ziele erscheinen ihm am besten erreichbar durch die politische und wirtschaftliche Unterstützung des „großen Bruders“. Die Beziehungen zum Westen dienen immer nur als Hebel, um von Moskau Zugeständnisse zu erhalten.

Lukaschenkas Motivation, sich mit Russland zu verbünden, führte zur Gründung der Russisch-Weißrussischen Union, einem einzigartigen Konstrukt eines vagen politischen Bündnisses, in dem sich beide Länder gegenseitig diplomatisch unterstützen. Diese Union ist faktisch eine militärische Allianz mit einem gemeinsamen Kommando. Heute ist das belarussische Heereskommando vollständig in das russische integriert, der Kreml kontrolliert formal die belarussische Luftwaffe.[3] Die Streitkräfte des Landes sind de facto Teil des russischen Militärs, im Falle eines militärischen Einsatzes als Folge westlicher Aggression würde Russland die belarussischen Kräfte als Teil seiner Truppen behandeln.[4] Russland unterhält zwei militärische Einrichtungen – aber keine formellen Basen – auf belarussischem Boden[5] und die Verteidigungsindustrie von Belarus bleibt strukturell von Russland abhängig, da die Firmen größtenteils auf die Rolle als Subunternehmer beschränkt sind[6]. Die russische Kontrolle über das Militär wird allerdings durch die belarussische Verfassung eingeschränkt, die einen Einsatz der eigenen Streitkräfte im Ausland verbietet.[7]

Neben der militärischen besteht auch eine starke ökonomische Abhängigkeit von Russland. Etwa 40 Prozent der belarussischen Exporte gehen dorthin.[8] Ganze Industriezweige, wie der landwirtschaftliche Maschinenbau, sind abhängig von der Nachfrage aus Russland. Beispielsweise konnte Belarus im Jahr 2011 Traktoren für über 870 Milliarden US-Dollar – etwa 6 Prozent der gesamten Exporte – an Russland verkaufen, weil den Landwirten dort günstige Leasingbedingungen angeboten werden. Auch stellen russische Banken Vorzugskredite für Unternehmen zur Verfügung, die belarussische Industrieprodukte erwerben. Diese Banken kontrollieren zudem ein Viertel des belarussischen Bankensektors und bleiben die wichtigste Devisenquelle für das Land. Darüber hinaus werden große Teile der belarussischen Petrochemie- und Telekommunikationssektoren von russischen Institutionen kontrolliert.[9]

Die belarussische Abhängigkeit ist vor allem auch im Energiesektor sichtbar, zumal Russland seinen Einfluss 2011/2012 noch vergrößert hat, indem es sich exklusive Rechte für die Erdgasversorgung und die Kontrolle über das Transit- und Verteilungssystem gesichert hat. Allerdings muss hinzugefügt werden, dass Belarus noch den größten Anteil seiner Öl-Infrastruktur besitzt.[10] Russland hat aber ein Monopol auf belarussische Gasimporte und kontrolliert 90 Prozent der Ölversorgung.[11] Der russische Gaskonzern Gazprom verwaltet fast das gesamte Pipelinenetz in Belarus[12] und Russland hat den Bau des einzigen belarussischen Atomkraftwerks übernommen, das 2019 in Betrieb gehen soll[13]. Während Russland durch den Bau der Nord-Stream-Pipeline seine Abhängigkeit von belarussischen Transitrouten abbauen konnte, war Belarus bis jetzt nicht in der Lage, seine Energieversorgung zu diversifizieren. Obwohl durch den Erwerb von Öl aus Venezuela sowie indirekt durch einen Tauschmechanismus mit Aserbaidschan in den Jahren 2010 und 2011 das russische Ölmonopol in Belarus zum ersten Mal brach, erwies sich die Diversifikation als wirtschaftlich nachteilig.[14]

Das russische Engagement unterstützt zwar die belarussische Wirtschaft und die politische Führung, aber durch die asymmetrische Abhängigkeit verfügt Russland über einen starken Hebel, um auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Landes Einfluss nehmen zu können. Diese Abhängigkeit wurde während der Energiestreitigkeiten in den Jahren 2004, 2007, 2010 und 2016 sichtbar. Die Ereignisse zeigten, dass der Kreml politische Prozesse in Belarus durch seinen Einfluss in der Wirtschaft sowie auf die Zivilgesellschaft und die politischen Eliten indirekt lenken kann.[15] Schließlich besitzt die russische Führung die Fähigkeit, ganze Teile der belarussischen Wirtschaft in Konkurs zu treiben und den Belarussen im Winter die Heizung abzudrehen. Daher wird Russland auch weiterhin die wichtigste Rolle im geopolitischen Kalkül Lukaschenkas spielen.

2.1 Dem Bären die kalte Schulter zeigen: Lukaschenkas Verhandlungsspiele

Die Abhängigkeit vom Kreml stellt für Belarus als Land und für Lukaschenka als Präsidenten ein klares Risiko dar. Um den Integrationsprozess mit Russland zu begrenzen, hat er rote Linien gezogen – zum Beispiel als er Putins Vorschlag von 2003 ablehnte, die sechs belarussischen Oblasten nach Vorbild der deutschen Wiedervereinigung in eine erweiterte Russische Föderation zu integrieren.[16] Auch entschied er sich gegen ein gemeinsames Währungsprojekt mit Moskau, obwohl er dieses anfänglich im Jahr 2000 als politisches Ziel erklärt hatte.[17]

Lukaschenka verfolgt also nicht das Ziel, den Integrationsprozess mit Russland voranzutreiben, sondern durch eine Allianz wirtschaftliche Gewinne zu erzielen und zugleich die Sicherheit und Unabhängigkeit von Belarus zu maximieren. Diese Politik dient seinem Streben, an der Macht zu bleiben und die eigenen Privilegien zu bewahren. Bislang ist ihm dies gelungen, weil er die Allianz mit dem Kreml für sich zu nutzen versteht und sich zugleich der Westen immer wieder mehr oder weniger subtil gegen Russland ausspielen lässt. Lukaschenka profitiert dabei von dem zunehmenden Wettbewerbsverhältnis zwischen Russland und dem Westen.

Diese Strategie Lukaschenkas prägt auch die belarussischen Beziehungen zu den pro-westlichen Regierungen der Ukraine und Georgiens. Nach der Invasion Russlands in Georgien weigerte sich Lukaschenka, Abchasien und Südossetien als autonome Regionen anzuerkennen.[18] Während Russland Kiews Annäherung an die EU und NATO als Bedrohung seiner Souveränität einschätzt, hat Belarus die militärische Zusammenarbeit mit der Ukraine im Jahr 2014 aktiv verstärkt. Anders als Russland hat die belarussische Regierung wiederholt erklärt, dass sie den Truppeneinsatz der NATO im Baltikum nicht als Bedrohung betrachtet. Belarus empfing im April 2015 sogar eine Militärdelegation der NATO[19] und unterzeichnete im Dezember 2016 eine Vereinbarung mit Lettland, um die Verteidigungszusammenarbeit zu verbessern[20]. Mit diesen Positionen unterminiert Lukaschenka auf subtile Art seine Allianz mit dem Kreml und stellt damit indirekt auch Russlands revisionistische Politik im postsowjetischen Raum infrage.

