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Publicly Available Published by De Gruyter December 14, 2017

Eine nukleare Neuausrichtung der NATO

  • Karl-Heinz Kamp EMAIL logo

Zusammenfassung:

Das gültige Nuklearkonzept der NATO, der „Deterrence and Defence Posture Review“, ist in großen Teilen überholt. Im Jahr 2011 erarbeitet und 2012 verabschiedet ging er noch von einer Sicherheitslage aus, in der Russland als Partner der NATO galt, der sein Kernwaffenarsenal nicht dazu verwendet, der NATO zu drohen und mit dem sogar nukleare Abrüstung in Europa möglich wäre. Nichts von dem gilt heute noch. Mehr noch, die Eskalation in Nordkorea, die autokratischen Tendenzen in der Türkei (in der US-Atomwaffen gelagert sein sollen) oder das Ausscheiden der Atommacht Großbritannien aus der Europäischen Union bringen die Nuklearfrage ganz nach oben auf der NATO-Agenda. Der Artikel legt dar, welche Elemente eine neue NATO-Nuklearstrategie enthalten sollte.

Abstract:

NATO's current nuclear concept, the „Deterrence and Defence Posture Review“, is widely overtaken by events. Written in 2011 and approved in 2012, the Review was based on the premises that Russia is a partner which refrains from issuing nuclear threats against NATO and with whom even mutual nuclear arms reductions in Europa could be worked out. None of these assumptions are valid any more. Moreover, nuclear escalation in North Korea, autocratic tendencies in Turkey (where US nuclear weapons are allegedly stored) or the United Kingdom as a nuclear power leaving the European Union, brings the nuclear question to the top of NATO's agenda. The article points out which elements a new NATO nuclear strategy should contain.

Schlüsselwörter: NATO; Abschreckung; Kernwaffen; Russland

1 Einleitung

Die nukleare Frage ist zurück auf der NATO-Tagesordnung, seit Moskau den eigenen Machtanspruch wieder mit militärischer Gewalt und Drohungen gegen die Nachbarn untermauert. Die Rückkehr von Abschreckung und Verteidigung nach 2014 kam für viele überraschend, hatten doch nach dem Ende des Kalten Krieges auch Fachleute wie der ehemalige US-amerikanische Verteidigungsminister Robert S. McNamara ein Wiedererstarken der russischen Bedrohung für so wahrscheinlich gehalten wie ein „Wiederaufleben der Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts in Europa“[1].

Im Bereich der konventionellen Waffen hat die NATO auf Russlands Aggression in der Ukraine erstaunlich schnell und entschlossen reagiert und mit gezielten militärischen Maßnahmen Abschreckung gerade in Osteuropa aufgebaut. Dem im Artikel 5 des NATO-Vertrages kodifizierten Versprechen der Bündnissolidarität wird durch diese Verstärkungen, die sich noch über Jahre hinziehen dürften, Glaubwürdigkeit verliehen.

Im Nuklearbereich hüllt sich die Allianz hingegen nach wie vor in Schweigen, obgleich offensichtlich ist, dass eine glaubwürdige Abschreckung sowohl konventionelle Streitkräfte als auch Kernwaffen beinhalten muss.[2] Weder wurden mögliche Veränderungen bei der militärischen „Hardware“ thematisiert noch gab es eine ernsthafte Diskussion darüber, welche konzeptionellen Veränderungen im nuklearstrategischen Bereich vorgenommen werden müssen. Selbst das Kommuniqué des NATO-Gipfeltreffens in Wales im Herbst 2014 – dem ersten nach der Annexion der Krim – wiederholte lediglich die bekannte Formulierung, dass Abschreckung auf einem angemessenen Mix von konventionellen und nuklearen Waffen beruhen müsse. Wie dieser Mix auszusehen habe und welche Anpassungen angesichts des grundlegenden sicherheitspolitischen Gezeitenwandels des Jahres 2014 erforderlich sind, ist bisher offen.

Das erstaunt, gerade weil Russland bereits vor der Ukraine-Krise, aber insbesondere nach der Annexion der Krim, deutliche nukleare Drohungen ausgesprochen hat. Auch geht die sich permanent verschärfende Nordkorea-Krise zumindest mit Blick auf interne Nukleardebatten scheinbar spurlos am Bündnis vorbei. Zwar hat beispielsweise Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Vermittlung angeboten und dabei an die Rolle Deutschlands bei der Aushandlung des Iran-Abkommens erinnert – allerdings würde eine solche Vermittlung außerhalb der NATO geschehen.

Was sind also die strategischen Grundlagen der nuklearen Abschreckung der NATO, welchen Veränderungen waren sie in den vergangenen Jahren ausgesetzt und welche Elemente müsste eine den neuen sicherheitspolitischen Realitäten entsprechende Nuklearstrategie enthalten?