Lukaschenkas relativ unabhängige Außenpolitik spiegelt sich in seinen Positionen wider, die von den russischen divergieren. So bot er zum Beispiel während der Revolution in Kirgisistan dem ehemaligen Präsidenten und Russland-Kritiker Kurmanbek Bakijew Asyl an. Als die russische Regierung im November 2015 über den Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs in einen diplomatischen Konflikt mit der Türkei geriet, arbeitete Lukaschenka weiterhin mit der dortigen Regierung zusammen und besuchte im April 2016 sogar den Gipfel der Organisation der Islamischen Zusammenarbeit (OIC) in Istanbul. Im Rahmen der OVKS kritisierte Belarus die Gründung einer schnellen Eingreiftruppe (Collective Operational Reaction Forces) und verzögerte die Entsendung belarussischer Friedenstruppen zu dieser Einheit.[21] Im Jahr 2016 veröffentlichte die Regierung dann eine neue nationale Militärdoktrin und unterstrich, dass sie keine Truppen zu OVKS-Operationen entsenden würde, so auch nicht in die umstrittene Region Bergkarabach, das sowohl vom OVKS-Mitglied Armenien als auch von dessen Nachbar Aserbaidschan beansprucht wird.[22]

Die russischen Medien verurteilten Lukaschenkas Politik, berichteten von einem wachsenden Gefühl von „Russophobie“ in Belarus und schlossen Ukraine-ähnliche Szenarien nicht aus.[23] Um Druck auf die Regierung auszuüben, initiierte der Kreml einen neuen Gasstreit, indem er die belarussische Forderung nach einer Preisreduzierung trotz fallender Gaspreise ablehnte. Daraufhin beschloss Lukaschenka für sein Land, weniger für die Gasimporte zu bezahlen, sodass es bis zu Beginn 2017 425 Millionen US-Dollar an Schulden anhäufte. Als Reaktion verringerte Russland seine Rohöllieferungen, was Belarus finanziellen Schaden zufügte, da es auf die Raffinierung von Rohöl und den Weiterverkauf der verfeinerten Ressource ökonomisch angewiesen ist. Der Rohölimport aus Aserbaidschan konnte das Defizit nicht ausgleichen und Russland wird seine Ölversorgung voraussichtlich bis zu dem Zeitpunkt weiter senken, an dem Belarus bereit ist, die Schulden zu bezahlen.[24]

Alena Vysotskaya Guedes Vieira beschreibt, dass das Verhalten der Regierungen in Moskau und Minsk auf ein Sicherheitsdilemma innerhalb der Allianz zurückzuführen sei. Basierend auf Glenn H. Snyders Theorien zu internationalen Allianzen geht sie davon aus, dass jede Seite Zweifel an der Zuverlässigkeit des anderen Partners habe. Belarus fürchte zudem, in die Konflikte Russlands hereingezogen zu werden.[25] Wenn Lukaschenka erkenne, dass er vom Kreml im Stich gelassen oder in einen Konflikt mit Dritten hineingezogen werden könnte, reduziere er seine Unterstützung für die Allianz, indem er die Position des Kremls in einer bestimmten Angelegenheit infrage stelle.

Beispiele sind seine eigenen Positionen zur Ukraine-Krise oder zum Krieg Russlands mit Georgien und seiner gleichzeitigen Annäherung an den Westen. Damit wird zwar eine größere belarussische Unabhängigkeit vorangetrieben, allerdings sind diese Schritte stets durch rhetorische Rückversicherungen gegenüber Russland begleitet, da die Minsker Regierung nicht vorhat, ihre grundlegende strategische Ausrichtung an Russland zu verändern.

Dieses Verhaltensmuster unterstreicht, dass die Verweigerung, der russischen Politik zu folgen, als Verhandlungstaktik eingesetzt wird, um die Beziehungen zum Kreml zu steuern. Sie sollte nicht als ernsthafter Wille verstanden werden, sich dem Westen zuzuwenden.[26] Ähnlichkeiten mit der in einem gewissen Rahmen unabhängigen Politik Rumäniens unter Nicolae Ceaușescu während der Zeit des Ost-West-Konfliktes sind nicht zu übersehen. Aber auch andere postsowjetische Länder lassen vergleichbare Muster erkennen. So stellte Elena Gnedina in ihrer Untersuchung über die Politik postsowjetischer Länder gegenüber der EU fest, dass multivektorielle Außenpolitik generell aus asymmetrischen Verhandlungstaktiken zwischen kleinen Staaten und externen Akteuren über die Konditionen der Zusammenarbeit resultiert.[27]

Die Taktik Lukaschenkas ist aufgrund der großen Abhängigkeit von Russland nicht risikofrei, aber bislang hat er sich nicht so weit hinreißen lassen, dessen Kerninteressen zu verletzen. Diese außenpolitische Strategie hält er seit über zwei Jahrzehnten relativ erfolgreich durch.

2.2 Der Westen als taktisches Druckmittel

Wenn Lukaschenka sich zeitweilig von Russland abwendet, öffnet er sein Land gleichzeitig zum Westen. Das bedeutet aber keine grundlegende Veränderung der strategischen Ausrichtung, denn er setzt nur kurzfristig auf ein Entgegenkommen der EU, wenn er eigentlich die Unterstützung des Kremls sucht. Die wiederkehrenden politischen Umstellungen bieten die Möglichkeit, Unabhängigkeit zu demonstrieren und – zumeist russische – Subventionen für die belarussische Wirtschaft zu maximieren.

Bis in die Mitte der 1990er-Jahre waren die Beziehungen zum Westen noch sehr viel offener. Im Jahr 1995 wurden sogar ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (PKA) und ein vorläufiges Handelsabkommen unterzeichnet. Das Verhältnis verschlechterte sich jedoch, nachdem Lukaschenka 1996 die Verfassung änderte, um sich diktatorische Befugnisse zu erteilen und die Zivilgesellschaft zu zerschlagen. Die EU setzte die Ratifizierung des PKA aus und fror das Interimsabkommen im Jahr 1997 ein. Außerdem beschränkte Brüssel alle politischen Kontakte mit der Minsker Regierung unterhalb der ministeriellen Ebene.[28]

Die Beziehungen zwischen Belarus und der EU blieben für etwa ein Jahrzehnt festgefahren, bis die Europäische Kommission im Jahr 2006 ein non paper[29] veröffentlichte, das einen prinzipiellen Ansatz für den Umgang mit dem „letzten Diktator Europas“ skizzierte und die Minsker Regierung an die Vorteile erinnerte, die es im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik erhalten würde, sobald es gewisse Anforderungen an Demokratisierung und Menschenrechte erfüllte. Die Veröffentlichung des non papers fiel zusammen mit dem, was Elena Korosteleva als die russische Politik der „Pragmatisierung“ bezeichnet: die Umstellung von der bloßen Unterstützung der Verbündeten zu einer Politik, bei der diese Russland international aktiv unterstützen sollen.[30] In der Konsequenz verringerte Russland seine Subventionierung der Energielieferungen an Belarus und leitete darüber einen Streit ein.