2 Strategische Grundlagen der nuklearen Allianz

Im derzeit gültigen Grundlagendokument, dem sogenannten Strategischen Konzept von 2010, wird die NATO als „nukleare Allianz“ bezeichnet, in der Atomwaffen den Kern der Abschreckung bilden. Diese Festlegung war in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen wurde sie nur ein Jahr, nachdem Präsident Barack Obama in Prag seinen Traum von der atomwaffenfreien Welt verkündet hatte, formuliert. Zum anderen befand sich die Allianz inmitten einer heftigen nuklearen Kontroverse, die von dem damaligen deutschen Außenminister Guido Westerwelle ausgelöst worden war. Dieser hatte 2009 schon im Wahlkampf den Abzug der in Deutschland (und anderen europäischen Staaten) stationierten US-amerikanischen Atomwaffen gefordert und dieses Ansinnen auch nach seinem Amtsantritt als Außenminister vehement aufrechterhalten. Beide – Präsident Obama und Minister Westerwelle – handelten wohl in gutem Glauben, aber in weitgehender Unkenntnis der politisch hochsensiblen Materie. Obama unterschätzte den Umstand, dass die überwiegende Mehrzahl der sie besitzenden Staaten die Atomwaffen schlicht nicht aufgeben wollen, weil sie mit ihnen – zu Recht oder zu Unrecht – einen Zugewinn an Sicherheit, Macht oder Prestige erhoffen. Westerwelle führte für seine Forderung nach dem Abzug der US-amerikanischen Atombomben sogar einige gute strategische Gründe an, versäumte aber zu erklären, was an deren Stelle die Abschreckung aufrecht erhalten sollte. Damit hatte eine solche Forderung gerade bei den osteuropäischen NATO-Mitgliedern sowie bei den Nuklearstaaten USA, Frankreich und Großbritannien keine Chance auf Erfolg. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz erhob die Forderung nach dem Abzug der Atomwaffen aus Deutschland im Wahlkampf 2017 ebenfalls, erzielte damit aber nahezu keinerlei Resonanz.

Eine Folge dieser allianzinternen Kontroversen war, dass sich die NATO auf einen Diskussionsprozess einigte, an dessen Ende ein Strategiepapier stehen sollte, das einen neuen nuklearen Konsens im Bündnis festschreibt. Entgegen anfänglicher Skepsis gelang es auf dem NATO-Gipfel in Chicago im Jahr 2012, ein solches Papier, den Deterrence and Defence Posture Review (DDPR), zu verabschieden und den Nuklearstreit zunächst einmal beizulegen. Der Preis für die Einigkeit war aber, dass – wie in vielen Allianzdokumenten – bestehende Meinungsverschiedenheiten übertüncht und mit sehr allgemeinen Formulierungen generell akzeptabel gemacht wurden. Zur Frage der Stationierung der US-amerikanischen Kernwaffen in Europa wird in Paragraf 8 des Reports lapidar erklärt, „dass das Dispositiv der nuklearen Kräfte des Bündnisses gegenwärtig die Kriterien eines wirksamen Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs erfüllt“. In Paragraf 31 heißt es darüber hinaus: „Die Überprüfung des Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs der NATO hat bestätigt, […] dass die bestehende Mischung von Fähigkeiten und die Pläne zur Entwicklung dieser Fähigkeiten unter den gegenwärtigen Umständen angemessen sind.“[3] Hinzu kommen einige wolkige Sätze zu einer möglichen langfristigen Reduzierung der in Deutschland stationierten Atombomben (in dem Umfang, in dem Russland seine Waffen reduzieren würde) sowie die Ankündigung eines neuen Ausschusses, der sich mit Abrüstungsfragen befassen soll.

Damit war der DDPR keine wirkliche Nuklearstrategie und auch kein Abschreckungskonzept, weil er die zentralen Fragen des „wie“ man „wen“ und „womit“ abschreckt, weitgehend außen vor ließ. Auch blieb – obwohl man sich damit befasste – weitgehend unbeantwortet, welche Rolle eine funktionierende Raketenabwehr im Abschreckungsgeflecht haben wird und wie das Verhältnis von konventioneller und nuklearer Abschreckung gestaltet werden soll. Immerhin wurde mit dem DDPR aber ein heftiger Bündnisstreit entschärft und allen Beteiligten eine gesichtswahrende Rückkehr zum Tagesgeschäft ermöglicht, indem er einen zweigleisigen Ansatz enthielt. Zum einen hat das Dokument – von vielen Nuklearkritikern weitgehend unbemerkt – die NATO zur Hauptaufgabe der Sicherheitsvorsorge zurückgebracht und die Elemente „Abschreckung“ und „Rüstungskontrolle“ wieder in die richtige strategische Reihenfolge gestellt. Erster Daseinszweck einer Nuklearwaffe ist es nicht, abgerüstet zu werden, sondern der Abschreckung oder Rückversicherung zu dienen. Erst wenn sie das nicht zu leisten vermag oder zahlenmäßig überflüssig ist, kann sie abgezogen werden.

Zum anderen wurde die Abrüstungsperspektive deutlich betont – auch durch die Benennung des bereits erwähnten Abrüstungsausschusses. Damit kam die NATO den Kritikern der „taktischen Atomwaffen“ in Europa und insbesondere der Bundesregierung entgegen. Nachdem mit dem DDPR diese Einigung erzielt worden war, konnte die Nuklearfrage wieder auf die hintersten Ränge der NATO-Agenda verbannt werden.

3 Nuklearer Veränderungsdruck

Die russische Aggression gegen die Ukraine und die Annexion der Krim Anfang 2014 veränderten die internationale Sicherheitslage grundlegend. Die nach dem Ende des Kalten Krieges geschaffene europäische Sicherheitsordnung existiert nicht mehr und die NATO befindet sich wieder in einer Ära, in der Abschreckung und Verteidigung nicht nur rhetorisch betont werden, sondern in der diese mit Streitkräften und klaren Konzeptionen unterfüttert sein müssen. Das gilt nicht nur für die nukleare Abschreckung im Allgemeinen, sondern auch für die nuklearstrategischen Grundsätze des Bündnisses im Besonderen. De facto gilt der DDPR, trotz seines sehr allgemeinen Charakters, als weitgehend überholt. Drei Entwicklungen sind es vor allem, die dem gültigen nuklearen Abschreckungsdokument die Grundlage entziehen.

Erstens wurde er zu einer Zeit formuliert, in der Russland als Partner der NATO galt und durch eine Vielzahl von Konsultationsprozessen in die Allianz einbezogen wurde. Diese Partnerschaft existiert nicht mehr. Zwar hält die NATO aus guten Gründen an der 1997 unterzeichneten NATO-Russland-Grundakte fest, allerdings hat sie am 1. April 2014 die praktische Kooperation mit Russland aufgekündigt. Mittlerweile hat auch die russische Regierung mehrfach erklärt, nicht mehr Partner der NATO sein zu wollen. Diese grundlegende Veränderung des Selbstverständnisses der Beziehung zueinander hat zwangsläufig Auswirkungen auf die Rolle der Streitkräfte – nuklear oder konventionell – auf beiden Seiten. Hatte man sich vorher kooperative Modelle für Bereiche wie Abschreckung oder Raketenabwehr vorstellen können, werden diese heute vor allem konfrontativ gedacht. Gleiches gilt für einst kooperativ ausgehandelte Rüstungskontrollabkommen, wie der 1987 unterzeichnete Vertrag zum Verbot der nuklearen Mittelstreckenwaffen (Intermediate Nuclear Forces – INF). Die USA werfen Russland seit 2014 erhebliche Vertragsverletzungen vor und drohen mit Gegenmaßnahmen. Allerdings sind solche Vertragsbrüche aufgrund der Komplexität der Materie nur schwer zu beweisen, sodass derzeit Vorwürfe und Gegenvorwürfe ausgetauscht werden. Auch weisen Vertreter der NATO darauf hin, dass Russland den Gegenvorwurf erhebt, dass mit dem von den USA in NATO-Staaten stationierten Raketenabwehrsystem ebenfalls nukleare Mittelstreckenwaffen abgefeuert werden könnten. Dies ist offenbar zumindest technisch durch kleinere Änderungen in der Software der Startvorrichtungen möglich. In jedem Fall dürfte sich die INF-Debatte in den kommenden Monaten verschärfen.

Eine zweite Grundannahme des DDPR auf der Basis des kooperativen Verhältnisses war, dass Russland sein nach wie vor gewaltiges Kernwaffenarsenal nicht gegen die NATO instrumentalisieren würde. Diese Annahme bekam bereits spätestens 2009 erhebliche Risse, als Russland in einem Manöver den Nuklearangriff auf Polen simulierte. Mit der Ukraine-Krise stieg die Zahl der nuklearen Drohsignale um ein Vielfaches: 2014 wurden rund 400 russische Militärflugzeuge an den Grenzen der NATO abgefangen – viermal so viele wie 2013.[4] Die dabei von Russland eingesetzten „Bear“-Bomber waren meist im Nuklearmodus ausgestattet, das heißt sie trugen vier Halterungen für Kernwaffen deutlich sichtbar unter den Flügeln. Parallel dazu wurden deutliche atomare Warnungen ausgesprochen, sogar vom russischen Botschafter in Kopenhagen, der Dänemark mit Nuklearschlägen drohte, falls es ein NATO-Raketenabwehrsystem einrichten sollte. Eine solche Intensität des nuklearen „Signalling“ hat es selbst im Kalten Krieg nur selten gegeben. Es wäre beispielsweise unvorstellbar gewesen, dass die sowjetische Führung einem einfachen Botschafter in einem vergleichsweise kleinen Land gestattet hätte, offen mit Kernwaffen zu drohen.

Die dritte Annahme, die spätestens mit den Geschehnissen von 2014 ihre Grundlage verloren hat, war die Hoffnung, dass man das Problem der ungeliebten US-amerikanischen Atomwaffen in Europa auf dem Wege der Rüstungskontrolle und Abrüstung zusammen mit Russland würde lösen können. Unter den aktuellen konfrontativen Bedingungen ist eine gemeinsame Reduzierung der sogenannten taktischen Atomwaffen kaum noch vorstellbar. Russland zieht sich aus den bilateralen Gremien schrittweise zurück. Im November 2014 ließ der Kreml wissen, dass man an den jährlichen russisch-amerikanischen Gipfeln zur Nuklearsicherheit nicht mehr teilnehmen werde. Auch befürchtet Russland offenbar nicht nur eine von den USA gesteuerte Aktion zum Sturz der Putin-Regierung, sondern langfristig auch eine militärische Aggression der NATO gegen Russland.[5] Vor beiden Gefahren sollen unter anderem starke Nuklearstreitkräfte schützen, indem sie die nicht zu Unrecht wahrgenommene eigene Unterlegenheit bei den konventionellen Streitkräften kompensieren.