Lukaschenka erkannte damals die Gefahren seiner Schaukelpolitik und verbesserte die Beziehungen zur EU, indem er politische Gefangene freiließ und eine Beteiligung der Opposition bei den Parlamentswahlen 2008 ermöglichte. Die Wahl entsprach gleichwohl nicht den OSZE-Standards. Die Zugeständnisse führten zu einer ganzen Reihe von Kooperationsinitiativen: die Aussetzung des Reiseverbots für Lukaschenka und 35 belarussische Offizielle, die Eröffnung einer EU-Vertretung in Minsk, Besuche des Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Javier Solana und der Kommissarin für Außenbeziehungen und europäische Nachbarschaftspolitik Benita Ferrero-Waldner in Minsk, Konsultationen und technische Zusammenarbeit mit der belarussischen Regierung, die Einbeziehung des Landes in die multilateralen Beziehungen der Östlichen Partnerschaft und sogar einen Dialog über Menschenrechtsfragen.[31] Mit dieser Annäherung hatte Lukaschenka ein Druckmittel gegenüber dem Kreml in der Hand. Er erweckte den Eindruck, sich von Moskau abzuwenden und Unterstützung vom Westen zu erhalten. Er erklärte, dass ihn Europa und die USA während des Ölkonflikts mit Russland „anständig behandelt“ hätten. Sie hätten Hilfe und Unterstützung angeboten und das würden die Belarussen ihnen nie vergessen.[32]

Die USA spielten tatsächlich nur eine untergeordnete Rolle bei allen Versuchen der aktiven Einbindung von Belarus. Seit 1997 basiert Washingtons Politik auf dem Grundsatz des selective engagement, um die Demokratie und die Zivilgesellschaft durch die Unterstützung von NGOs zu fördern. Daher war die Zusammenarbeit der US-amerikanischen und der belarussischen Regierung sehr begrenzt, sie beschränkte sich auf Initiativen wie die zur kooperativen Bedrohungsreduktion bei Kernwaffenmaterialien (cooperative threat reduction) oder zur Beseitigung ehemals sowjetischer Massenvernichtungswaffen.

Im Gegensatz zu der Annäherung zwischen Belarus und der EU verschärfte die US-Regierung ihre Sanktionen gegenüber einem belarussischen staatlichen Petrochemie-Unternehmen im Jahr 2008, woraufhin Lukaschenka seinen Botschafter aus Washington zurückzog und die USA zwang, ihren Botschafter aus Minsk abzuberufen sowie das Botschaftspersonal von 35 auf 5 Diplomaten zu verkleinern. Seitdem sind die USA mit einem Chargé d'affaires ad interim in Minsk vertreten.[33] Nachdem es Fortschritte in Belarus in Fragen der Menschenrechte gab, schlossen sich die USA dennoch der EU bei der Aussetzung einiger Sanktionen an.[34]

Das Ende der Annäherung zwischen Belarus und dem Westen kam aber 2010, nachdem Lukaschenka anlässlich der Präsidentschaftswahlen die Oppositionsparteien massiv behindert hatte und acht der neun Oppositionskandidaten verhaften ließ.[35] Die EU verhängte daraufhin erneut zielgerichtete Sanktionen gegen ihn und weitere belarussische Offizielle.

Balázs Jarábik, Jana Kobzova und Andrew Wilson beschreiben, dass Lukaschenka durch die vorübergehende Umstellung seiner Ausrichtung von Osten nach Westen sowie durch die gleichzeitige Annäherung an dritte Parteien eine „neo-titoistische“ Strategie entwickelt habe, die primär dem Ziel diene, Zugeständnisse aus Moskau zu extrahieren.[36] Dabei habe die Minsker Regierung große Fähigkeiten gezeigt, sich mit der EU zu arrangieren und weitere Akteure – angefangen vom IWF und der Weltbank bis hin zu Baku, Peking, Caracas, Doha und Teheran – in seinen Pool von Gläubigern und Investoren einzubeziehen.

Die Diversifizierung als Verhandlungsstrategie gegenüber Russland wurde durch die Zusicherung an Russland ergänzt, die Allianz aufrechtzuerhalten. Nachdem die EU ihre Zusammenarbeit mit Belarus als Folge der zivilgesellschaftlichen Niederschlagungen ausgesetzt hatte, konnte sich Minsk wieder dem Kreml zuwenden. Nur wenige Tage nach den Wahlen von 2010 ratifizierte Belarus 18 Verträge über die Schaffung des Gemeinsamen Wirtschaftsraums mit Russland und Kasachstan.[37]

3 Die Ukraine-Krise: eine Chance für den Neuanfang

Seit Beginn der Ukraine-Krise ist zu beobachten, dass Lukaschenka seine Verhandlungstaktik erneut einsetzt: Er nähert sich dem Westen an und fördert die belarussische Unabhängigkeit, um den Einfluss Russlands zu beschränken und damit seine Position intern und extern zu festigen.

3.1 Balanceakt der Neutralität

Der Ukraine-Konflikt brachte Lukaschenka in eine heikle Situation, weil die Ukraine als slawischer Bruder gilt und den zweitgrößten Markt für belarussische Waren darstellt.[38] Während es nicht im belarussischen Interesse ist, die Beziehungen zur Regierung in Kiew zu beschädigen, musste das Land andererseits der Tatsache Rechnung tragen, dass die Annexion der Krim ein Kerninteresse des Kremls war. So beruhigte Lukaschenka beide Seiten, indem er die pragmatische Haltung einnahm, die Krim als Teil von Russland anzuerkennen und gleichzeitig die Legitimität der pro-europäischen Regierung in Kiew zu bestätigen. Lukaschenka wiederholte Putins Argument, dass Russland keine andere Möglichkeit habe, um die Rechte der russischsprachigen Bevölkerung durchzusetzen. Er behauptete auch, dass die Ukrainer ihr Land nicht verteidigten und man die Krim deshalb als Teil Russlands anerkennen solle.[39] So gehörte Belarus zu den elf Staaten, die den Kreml unterstützten, indem sie gegen die Resolution 68/262 der UN-Generalversammlung stimmten, die den Volksentscheid auf der Krim im Jahr 2014 für ungültig erklärte.[40]

Im Gegensatz zu Putin legitimierte Lukaschenka die neue Führung der Ukraine nach der Maidan-Revolution, indem er der Amtseinführung des Präsidenten Petro Poroschenko beiwohnte. Er stellte die russische Position infrage, nach der die neue Kiewer Regierung nicht anzuerkennen sei, und versicherte, diese würde den Willen der ukrainischen Bevölkerung widerspiegeln. Mit der Anerkennung der neuen ukrainischen Regierung stellte er sich sogar gegen weite Teile der eigenen Bevölkerung, die zur Hälfte die Regierung in Kiew als „faschistisch“ einstuft.[41]

Indem er gleichzeitig die territorialen Forderungen des Kremls und die Legitimität der pro-europäischen Regierung in Kiew unterstützte, hielt Lukaschenka seine Unterstützung für die russische Regierung selektiv zurück. Um dennoch seine Treue zur Allianz zu bekräftigen, betonte er, dass er sich, müsste er sich entscheiden, entweder die neue Führung der Ukraine oder das Referendum auf der Krim anzuerkennen, dem Kreml anschließen würde.[42] Damit meinte er, seine eigene Fähigkeit zur Entscheidungsfindung zu demonstrieren, verhinderte einen offenen diplomatischen Konflikt mit Kiew und bestätigte sein Bekenntnis zur Allianz mit Russland.