Umgekehrt dürften osteuropäische NATO-Mitglieder noch weniger als bisher einer Reduzierung US-amerikanischer Kernwaffen in Europa zustimmen. Vermutlich würden Polen und die baltischen Staaten aufgrund der russischen Bedrohung sogar eine Nuklearstationierung auf eigenem Boden gutheißen, allerdings hatte die NATO dies in der 1997 unterzeichneten NATO-Russland-Grundakte ausgeschlossen. Dafür beteiligt sich eine größere Zahl von ausschließlich konventionell bewaffneten NATO-Mitgliedern an Unterstützungsmaßnahmen für mögliche Nukleareinsätze – sogenannte SNOWCAT-Operationen (Support for Nuclear Operations With Conventional Air Tactics) – und würde im Falle eines Einsatzes etwa Begleitschutz bereitstellen. Dem entspricht der Umstand, dass der mit dem DDPR geschaffene und mittlerweile umbenannte Abrüstungsausschuss nie eine vernünftige und relevante Funktion gewinnen konnte.

Zusätzlich zu diesen auf Russland bezogenen Veränderungen der Grundannahmen des DDPR gab es in der jüngsten Vergangenheit weitere Entwicklungen, die eine Neubefassung mit der Nuklearfrage notwendig machen. Zunächst planen die USA, bis Anfang 2018 im Rahmen des „Nuclear Posture Review“ (NPR) eine Neubewertung der Rolle ihrer nuklearen Streitkräfte vorzulegen. Der bislang gültige NPR stammt aus dem Jahr 2010 und ging – wie auch der DDPR – von deutlich optimistischeren Annahmen hinsichtlich der internationalen Sicherheitslage und der Rolle von Kernwaffen aus. Es versteht sich von selbst, dass eine Überarbeitung der Nuklearstrategie der USA als nukleare Garantiemacht der NATO auch weitreichende Auswirkung auf die Abschreckungskonzeption des Bündnisses haben wird.

Mittelbar hat auch der geplante Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union Auswirkungen auf die Nuklearfrage. Zwar bleibt durch den BREXIT die britische Mitgliedschaft in der NATO unangetastet, zudem haben Großbritannien und Frankreich im Jahr 2010 eine umfassende bilaterale Zusammenarbeit auf dem Feld der Sicherheitspolitik ausgemacht. Dieses britisch-französische Lancaster-House-Treaty beinhaltet eine intensive Kooperation der beiden europäischen Atommächte im Bereich der Nuklearwaffen und berührt damit auch den Bereich der NATO-Abschreckung. Allerdings könnte der BREXIT ein Ausscheiden Schottlands aus dem Vereinigten Königreich zur Folge haben, was nukleare Implikationen hätte, da die britischen Atom-U-Boote dort stationiert sind. Die gewaltigen Kosten einer Verlegung der nuklearen Infrastruktur würden grundlegende Fragen zum britischen Nuklearpotenzial aufwerfen.

Letztlich sind es die besorgniserregenden Entwicklungen in der Türkei, die den Bereich der nuklearen Abschreckung beeinflussen können. Die Türkei ist neben Italien, Belgien, den Niederlanden und Deutschland eines der fünf Stationierungsländer, in denen eine vergleichsweise geringe Anzahl von US-amerikanischen Atombomben vom Typ B61 gelagert ist.[6] Unter Präsident Recep Tayyip Erdogan entwickelt sich das Land nicht nur zu einer Autokratie, sondern entfernt sich auch immer weiter von der NATO. Es wird russische Flugabwehr-Systeme kaufen und ist kaum noch in einen Bündniskonsens einzubinden. Auch deutet sich ein tiefes Zerwürfnis zwischen der Türkei und den USA an, da die Trump-Administration es an jeder Sensibilität bei der Unterstützung kurdischer Gruppen in Syrien und im Irak fehlen lässt. Zwar versucht die NATO nach Kräften, das Land im Bündnis zu halten, da aufgrund ihrer geostrategischen Lage eine schwierige Türkei innerhalb der NATO immer noch besser ist als eine schwierige Türkei außerhalb der Allianz. Gesichert ist dies allerdings nicht. Sollte die Türkei ihre Verbindungen zur NATO weiter kappen oder die Nuklearbeziehungen zu den USA endgültig aufkündigen, so würde sich die nukleare Geometrie der NATO insgesamt ändern.

4 Rahmenbedingungen für ein neues Nuklearkonzept

Wenn die derzeitige Nuklearstrategie nicht mehr trägt und sich die Frage nach einem glaubwürdigen und sowohl für Verbündete als auch für Gegner konsistenten Abschreckungskonzept immer dringlicher stellt, dann kommt die NATO nicht umhin, sich der Nuklearfrage erneut zu widmen. Die Bereitschaft hierzu ist bei vielen Regierungen, gerade bei Bündnismitgliedern ohne eigene Nuklearwaffen, verständlicherweise gering. Das Thema ist hoch emotional und mit vielen Dilemmata behaftet, die man in der Öffentlichkeit nur schwer vermitteln kann. Die nukleare Realität verlangt, mit einem Konzept zu leben, das gewaltige Schäden bis hin zur Vernichtung der Menschheit zumindest als Möglichkeit nicht völlig ausschließen kann. Das erfordert gerade in Deutschland, das in den frühen 1980er-Jahren gewaltigen anti-nuklearen Protest erlebt hat, rhetorische Zurückhaltung und Sensibilität. Unbedachte Überlegungen über eine mögliche deutsche Nuklearmacht, wie sie unlängst in einigen Medien angestellt wurden, verkennen nicht nur die Realitäten des völkerrechtlichen Verzichts Deutschlands auf den Zugang zu Massenvernichtungswaffen. Sie werden auch von keiner der im Parlament vertretenen Parteien auch nur ansatzweise geteilt und sind damit schlicht abwegig.

Andererseits nimmt der öffentliche Druck, sich mit dem Thema zu befassen, auch unabhängig von Russland, Nordkorea oder vereinzelten deutschen Nuklearphantasten weiter zu. Im Juli 2017 stimmten 122 der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen für ein generelles Kernwaffenverbot und damit für die Ächtung dieser Waffenkategorie. Atomwaffen dürfen demnach weder besessen noch produziert oder stationiert werden – auch die Drohung mit ihrem Einsatz ist verboten. Debattiert wird ein solches Verbot schon seit Mitte der 1990er-Jahre, obwohl stets offensichtlich war, dass es politisch und militärisch folgenlos bleiben wird. Die Kernwaffenmächte hatten von Anfang an klargemacht, dass sie einen solchen Beschluss ignorieren würden. Damit vermindert der VN-Beschluss zwar das weltweite Nukleararsenal nicht um einen einzigen Sprengkopf, lässt aber die Idee der nuklearen Abschreckung gerade in den Ländern erodieren, die aufgrund ihrer demokratischen Verfasstheit sicherheitspolitische Entscheidungen offen zur Debatte stellen. Autokratische Regime, die sich um die öffentliche Meinung im eigenen Land oder um ihr internationales Ansehen nicht scheren, bleiben von Beschlüssen der Vereinten Nationen meist unbeeindruckt und werden weiter mit ihren Kernwaffen drohen.

Einer weiteren Erosion der Idee der Abschreckung zur Kriegsverhinderung, auf das die NATO sieben Jahrzehnte erfolgreich gesetzt hat, kann nur durch ein kohärentes Konzept und ein schlüssiges Narrativ entgegengewirkt werden. Wie aber kann ein solches Konzept aussehen und was sollte ein nukleares Narrativ – also die deklaratorische Nuklearpolitik – enthalten?

Ausgangspunkt der Überlegungen sind die eingangs erwähnten Formulierungen im DDPR, „dass das Dispositiv der nuklearen Kräfte des Bündnisses gegenwärtig die Kriterien eines wirksamen Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs erfüllt“ und dass „die bestehende Mischung von Fähigkeiten […] unter den gegenwärtigen Umständen angemessen“[7] ist. Wenn diese Beschreibung 2012 zutraf und man seit 2014 eine fundamentale Veränderung der Sicherheitslandschaft innerhalb und außerhalb Europas konstatiert, dann kann diese Schlussfolgerung heute nicht mehr richtig sein: Das Dispositiv der nuklearen Kräfte und die Mischung von Fähigkeiten sind offensichtlich nicht mehr angemessen. Damit stellt sich zwangsläufig die Frage nach der nuklearen Bewaffnung, den Stationierungsorten und der Mischung von nuklearen und nicht-nuklearen Fähigkeiten.

5 Die nukleare Bewaffnung der NATO

Die Bezeichnung „NATO-Nuklearwaffen“ ist, obwohl gebräuchlich, nur teilweise korrekt, weil es sich vor allem um US-amerikanische Waffen handelt, die unter deren Einsatzkontrolle stehen und die mit Trägerflugzeugen von nicht-nuklearen NATO-Mitgliedern ins Ziel befördert werden könnten. Britische und französische Kernwaffen gehören nur bedingt dazu, da gerade Frankreich stets auf die nukleare Unabhängigkeit pocht.

Die in Europa stationierten US-amerikanischen B61-Bomben werden derzeit technisch überholt und in einigen Teilkomponenten heutigen technologischen Standards angepasst. In der Vergangenheit gab es eine Debatte, ob diese „Modernisierung“ lediglich eine Überarbeitung sei oder ob die Waffen mit grundlegend neuen Fähigkeiten versehen würden – was wiederum von Russland als aggressiv gewertet werden könnte. Dieser Streit ist allerdings müßig. Wenn sich die NATO mit den Stimmen all ihrer Mitglieder dem Konzept der nuklearen Abschreckung als einem Element ihrer Sicherheitsvorsorge verschrieben hat, dann muss sie ein Interesse daran haben, dass die militärische Unterfütterung dieses Konzepts – die Kernwaffen selbst – mit Blick auf Sicherheit und Funktionsfähigkeit auf dem technisch höchsten Stand sind. Alles andere wäre unverantwortlich. Ob ein potenzieller Gegner mit dieser technischen Veränderung einverstanden wäre, ist – solange keine geltenden Abkommen verletzt werden – ohne Belang.