3.2 Förderung der belarussischen Unabhängigkeit

Das Verhalten Russlands gegenüber der Ukraine musste bei Lukaschenka die Sorge wecken, dass Moskau versuchen könnte, auch die Souveränität von Belarus infrage zu stellen. Er reagierte, indem er die nationale belarussische Identität herausstellte und förderte. Im Jahr 2015 hielt er zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten eine Rede in belarussischer Sprache und erklärte 2016 zum Jahr der belarussischen Kultur.[43] Er nahm nicht an der Feier zum Tag des Sieges am 9. Mai 2015 in Moskau teil, sondern besuchte stattdessen den Russlandkritiker, ehemaligen georgischen Präsidenten und damaligen Gouverneur von Odessa Mikheil Saakaschwili.[44] Er forderte sein Komitee für Staatssicherheit auf, Einzelpersonen und Gruppen zu überwachen, die sich gegen die angebliche Verletzung der Rechte von ethnischen Russen in Belarus engagieren.[45] Zudem verbot er dem panslawischen Belarussischen Slawischen Komitee, sich weiter als politische Partei zu etablieren, um zu verhindern, dass sich dezidiert russische Kräfte am politischen Prozess beteiligen.[46]

In Lukaschenkas Präsidentschaftswahlkampf im Jahr 2015 trat der altbekannte Slogan, wonach er sich auf die Steigerung des Wohlstands konzentrieren wolle, zurück.[47] Er betonte die Notwendigkeit der Einheit des belarussischen Volkes und schlug vor, aus Fehlern zu lernen, die von den Nachbarn begangen worden seien.[48] Lukaschenka kritisierte Putins „Sammeln russischer Länder“, denn dieser solle lieber diejenigen kultivieren, die sich bereits in seinem Besitz befinden würden.[49] In seiner Rede zur Lage der Nation im April 2014 verkündete der belarussische Präsident, dass es seine wichtigste Aufgabe sei, die Unabhängigkeit des Landes zu verteidigen.[50] Während er ein Ukraine-ähnliches Szenario in Belarus ausschloss, äußerte er zugleich Bedenken gegenüber den russischen Aktionen und unterstrich die Bereitschaft, für die Unabhängigkeit seines Landes einzustehen: „Stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn uns morgen jemand Paliessie [eine südliche Region von Belarus] wegnehmen würde. Was wäre meine Reaktion und die unserer Leute? Wir würden für jedes Stück unseres Landes kämpfen.“[51] Diese Bemerkungen stehen in Einklang damit, dass Lukaschenka einen offiziellen Diskurs vorantreibt, in dem die belarussische Souveränität unterstrichen und Kritik an Russland geübt wird.

Lukaschenkas Politik ist keine reine Rhetorik. Dies zeigte sich, als er sich gegen die weitere Integration seines Landes mit Russland für den Fall aussprach, dass daraus kein konkreter wirtschaftlicher Vorteil entsteht. Am Vorabend der Unterzeichnung des Gründungsvertrags der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) im Mai 2014 stellte er Putins Prestigeprojekt infrage, weil Russland die Pläne der Schaffung eines gemeinsamen Energiemarktes bis 2025 verzögern wollte. Schließlich unterzeichnete Lukaschenka den Vertrag doch und im Gegenzug erhielt sein Land von Russland ein Darlehen in Höhe von 2,5 Milliarden US-Dollar und die Zusage einer Absenkung der Zölle für Öllieferungen in Höhe von etwa 1,5 Milliarden US-Dollar.[52]

Trotz dieses lukrativen Zugeständnisses verhinderte Lukaschenka die weitere bilaterale Integration. Obwohl die belarussische Luftwaffe ihren Verpflichtungen im Rahmen des einheitlichen Luftverteidigungssystems mit Russland nicht nachkommt, weigerte er sich, einen russischen Luftwaffenstützpunkt auf belarussischem Territorium zu akzeptieren und modernisierte stattdessen die eigenen Streitkräfte.[53] Die Regierung in Minsk folgte Putin außerdem nicht bei der Umsetzung der Sanktionen von Nahrungsmitteln aus dem Westen, woraufhin Russland Nahrungsmittelimporte aus Belarus zeitweise verbot und das Land verdächtigte, illegal mit neu etikettierten westlichen Nahrungsmitteln zu handeln.[54] Währenddessen hat Belarus seine Zollkontrollen wiederhergestellt, was die Zollunion mit Russland praktisch aufhebt.[55] Diese Beispiele unterstreichen, dass Lukaschenka auf maximale Gewinne abzielt und nur dann zu einer weiteren Zusammenarbeit mit Russland bereit ist, wenn er dafür konkrete Zugeständnisse erhält.

3.3 Erneute Annäherung an den Westen

Ähnlich wie in den Jahren 2008 bis 2010 stärkte Lukaschenka in den zurückliegenden Jahren seine Position gegenüber Moskau, indem er Zugeständnisse an den Westen machte, die als Beginn einer Vertiefung der Zusammenarbeit mit der EU und den USA interpretiert werden sollten. Erneut war die Freilassung gefangener Oppositionsführer ein relativ bequemes Zeichen. Während der Ukraine-Krise ließ Lukaschenka den prominenten Menschenrechtsverteidiger Ales Byalyatski (Juni 2014) und den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Mikola Statkevich sowie weitere Oppositionelle frei (August 2015). Im Juli 2015 nahm Belarus sogar den Menschenrechtsdialog mit der EU wieder auf.[56] Die Präsidentschaftswahlen im Oktober 2015 verliefen friedlich und OSZE-Beobachter lobten Lukaschenka für sein Engagement zur Einhaltung der OSZE-Standards – obwohl diese nicht voll erfüllt wurden.[57] Nach der Parlamentswahl im September 2016 ließ er zu, dass zwei Oppositionskandidaten in das Parlament einziehen konnten, womit er eine positive Botschaft an Brüssel sendete.

Die Durchsetzung von minimalen demokratischen Standards in den Präsidentschaftswahlen 2015 führte dazu, dass die EU erstmals vorübergehend und später dauerhaft ihre Sanktionen gegen belarussische Unternehmen und Offizielle aussetzte. Die Waffenembargos blieben erhalten. Belarus und die EU haben ihre Gespräche über die Visaliberalisierung fortgesetzt, und im Januar 2017 erklärte Lukaschenka einseitig die Visaliberalisierung für Besucher aus über 80 Ländern, die für einen Zeitraum von maximal fünf Tagen nach Belarus reisen. In der Erwartung, seine Wirtschaft zu diversifizieren und den Handel mit der EU ausbauen zu können, initiierte die Minsker Regierung Konsultationen mit mehreren EU-Generaldirektionen über Modernisierung, technische Vorschriften und Grenzsicherheit. Im April 2016 wurde eine EU-Belarus-Koordinationsgruppe gegründet, die zweijährlich die Zusammenarbeit abklärt. Eingeleitet wurde auch ein Handelsdialog, eine erste Gesprächsrunde mit der Delegation der Europäischen Kommission fand im Oktober 2016 in Minsk statt. Das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK) des Rates der EU besuchte Belarus im November 2016. Obwohl sich der belarussische Außenminister Uladzimir Makei schon für die Formalisierung der Zusammenarbeit durch einen grundlegenden Vertrag mit der EU – ein Rahmendokument, das Brüssels Beziehungen mit anderen postsowjetischen Ländern regelt – ausgesprochen hat, ist die EU noch zurückhaltend.