Ernster ist schon der Hinweis, dass die US-Kernwaffen in Europa mit Blick auf die US-amerikanischen Sicherheitsversprechen gegenüber Osteuropa zwar einen hohen politisch-symbolischen Wert haben, militärisch aber nur schwer zu rechtfertigen sind. Bomben auf Trägerflugzeugen sind in ihrem Einsatzwert sowohl durch die Reichweite des Trägers (die durch Luftbetankung erweitert werden kann) als auch durch die gegnerische Luftverteidigung eingeschränkt. Das gilt insbesondere, da Russland im Konfliktfall versuchen wird, NATO-Nachschubkräften den Zugang – nunmehr gerade zu den baltischen Staaten – zu verweigern. Dieses grundsätzliche Problem war auch zu Zeiten des Kalten Krieges gegeben, als diese Waffen stationiert wurden. Es wurde aber konzeptionell dadurch gemildert, dass ein ganzes Spektrum von Kernwaffen unterschiedlichen Typs in Europa gelagert war. Der damaligen Abschreckungslogik folgend, lag damit eine Palette verschiedener Reaktionsmöglichkeiten auf dem Tisch. Nach den unterschiedlichen Abrüstungsschritten Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre blieben die Bomben als einziges System übrig – sie sind damit ein Relikt des Ost-West-Konfliktes und nie wirklich strategisch angepasst worden.

Folgerichtig wird im US-amerikanischen Militär und den nuklearen Entwicklungslabors über Alternativen zu freifallenden Bomben nachgedacht. Seit längerer Zeit ist unter der Bezeichnung Long Range Standoff Weapon die Option einer weitreichenden Abstandswaffe – eine Art Marschflugkörper, der nuklear bewaffnet werden kann – im Gespräch. Damit könnte an dem sogenannten Zweischlüssel-System, in dem die Verbündeten das Trägerflugzeug stellen und die USA den Sprengkopf, festgehalten und gleichzeitig eine lagegerechte nukleare Bewaffnung beschafft werden.

Diesen eher militärstrategischen Überlegungen steht der politische Primat der Einigkeit des Bündnisses entgegen. Eine Stationierung neuer US-amerikanischer Kernwaffen dürfte in den meisten europäischen NATO-Staaten unter den gegebenen Bedingungen politisch nicht durchzusetzen sein. Allein ein solcher Versuch, selbst wenn er konzeptionell sinnvoll erschiene, würde vermutlich zu starken anti-nuklearen Protesten in der Öffentlichkeit und damit zu erheblichen Spannungen im Bündnis führen. Somit dürfte es derzeit bei den stationierten B61-Bomben und deren politisch-symbolischem Wert für die US-amerikanischen Sicherheitsgarantien bleiben. Dies ist auch strategisch akzeptabel, da die USA über ein sehr breites Spektrum verschiedener Kernwaffen zu Lande, in der Luft und auf See verfügen, um ihr nukleares Sicherheitsversprechen für ihre Verbündeten in Europa und in Asien zu untermauern. In der Perspektive, etwa bei einem dauerhaft aggressiven Verhalten oder weiteren Vertragsverletzungen durch Russland, ist eine Veränderung des US-amerikanischen Nukleardispositivs in Europa nicht ausgeschlossen.

6 Die nuklearen Stationierungsorte

In der Vergangenheit hat es in den europäischen Stationierungsländern immer wieder innenpolitische Kritik an der US-amerikanischen Nuklearpräsenz gegeben, bis hin zu den erwähnten Abzugsforderungen des damaligen deutschen Außenministers. Diese waren auch militärstrategisch teilweise nachvollziehbar, war doch die Auswahl der Stationierungsorte kein Produkt neuerer Risikoabwägung, sondern schlicht ein Überbleibsel des Kalten Krieges. Während des Ost-West-Konfliktes waren diese Kernwaffen möglichst nahe der Grenzen zum Warschauer Pakt stationiert, um die Abschreckungsdrohung gegenüber einem möglichen Angriff auf NATO-Territorium zu untermauern. Das erklärt, warum die meisten Kernwaffen auf dem damaligen Gebiet der Bundesrepublik konzentriert waren.

Nach dem Ende der Sowjetunion und dem Beitritt einer Vielzahl ehemaliger Mitglieder des Warschauer Paktes zur NATO verschob sich die Grenze des Bündnisgebiets deutlich nach Osten. Folglich argumentiert man im Baltikum oder in Polen nicht selten, dass US-amerikanische Kernwaffen heute eigentlich auf deren Territorium stationiert sein müssten, wenn man der damaligen Abschreckungslogik folgen würde. Auch wird darauf verwiesen, dass US-Kernwaffen in Osteuropa politisch leichter zu lagern wären als an ihren derzeitigen Orten.

Das stünde allerdings explizit dem Grundlagendokument für die Kooperation mit Russland, der NATO-Russland-Grundakte von 1997, entgegen, in der die berühmten „Three No's“ (die dreifache Verneinung mit Blick auf die Kernwaffen) festgehalten sind: „Die Mitgliedstaaten der NATO wiederholen, dass sie nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlass haben, nukleare Waffen im Hoheitsgebiet neuer Mitglieder zu stationieren“[8]. An diese Grundakte hält sich die NATO nach wie vor, um trotz Russlands revanchistischem Kurs nicht die bestehenden Gesprächsfäden zu kappen. Objektiv sind aber viele der 1997 geltenden Prämissen nicht mehr gegeben. So verpflichtet die Grundakte die Vertragspartner auf die „Achtung der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Unversehrtheit aller Staaten“. Russland führt hingegen in der Ost-Ukraine Krieg gegen einen souveränen Staat und hat einen Teil annektiert. Mit der Annexion der Krim hat Russland auch das Budapester Memorandum vom 1994 gebrochen, in dem Russland der Ukraine die Achtung der staatlichen Souveränität im Austausch für die dort stationierten, ursprünglich sowjetischen Atomwaffen zugesichert hatte. Auch spricht die Grundakte vom „gegenwärtigen und vorhersehbaren Sicherheitsumfeld“, also den 1997 geltenden Annahmen. Diese haben sich aber durch Russlands Agieren diametral geändert.

Das Festhalten der NATO an der Grundakte und an den „Three No's“ bei der Nuklearstationierung (oder der dauerhaften Stationierung von konventionellen Streitkräften in Osteuropa) sind also Zugeständnisse, die das Militärbündnis in der Hoffnung auf eine Verbesserung der Lage im Verhältnis zu Russland macht. Tritt diese Verbesserung nicht ein, ist eine Verlagerung von Stationierungsorten nicht auszuschließen.

7 Die deklaratorische Nuklearpolitik

Eines der zentralen Dilemmata nuklearer Abschreckung liegt darin, dass man einerseits versuchen wird, den Einsatz von Kernwaffen angesichts der unvorhersehbaren Konsequenzen nahezu völlig auszuschließen, dass er aber andererseits eine reale Möglichkeit sein muss, um das Kosten-Nutzen-Kalkül eines Gegners zu verändern und den Abschreckungseffekt zu entfalten. Kernwaffen müssen also glaubwürdig einsetzbar sein, um nach Möglichkeit nie eingesetzt zu werden. Zur Glaubwürdigkeit einer nuklearen Abschreckungsdrohung gehört neben dem Vorhandensein von Sprengköpfen und Trägern auch die deklaratorische Nuklearpolitik – also die Summe der Äußerungen, aus denen ein potenzieller Angreifer den Verteidigungswillen des Gegners ableiten und sein eigenes Risiko abschätzen kann.

Nachdem die NATO nach dem Ende des Kalten Krieges ihre deklaratorische Nuklearpolitik auf ein Minimum zurückgefahren hatte, wurden mit dem DDPR zumindest einige nuklearrelevante Formulierungen in das strategische Narrativ der NATO aufgenommen. Vor allem wurde – auf Drängen Frankreichs und von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – das nukleare Element in der Gesamtabschreckung erheblich gestärkt. Wurden zuvor Kernwaffen in NATO-Dokumenten als ein wichtiger Teil der Abschreckung bezeichnet, so erklärte der DDPR sie zu deren „Kernkomponente“ (core component).

Noch bemerkenswerter sind die durch die Ukraine-Krise hervorgerufenen Veränderungen in der deklaratorischen Nuklearpolitik der NATO. Griff man auf dem NATO-Gipfel von Wales noch auf kurze Standard-Formulierungen zurück, so war der Nuklearteil im Kommuniqué des Warschauer Gipfels nahezu dreimal so lang. Anders als in allen vorherigen Dokumenten seit dem Ende der Sowjetunion droht die NATO implizit den Einsatz von Kernwaffen im Falle vitaler Bedrohungen konkret an. Hieß es bis dato stets, dass der Nuklearwaffengebrauch eine sehr ferne Möglichkeit sei (extremely remote), so erklärt die NATO nun, dass sie einem Angreifer, der die grundlegende Sicherheit (fundamental security) eines Bündnismitglieds bedroht, unakzeptablen Schaden zufügen könne.

Weitere verschärfende Statements sind denkbar, je nachdem wie sich die russischen Drohgebärden weiterentwickeln. Zum einen könnte die NATO die oben erwähnte Konditionalität der derzeitigen Stationierungsorte US-amerikanischer Kernwaffen in Europa offiziell erklären und feststellen, dass die Aufrechterhaltung der drei „Neins“ von dem Fortgang russischer Politik abhängig ist. Auch könnte die NATO die russischen Nukleardrohungen der vergangenen beiden Jahre thematisieren und in einem der nächsten Kommuniqués erklären, dass der extensive Gebrauch nuklearer Rhetorik – wie etwa im Fall der Drohung von Nuklearschlägen gegen Dänemark – den Charakter der Beziehungen fundamental verändere.