Die Kooperationsinitiativen wurden von Staatsbesuchen begleitet. Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident François Hollande trafen sich in Minsk im Normandie-Format, um Lösungen für die Ukraine-Krise zu diskutieren. Lukaschenka besuchte Rom im Mai 2016 und Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn fuhr im September 2016 nach Minsk. Der belarussische Außenminister Makei reiste im Oktober 2016 nach Warschau und Polens stellvertretender Ministerpräsident Mateusz Morawiecki stattete einen Gegenbesuch ab. Allein im September und Oktober 2016 trafen sich belarussische Offizielle mit Vertretern aus über 30 Staaten, von China über Pakistan bis nach Namibia. Es ging zumeist um die Suche nach neuen Exportmärkten und Direktinvestitionen aus dem Ausland.

Nach Jahren eisiger Beziehungen reiste der Staatssekretär des US-amerikanischen Außenministeriums Patrick Kennedy im September 2015 in die belarussische Hauptstadt. Nur ein Jahr später traf Makei den stellvertretenden Leiter für Internationale Sicherheit des Pentagons Michael Carpenter in New York, um über eine Zusammenarbeit in der Verteidigung zu beraten. Der Chargé d'affaires Scott Rauland initiierte den Besuch des Jazz-Ensembles der US Air Force Band im Juni 2016, um Konzerte in Belarus zu geben und die kulturelle Diplomatie zu fördern. Und nachdem die US-Sanktionen bereits im Jahr 2015 teilweise abgemildert worden waren, gab die Leiterin des Büros für europäische und eurasische Angelegenheiten im Außenministerium Bridget Brink während eines Briefings in Minsk im Oktober 2016 bekannt, dass die USA ihre Sanktionen für neun belarussische Unternehmen für weitere sechs Monate suspendieren würden. Dies deutet auf ein größeres US-amerikanisches Engagement in der Region hin, was Lukaschenka positiv aufnahm, da er sich schon für eine größere Rolle der USA bei der Lösung der Ukraine-Krise ausgesprochen hat.[58]

Die Wahl von US-Präsident Donald Trump wurde nicht nur von Lukaschenka begrüßt, der sagte, dass dieser in der Lage sei, „Geschichte zu schreiben“[59], sondern auch von vielen Belarussen. Sie brüsten sich damit, dass Trumps Schwiegersohn Jared Kushner Nachkomme von Holocaust-Überlebenden aus der belarussischen Stadt Navahradak ist. Es bleibt spekulativ, wie die neue Trump-Administration ihre Beziehungen mit Belarus handhaben wird. Aber in weiten Teilen des US-Kongresses ist die Skepsis gegenüber Belarus groß, weshalb es nicht einfach sein wird, die verbliebenden Sanktionen aufzuheben. Eher wird es möglich werden, wieder einen US-Botschafter in Minsk zu etablieren.

Zwar signalisiert Belarus mit der Annäherung an Europa und die USA eine gewisse Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Aber Lukaschenka strebt auch weiterhin keine intensivere Kooperation mit der EU an. Innere und äußere politische Faktoren, wie eine relativ isolierte Gesellschaft, fehlende demokratische Traditionen, eine schwache Opposition und die von Russland gesetzten außen- und sicherheitspolitischen Grenzen, würden dafür auch keine optimalen Bedingungen bieten.

3.4 Lukaschenkas Machtkonsolidierung

Die Maidan-Revolution und die aggressive Einstellung Russlands gegenüber dem Westen haben die politische Lage für Belarus verändert. Innenpolitisch bietet die derzeitige Situation Lukaschenka die Möglichkeit, sich als Garanten für Stabilität und Unabhängigkeit darzustellen. Gemäß seinem Narrativ würden sich unter seiner Führung derart dramatische Veränderungen wie in der Ukraine (und die damit verbundene militärische Intervention Russlands) nicht ereignen. Dieses Narrativ scheint zu wirken. Oleg Manaev, Gründer des Unabhängigen Instituts für sozioökonomische und politische Studien (IISEPS), argumentiert, dass die politischen Ansichten der belarussischen Bevölkerung maßgeblich durch die Ukraine-Krise beeinflusst worden seien. Für viele Belarussen sei die Ukraine ein Beispiel für Schrecken statt für Hoffnung.[60] Von daher habe sich Lukaschenkas innenpolitische Lage verbessert.

Im Februar und März 2017 protestierten Regimekritiker zum ersten Mal seit Jahren wieder, Dutzende wurden festgenommen. Auf eine breite Unterstützung in der Bevölkerung schienen sie nicht zählen zu können, denn weniger als zehn Prozent der Belarussen sollen Proteste gegen die politische Führung für realistisch und wünschenswert halten.[61] Die Oppositionskandidatin für die Präsidentschaftswahl 2015 Tatjana Karatkevich forderte nicht einmal einen Machtwechsel, um sich von den ukrainischen Regimekritikern abzugrenzen und nicht mit der Maidan-Revolution in Zusammenhang gebracht zu werden.[62] Dieser Wandel von einer revolutionären zu einer evolutionären Rhetorik der Opposition spiegelt den Wunsch der Bevölkerung nach politischer Stabilität wider, weshalb die Vorwahlen und unabhängige Messungen der Wahlergebnisse darauf hindeuten, dass Lukaschenka die Wahl im Oktober 2015 auch ohne Betrug mit 60 Prozent der Stimmen gewonnen hätte.[63]

Die Wahl von zwei Oppositionskandidaten bei den Parlamentswahlen im Jahr 2016 sollte als symbolische Konzession Lukaschenkas angesehen werden, nicht als Zeichen für eine ernsthafte Bereitschaft zur Reform der politischen Landschaft. Es wäre auch übertrieben, Konzessionen zugunsten der Menschenrechte als eine echte Anstrengung zu interpretieren, um den westlichen Standards gerecht zu werden. Aber Lukaschenka hat zumindest seine Bereitschaft gezeigt, mit dem Westen zusammenzuarbeiten. Dies hilft ihm in seinem Bemühen, aus dem Visier europäischer Menschenrechtspolitik zu gelangen und sich als „latenter“ Partner für den Westen zu etablieren. Neben der innenpolitischen Machtkonsolidierung gewann Lukaschenka zudem internationale Legitimität als Vermittler in der Ukraine-Krise, als er die Friedensgespräche in Minsk ausrichtete.

3.5 Ökonomische Turbulenzen

Mit realen Löhnen, die über fünfzig Prozent höher liegen als in der benachbarten Ukraine, gilt Belarus für viele weiterhin als Vorbild unter den postsowjetischen Volkswirtschaften. Aber der russische Konjunkturabschwung infolge der westlichen Sanktionen und des niedrigen Ölpreises sowie der Gasstreit mit Russland haben für das Land schwerwiegende Konsequenzen. Es musste seine Währung abwerten und Kapitalkontrollen verhängen.[64] Die Wirtschaftsleistung ist im Jahr 2015 um 3,9 Prozent und im Jahr 2016 um etwa 3 Prozent gesunken[65] und wird im Jahr 2017 voraussichtlich weiter abnehmen[66] – die Situation lässt sich mit der in Russland vergleichen, ist aber immer noch besser als die in der Ukraine.