8 Nuklearwaffen und Raketenabwehr

Eine der Fragen, die die NATO im Rahmen des DDPR-Prozesses klären wollte, war das Verhältnis von Raketenabwehr und nuklearer Abschreckung. Würde Raketenabwehr (Missile Defense – MD) – wie von ihren Kritikern vorgebracht – zu einer Eskalation bei den Kernwaffenkapazitäten führen, weil man die Abwehr mit größeren Angriffskräften schlicht überwältigen wollte? Oder würde Raketenabwehr, falls sie zuverlässig funktionieren sollte, Nuklearwaffen überflüssig machen, weil sie keinen Schaden mehr zufügen könnten und Abschreckung wirkungslos wäre? Obgleich beide Fragen in ihrem unpolitischen Charakter geradezu naiv schienen, waren sie vor allem in der großen MD-Debatte zur Zeit der Strategic Defense Initiative (SDI) Ronald Reagans Gegenstand heftiger Diskussionen. Während sich das vermeintliche Problem der Zunahme der Nuklearwaffenzahlen mit dem Bankrott der Sowjetunion und der darauf folgenden nuklearen Abrüstung erledigte, stellte der DDPR zur zweiten Frage apodiktisch fest, dass eine Raketenabwehr die Abschreckung nur ergänzen, nicht aber ersetzen könne.

Dass die NATO diesem Problem nicht mehr Aufmerksamkeit widmete, lag vor allem daran, dass sich das Bündnis in der öffentlichen Rechtfertigung ihres Aufbaus von Raketenabwehr-Fähigkeiten selbst in eine widersprüchliche Lage gebracht hatte. War die Abwehr anfangs gegen das sowjetische Nuklearpotenzial gerichtet, erklärte die NATO nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes und dem vermeintlichen Aufbau einer dauerhaften Partnerschaft mit Russland, dass man die Raketenabwehr weiter brauche, diese aber selbstverständlich nicht auf Russland ziele. Dieser offiziellen Position schlossen sich die neuen NATO-Mitglieder in Osteuropa stets nur zögerlich an, weil sie nach wie vor historisch bedingte Vorbehalte gegenüber der vermeintlichen Friedfertigkeit Russlands hegten. Als wesentlicher Grund für die Raketenabwehrpläne der NATO galt aber vor allem das Streben des Iran nach Kernwaffen und Langstreckenraketen. Aber selbst dies durfte nicht in offiziellen NATO-Dokumenten so angegeben werden, weil sich das NATO-Mitglied Türkei einer Benennung des Iran widersetzte. Folglich wurde meist generalisierend von den Gefahren aus dem Nahen und Mittleren Osten gesprochen.

Vollends zur Farce geriet diese Argumentation, nachdem 2015 das Nuklearabkommen mit dem Iran abgeschlossen wurde, mit dem die Regierung in Teheran ihr Waffenprogramm umfassenden Kontrollen unterwarf. Folglich war der russische Außenminister Sergej W. Lawrow auch einer der ersten, der forderte, dass die NATO ihre Abwehrpläne auf Eis legen müsse, da es keine Rechtfertigung mehr gebe. Lawrow nutzte klug eine zentrale Schwäche in der Argumentation des Bündnisses aus – nämlich stets einen konkreten Adressaten der Raketenabwehr angeben zu wollen. Das ist strategisch wenig sinnvoll. So besitzen beispielsweise die meisten modernen Staaten eine Luftabwehr, weil es weltweit Kampfflugzeuge gibt und nicht weil sie gegen einen vorbestimmten Gegner gerichtet ist. Ebenso lässt sich Raketenabwehr rechtfertigen, weil es weltweit eine rasante Entwicklung bei der Raketentechnologie gibt. Damit werden aggressive Regime überall auf dem Globus zur weitreichenden Machtprojektion befähigt und die Entwicklung interkontinentaler Reichweiten ist nur noch eine Frage der Zeit.

Auch hier versucht die NATO seit Neuestem, einen Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung herbeizuführen. Im Kommuniqué von Wales findet sich ein Satz, der die Raketenabwehr mit der generellen Bedrohung gegenüber „NATO populations, territory, and forces“ rechtfertigt. Damit hätte die NATO zwar eine allgemeine Begründung geschaffen, sie hätte aber noch nicht das komplexe Verhältnis von Abschreckung und Raketenabwehr geklärt.

Generell hat also die Atlantische Allianz im Nuklearbereich die strategischen Veränderungen seit dem Jahr 2014 noch nicht aufgearbeitet. Ihre nukleare Konzeption entspricht noch einer kooperativen Sicherheitsordnung in Europa, die mit der Rückkehr Russlands zur Aggressionspolitik in Osteuropa längst Makulatur geworden ist. Ihr Nuklearpotenzial entstammt sogar noch aus der Ära des Ost-West-Konfliktes – zwar technisch modernisiert, aber nicht strategisch angepasst. Bei der deklaratorischen Nuklearpolitik gibt es Fortschritte, das komplexe Verhältnis von nuklearen, konventionellen und Abwehrfähigkeiten bleibt hingegen noch ungeklärt.

Vermutlich wird man nicht alle Fragen schlüssig und zur Zufriedenheit aller beantworten können. Formelkompromisse werden bleiben und gehören zur Bündnisrealität. Allerdings kommt die NATO nicht umhin, diese Frage zumindest im Kreis ihrer Mitglieder zu thematisieren. Ein neuer Deterrence and Defence Review – vermutlich unter einem anderen Namen – ist unabdingbar.

Published Online: 2017-12-14

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 1.12.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/sirius-2017-0086/html
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