Der Außenhandel ist seit 2014 um über ein Drittel zurückgegangen, vor allem wegen der Abhängigkeit von Russland als wichtigstem Handelspartner.[67] Die Mitgliedschaft in der EAWU hat sich dabei nicht als hilfreich erwiesen, denn die Ausfuhrgeschäfte nach Kasachstan, Kirgisistan und Armenien stellen nur 2,5 Prozent, 0,25 Prozent und weniger als 0,01 Prozent der gesamten belarussischen Exporte dar. Sie bieten wenig Potenzial, um den Handel innerhalb der Wirtschaftsunion zu erweitern.[68] Das könnte auch als Grund gelten, warum Lukaschenka nicht am EAWU-Gipfel in St. Petersburg im Dezember 2016 teilnahm und lieber in Minsk blieb, um Möglichkeiten zu erörtern, externe Finanzierungen zu gewinnen.[69]

Die ökonomische Lage setzt Lukaschenka unter Druck. Er muss die Wirtschaft reformieren, die weiterhin weitgehend von der Regierung kontrolliert wird, und dafür Geldgeber finden. Die Bemühungen, „frisches“ Geld von Moskau zu erhalten, sind in den vergangenen Jahren nur teilweise erfolgreich verlaufen. Anfang 2015 benötigte Belarus ein Darlehen in Höhe von 2,5 Milliarden US-Dollar, es wurden jedoch nur 110 Millionen US-Dollar im April und 760 Millionen US-Dollar im Juli des Jahres gewährt.[70] Angesichts der relativ niedrigen Ölpreise, der andauernden westlichen Sanktionen und des kostspieligen russischen Engagements in Syrien sowie der Folgekosten der Annexion der Krim sind die Aussichten auf weitere russische Kredite nicht besonders gut.

Als Lukaschenka in den Jahren 2008 bis 2010 dem Kreml den Rücken zukehrte, war er weniger abhängig von ausländischer Hilfe, denn Belarus hatte die damalige globale Finanzkrise relativ unbeschadet überstanden.[71] Heute leidet das Land aber unter den Folgen einer massiven Wirtschaftskrise. Daher muss Lukaschenka auch westliche Institutionen als Kapitalgeber in Erwägung ziehen. Dies würde allerdings ernsthafte Strukturreformen statt nur vorübergehender Zugeständnisse erfordern.

4 Die politischen Chancen

Die bisherige Analyse zeigt, dass Belarus heute eine ähnliche Politik wie zwischen 2008 und 2010 verfolgt: Das Land nähert sich dem Westen an, um seine Verhandlungsposition gegenüber Moskau zu stärken. Man könnte argumentieren, dass Belarus tatsächlich nach Unabhängigkeit von Russland strebt, aber es ist fraglich, ob ein solcher Schritt aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeit möglich ist. Auch ist keinesfalls gesichert, dass die jüngste Öffnung gegenüber dem Westen so interpretiert werden kann, dass Lukaschenka durch die westliche Politik der Sanktionen und der Konditionalität geläutert ist. Europas letzter Diktator hat seine Macht in den vergangenen Jahren eher festigen können. Wie schon zuvor dient denn auch sein verstärktes Engagement mit Blick auf den Westen hauptsächlich dazu, mehr Verhandlungsspielraum gegenüber Putin zu gewinnen. Für die Regierung in Minsk bleibt die westliche Integration – und sei es auch nur im Sinne einer engen Anlehnung an die EU – nach wie vor unnötig und ungerechtfertigt.

Dennoch sollten die EU und USA die Gunst der Stunde nutzen, um ihre Strategien gegenüber Belarus neu zu definieren. Die wirtschaftliche Lage und Unsicherheit über Russlands weitere Ambitionen bieten Spielraum, um die belarussische Politik zu beeinflussen. Dazu sollten aber realistische Angebote definiert werden.

Zunächst ist es entscheidend, die Ziele des Westens in der Region zu klären und Optionen zu entwickeln, wie man die belarussische Allianz mit Russland schwächen könnte. Es gibt mindestens zwei Ziele, denen alle westlichen Regierungen zustimmen würden: die Herstellung und Wahrung zwischenstaatlicher Stabilität in den geografisch zwischen der EU und Russland gelegenen Ländern sowie langfristig deren Demokratisierung als Voraussetzung für eine Integration in die europäische Wertegemeinschaft.

Die Stabilität der zwischenstaatlichen Beziehungen sollte zunächst das Hauptanliegen sein, weil die Demokratisierung unter Lukaschenka eher unwahrscheinlich ist. Eine Regimewechselpolitik wäre außerdem eine brenzlige Strategie, die eine instabile Lage zur Folge haben und vom Kreml zur Begründung für eine militärische Intervention ausgenutzt werden könnte. Stattdessen sollten Europa und die USA die Minsker Führung bei der strategischen Diversifizierung ihrer Außenpolitik unterstützen und damit die Voraussetzungen für allmähliche demokratische Reformen schaffen. Dies müsste mit Strukturreformen in der belarussischen Wirtschaft einhergehen, die vor allem in Richtung Privatisierung und Entflechtung weisen. Ausgehend von einer unabhängigen belarussischen Identität könnte sich dann das Land aus der engen Verflechtung mit Russland lösen. Wie zuvor beschrieben, wird aber die belarussische Gegenwart weiterhin durch die starke Bindung an Russland geprägt. Zudem bietet der Kreml nach wie vor die besten finanziellen Renditen und akzeptiert Lukaschenkas autoritären Führungsstil. Der Westen könnte nicht die gleichen Konditionen bieten, durchaus aber die relativen Gewinne für Belarus aus der Zusammenarbeit mit Russland verringern. Dabei sollten differenzierte Strategien zum Einsatz kommen.

4.1 Bewusstsein schärfen und Optionen eröffnen

Ausgehend von der Annahme, dass Lukaschenka mehr Angst vor einer militärischen Invasion durch Russland als durch die NATO haben müsste, könnten Europa und die USA folgende Maßnahmen initiieren:

  1. Sensibilisierung für die Bedrohung durch russische Aggression: Hierzu könnte die Einladung von Vertretern aus Belarus zu Seminaren und Briefings zu russischen Taktiken hybrider Kriegsführung dienen.

  2. Bewusstsein für die hohen Kosten der Allianz mit Moskau schaffen: Die Regierung in Minsk hat allen Grund zu fürchten, dass die Unterstützung der russischen Politik seine Beziehungen zu anderen postsowjetischen Staaten beschädigt. Der Westen könnte seine Partner in Georgien und der Ukraine dazu anhalten, der belarussischen Regierung den Imageschaden näherzubringen, den es bereits in der internationalen Arena erlitten hat, als sie Russland in der UN-Resolution zur Krim-Annexion zur Seite stand. Damit könnte das Verständnis geweckt werden, dass Belarus durch seine Unterstützung Putins oft als schurkischer und unterwürfiger Akteur wahrgenommen wird – ein Image, das nicht hilfreich ist, um Zugang zu internationalen Finanzquellen zu erreichen.

  3. Optionen zur Diversifizierung aufzeigen: Realistische Optionen könnten Belarus dazu motivieren, weitere Schritte zur Unabhängigkeit von Russland zu gehen. So könnte das Land zum Beispiel ähnlich der Ukraine in eine ganzheitliche Strategie der europäischen Energiesicherheit integriert werden. Mittelfristig könnte dies auch die Schaffung von Optionen für den umgekehrten Gasstrom (reverse gas flow) aus Europa und die Verbindung von Belarus mit dem baltischen Flüssiggas-Netzwerk beinhalten. Um den Handel mit Europa zu intensivieren, könnte Litauen einen bevorzugten Zugang zu seinen Häfen bieten. Um die unabhängigen militärischen Fähigkeiten von Belarus zu erhöhen, könnten NATO-Mitglieder Unterstützung bei der Verwaltung von Ausbildung, Logistik und Kommandostruktur auf bilateraler oder multilateraler Basis anbieten. Diese Bemühungen könnten durch Optionen über Europa hinaus flankiert werden, zum Beispiel durch die Zusammenarbeit mit Drittländern bei Investitionen in Infrastrukturentwicklung und Industriezweige.

4.2 Politik der kleinen Schritte verfolgen

Lukaschenka hat bisher eine echte Zusammenarbeit mit dem Westen ausgeschlagen, weil die EU und USA strikte Bedingungen zur Demokratisierung gestellt haben. Um ihn dennoch zur Zusammenarbeit zu motivieren, sollte nicht offensiv ein von außen unterstützter Regimewechsel angestrebt, sondern eine Politik der kleinen Schritte eingeleitet werden, von der sich Lukaschenka zwar nicht unmittelbar in seiner Macht bedroht sieht, die aber längerfristig dem Ziel der Demokratisierung des Landes dient. Das bedeutet im Einzelnen:

  1. Die aktive Unterstützung oppositioneller Politiker überdenken: Bisher hat eine derartige Unterstützung nicht dazu beigetragen, dass sich eine handlungsfähige demokratische Opposition in Belarus etablieren konnte. Lukaschenkas Engagement mit dem Westen würde zudem immer nur begrenzt bleiben, wenn er befürchten muss, durch seine westlichen Partner innenpolitisch destabilisiert zu werden. Allerdings sollten westliche Regierungen und internationale Institutionen direkt mit der Regierung über Menschenrechtsstandards und die Sicherheit der Opposition und der Zivilgesellschaft verhandeln, wie dies mit anderen autoritären Regimen praktiziert wird.

  2. Koordinierung von Messaging- und Kooperationsinitiativen: Ein koordinierter Ansatz zwischen den beteiligten Regierungen und Organisationen des Westens ist eine Voraussetzung, um den Willen für eine Zusammenarbeit mit Lukaschenka zu demonstrieren. Der dazu erforderliche politische Dialog wird schwierig werden, weil nicht nur unterschiedliche Meinungen von verschiedenen Regierungen zu berücksichtigen sind, sondern auch NGOs in diesen Prozess einbezogen werden müssten.[72]

  3. Standards formulieren: Die Kritik an autoritären Herrschern im postsowjetischen Raum sollte einem einheitlichen Standard folgen. Im Gegensatz zu autoritären Herrschern in den meisten postsowjetischen Partnerländern, darunter Kasachstan, Aserbaidschan und Usbekistan, hat der Westen in der Vergangenheit besonders starke Kritik gegenüber Belarus geübt. Zwar ist ein autokratisch geführtes Belarus aufgrund seiner geografischen Lage nicht mit der Vision eines freien Europas in Einklang zu bringen. Diese Rhetorik führt aber nicht dazu, ihn als Partner zu gewinnen.

  4. Auf die Einhaltung der OSZE-Standards bei den Wahlen bestehen: Angesichts der Situation, dass Lukaschenka seine Macht in den vergangenen Jahren konsolidieren konnte, sollte er in der Lage sein, noch mehr Glaubwürdigkeit zu gewinnen, indem er international anerkannte Standards einhält. Der Westen sollte ihm deshalb nahelegen, faire Wahlen zu veranstalten. Dabei handelt es sich um Standards, die im Rahmen der OSZE, das heißt auch unter Mitwirkung von Belarus, festgelegt worden sind.

  5. Vertrauensbildende Maßnahmen auf allen Regierungsebenen initiieren: Westliche Regierungen sollten versuchen, auf unterschiedlichen Ebenen Kontakte mit belarussischen staatlichen Stellen zu intensivieren. Nur so kann Vertrauen aufgebaut werden, das die Grundlage für Regierungs- und Wirtschaftsreformen ist.

  6. Geduld für die Visa-Liberalisierung aufbringen: Die EU sollte in kleinen Schritten auf Visa-Erleichterungen hinarbeiten, da eine Visabefreiung mit der EU politischen Kredit unter der belarussischen Bevölkerung garantieren würde. Zu bedenken ist gegenwärtig, dass die Visabeschränkungen und Isolation der Bevölkerung der internen Stabilität und Machtkonsolidierung Lukaschenkas dienen. Darüber hinaus könnte Belarus Regulierungsprobleme mit Russland über Zoll- und Handelsvereinbarungen riskieren. Deshalb verzichtet Minsk zum Beispiel auf lokale Grenzverkehrsabkommen mit Litauen und Polen und reformiert seine Visumspolitik nur sehr vorsichtig.

4.3 Wirtschaftliche Anreize stärken

Die EU versteht, dass sie mit der Diversifizierung ihrer Energiepolitik die Interessen von Belarus als Transitland untergräbt. Um den absehbaren Einkommensverlust auszugleichen und dem Land zu helfen, seine ökonomische Abhängigkeit von Russland zu mindern, sollte der Westen die folgenden konkreten Modernisierungsreformen anbieten:

  1. Praktisch orientierte Politiker identifizieren, um die Modernisierung des Wirtschaftssystems voranzutreiben: Belarussische Beamte verzögern oft Projekte und verfolgen ihre eigenen Agenden. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, mit Bürokratie und Politik so zu kooperieren, dass die Reformen effektiv umgesetzt und der belarussischen Wirtschaft damit geholfen wird, belastbarer zu werden.

  2. Konditionierte Darlehen anbieten: Um die Folgen der Wirtschaftskrise zu lindern, hofft das Land auf Zugang zu externen Finanzquellen. Die EU und die USA könnten sich als Kreditgeber anbieten und Darlehen an die Umsetzung von marktwirtschaftlichen Reformen und die Einhaltung der Menschenrechte koppeln.

  3. Direktinvestitionen fördern: Europäische Staaten und die USA könnten Anreize schaffen, um in Belarus zu investieren, zum Beispiel durch die Einräumung von Steuervorteilen und die Übernahme von Garantien. Europa und die USA sollten gegenüber der Minsker Regierung argumentieren, dass die Zusammenarbeit mit westlichen Unternehmen – im Gegensatz zu der mit russischen Staatsunternehmen – nicht zur Kontrolle ganzer Geschäftsfelder und der damit einhergehenden politischen Abhängigkeit führt.

  4. Technische Unterstützung anbieten: Der Westen sollte seine Expertise zur Modernisierung des veralteten Regierungsapparates in Belarus anbieten, beispielsweise durch die Unterstützung in den Bereichen Energie, Wissenschaft und Technologie, Umwelt, wirtschaftliche und gesellschaftliche Gleichstellung der Frauen, Steuersystem, Effizienz des Finanzsektors, Patentrechte und öffentliches Beschaffungswesen.

4.4 Das Bestreben nach Unabhängigkeit unterstützen

Eine stärkere Selbstwahrnehmung in der Bevölkerung, dass Belarus ein Land mit eigener Identität ist, könnte mittelfristig die Grundlage für die Durchsetzung demokratischer Werte sein. Im Einzelnen könnte das bedeuten:

  1. Die belarussische Kultur fördern: Nur 23 Prozent der Bevölkerung sprechen auch die belarussische Sprache.[73] Europa und die USA könnten Initiativen unterstützen, um die Zweisprachigkeit zu fördern, zum Beispiel durch die Finanzierung von Schulbüchern in belarussischer Sprache. Die EU und die USA könnten auch dazu beitragen, das belarussische Selbstverständnis zu fördern, indem sie kulturelle Zentren und zum Beispiel Eishockey als Nationalsport unterstützen. Schon durch das Sponsoring von HC Dinamo Minsk und die Organisation von Spielen zwischen westlichen und belarussischen Teams könnten in dieser Hinsicht positive Effekte bewirkt werden.

  2. Belarus im Ausland fördern: Der Westen könnte den Austausch von Studierenden, Akademikern und Vertretern der Zivilgesellschaft mit Belarus ausbauen und Programme initiieren, um Anreize zu schaffen, die belarussische Sprache zu lernen, ähnlich dem Boren-Stipendium der US-Regierung für das Lernen „kritischer“ Sprachen. Eine einmalige Chance, Belarus als Partner von Europa auszuzeichnen, sind die zweiten Europaspiele 2019 in Minsk. Die europäischen Delegationen könnten dazu aufgerufen werden, vielfältige gesellschaftliche Kontakte aufzubauen.

  3. Belarus an internationalen Foren beteiligen: Um die Beziehungen zu den belarussischen Offiziellen zu verbessern und ihnen eine Perspektive als Vertreter eines nicht von Russland abhängigen Staates zu bieten, könnte Belarus ermutigt werden, sich stärker an multinationaler Zusammenarbeit zu beteiligen, zum Beispiel in der Ostseeparlamentarierkonferenz, in der sich die Minsker Regierung als Beobachter engagieren möchte.

  4. Unabhängige russischsprachige Nachrichten entwickeln: Europa und die USA könnten die Entwicklung russischsprachiger Fernseh- und Radiosender finanzieren, die unabhängige statt Kreml-nahe Berichterstattung garantieren, ähnlich bereits initiierter Projekte des Fernsehsenders Deutsche Welle und des US-Außenministeriums im Baltikum.[74] Dies könnte der Kreml-Propaganda entgegenwirken, denn neunzig Prozent der Belarussen schauen regelmäßig oder manchmal russisches Staatsfernsehen.[75] Neue Nachrichtenformate könnten durch neu ausgebildete belarussische Journalisten im staatseigenen Fernsehsender geschaffen werden.

4.5 Realpolitische Prämissen verfolgen

Belarus wird aufgrund seiner geopolitischen Position für Russland ein wichtiger Verbündeter bleiben. Als Transitland für russische Energieexporte bietet es mit seinem riesigen russisch kontrollierten Pipeline-System den kürzesten Weg nach Europa. In militärischer Hinsicht beherbergt Belarus ein Frühwarn-Radarsystem der russischen Luft- und Weltraumkräfte sowie ein Kommunikationszentrum der russischen Marine und dient als Puffer zur Verteidigung der westlichen Grenzen Russlands. So bleibt Belarus ein strategischer Partner für den Kreml, weshalb Europa und die USA zumindest indirekt signalisieren sollten, dass sie nicht die Absicht haben, Belarus in die westlichen Strukturen zu integrieren, insbesondere nicht in die NATO. Das würde im Einzelnen bedeuten:

  1. Grundsätzliches Engagement der EU mit Belarus unter die Prämisse der Partnerschaft und nicht der Mitgliedschaft stellen: Die Zusammenarbeit zwischen der EU und Belarus sollte eindeutig begrenzt werden, um keine Situation ähnlich der in der Ukraine zu verursachen. Belarus würde sich nicht nur nicht für eine EU-Mitgliedschaft qualifizieren, die belarussische Bevölkerung lehnt ein solches Ziel auch ab. Die Unterstützung für die Mitgliedschaft sank nach Abgaben des belarussischen Instituts für Strategische Studien (IISS) von 17,1 Prozent im Jahr 2013 auf 9,7 Prozent im Jahr 2015.[76]

  2. Kontakte mit der NATO begrenzt halten: Die NATO sollte ihre Kontakte zu Minsk aufrechterhalten, die Zusammenarbeit aber angesichts der sensiblen Rolle der Organisation in der russischen Außenpolitik auf militärische Fortbildung und wissenschaftliche Initiativen beschränken.

  3. Russland in multilaterale Foren einbeziehen: Europäische Staaten und die USA sollten multinationale Foren wie die Minsk-Gespräche nutzen, um Russland zu beruhigen, dass der Westen nicht geopolitisch motiviert handelt, um in diesem Sinne Belarus dem Einflussbereich des Kremls zu entreißen.

  4. Belarus ermutigen, engere Beziehungen zu Dritten zu suchen: Im Zuge der Suche nach ausländischen Direktinvestitionen hat Belarus bereits Kontakt mit Ländern auf der ganzen Welt aufgenommen. Der Westen sollte Belarus ermutigen, seine auswärtigen Beziehungen über Europa hinaus weiter zu diversifizieren, um damit aus dem exklusiven Einflussbereich des Kremls zu gelangen.

5 Fazit

Als Staat zwischen Europa und Russland konnte Belarus seine geopolitische Signifikanz im Zuge der konkurrierenden Beziehung Moskaus mit Europa ausschöpfen, wobei Lukaschenka seine Beziehungen zum Westen wiederholt als Druckmittel einsetzte, um maximale Gewinne aus seiner Allianz mit dem Kreml zu erzielen. Die Ukraine-Krise hat diese Außenpolitik nicht wesentlich verändert, da Belarus nach wie vor strukturell von Russland abhängig bleibt. Das Land ist weder an der europäischen Wirtschaftsintegration interessiert, noch bereit, sich an der Agenda der Europäischen Partnerschaftspolitik zu beteiligen. Allerdings hat Lukaschenkas gestärktes Selbstvertrauen und sein dringendes Bedürfnis nach wirtschaftlichen Erfolgen die Tür für den Westen geöffnet. Es bietet sich heute die Möglichkeit einer pragmatischen Politik, die dazu beitragen kann, das strategische Kalkül in Minsk mittel- und langfristig zu beeinflussen.

Die EU und die USA sollten Lukaschenkas derzeitige Macht akzeptieren und das Unbehagen über die russische Bevormundung nutzen, um die belarussische Unabhängigkeit zu unterstützen und glaubwürdige Optionen für die Diversifizierung der Wirtschaft anzubieten. Gleichzeitig sollte dem Kreml signalisiert werden, dass eine Veränderung der belarussischen Politik nicht als Nachteil für Russland konzipiert ist. Auf diese Weise könnte der Westen die belarussische Allianz mit Moskau partiell schwächen und Belarus dabei helfen, seine Unabhängigkeit zu fördern. Damit könnte auch auf lange Sicht der Weg für eine wertorientierte Außenpolitik bereitet werden. Ein realistischer und pragmatischer Ansatz könnte helfen, um Lukaschenkas multivektorielle Außenpolitik als Vehikel zu nutzen, um dessen Bindungen und Abhängigkeiten von Russland zu relativieren und eine Stabilisierung der Region zwischen Russland und der EU zu erreichen.

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Online erschienen: 2017-6-12

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 22.9.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/sirius-2017-0032/html
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