„Die geopolitische Herausforderung, die von Moskaus räuberischem (sic) Verhalten ausgehe“, sei, so schreibt Frank G. Hoffman in seiner Einleitung, eine zentrale strategische Herausforderung für die USA. Putin möge keine direkte Auseinandersetzung mit Washington anstreben, versuche aber, an der NATO-Ostflanke Pufferstaaten in einer privilegierten russischen Einflusszone zu etablieren und damit auch die Unabhängigkeit zahlreicher NATO-Mitgliedsstaaten einzuschränken. Dies gefährde vor allem im Ostseeraum Europas Stabilität und Wohlstand und berühre auch die Interessen der USA: Eine Neubewertung der russischen Absichten und der Handlungsfähigkeit der NATO in der Region sei daher unerlässlich. Vor diesem Hintergrund gliedert Frank G. Hoffman seine Analyse in 4 Kapitel: (1) Szenario eines russischen hybriden Angriffs auf NATO-Staaten und -Partner; (2) Untersuchung der Charakteristika und potentiellen Angriffsflächen im Ostseeraum; (3) Beschreibung der russischen Aktivitäten in der Region und (4) Vorschläge für eine regionale maritime Strategie und für einen Fähigkeitsaufbau der NATO im Ostseeraum.
Frank G. Hoffman leitet seine Analyse mit einem Szenario zu einem konzertierten hybriden Angriff Russlands auf mehrere Ostsee-Anrainer (Baltikum, Skandinavien, Polen und Deutschland) ein. Es illustriert auf beeindruckende Weise, mit welch geringem Aufwand die Sicherheitsarchitektur des Westens ins Wanken gebracht werden könnte. Das Szenario unterstreicht die zunehmende Verwundbarkeit des Westens infolge nationalistischer Tendenzen und aufgrund einer wachsenden Kluft zu einzelnen Verbündeten (v. a. Türkei und Polen), aber auch aufgrund von Zweifeln an einem verlässlichen Beistand der NATO im Krisenfall – die sich im Szenario als zutreffend erweisen.
Der Ostseeraum ist mit den NATO-Gipfeln von 2014 (Wales) und 2016 (Warschau) stärker in den Fokus der Allianz gerückt. Hoffman kritisiert jedoch, dass die strategische Diskussion zu sehr auf konventionelle militärische Sicherheit fokussiert sei und die Bedeutung von wirtschaftlichem Wohlstand (und seiner maritimer Dimension) für die Sicherheit in der Region vernachlässige. Die Ostsee mit ihren rund 415.000 km² habe sich in den vergangenen 15 Jahren zu einem bedeutenden Wirtschaftsraum entwickelt, eine Verdopplung des heutigen Handelsvolumens binnen 10 Jahren gilt als wahrscheinlich. Rund 40 % des russischen internationalen Handels würden über die Ostsee abgewickelt, täglich seien rund 2.500 Schiffe in der Ostsee unterwegs. Die Seerouten zwischen Ostsee und Nordsee/Nordatlantik (Kattegat, Skagerrak und Nord-Ostseekanal) dienten dem Transport von täglich rund 3,3 Mio. Barrel Kohlenwasserstoffprodukten und würden jährlich von mehr als 125.000 Schiffen durchkreuzt. Dieses enorme Volumen werde ganz überwiegend von nur acht Großhäfen umgesetzt, deren verletzliche Infrastruktur äußerst kritisch für Handel und Kommunikation in der Region sei.
Hoffman identifiziert insgesamt sieben zentrale Angriffsflächen in der Ostseeregion: (1) die freie Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der Seewege; (2) die Energieverteilungszentren und kritische Infrastruktur; (3) die Häfen und ihre logistische Anbindung; (4) die Unterwasser-Infrastruktur; (5) den Schutz von Handel und Fischerei; (6) den Informationsraum und (7) die politische Integrität und gesellschaftliche Resilienz.
Diese Angriffsflächen gelte es mit Blick auf die russischen Aktivitäten (Übungen, Grenzverletzungen, politische Provokationen und Drohungen u. a. m.) im Ostseeraum und unter Berücksichtigung des Modernisierungsprogramms für die russischen Streitkräfte zu analysieren. Besonders die Stationierung von Mittelstreckenraketen und der Aufbau von konventionellen Verteidigungssystemen in der russischen Enklave Kaliningrad könnten die Fähigkeiten der NATO, angemessen auf Krisen im Ostseeraum zu reagieren, empfindlich beinträchtigen. Hoffman weist darüber hinaus auf das Einsatzpotential russischer U-Boote und kleinerer Schiffe in hybriden Angriffsszenarien hin. Auch kommerzielle Schiffe und die derzeit von Russland entwickelten unbemannten Unterwasser- und Amphibienfahrzeuge könnten leicht für solche Angriffe missbraucht werden. Russland verfüge darüber hinaus über ein großes Minen-Arsenal, denen eine erhebliche Bedeutung in A2/AD-Szenarien zukomme.
Die militärische Überlegenheit der NATO sei für den Ostseeraum mit seinen geographischen Besonderheiten (dicht besiedelte, flache Küsten) nur begrenzt aussagekräftig oder sogar weitgehend irrelevant, sobald sich der Gegner unkonventioneller Methoden und Instrumente bediene. Daher könnten auch die bisherigen Abschreckungsmaßnahmen an der NATO-Ostflanke im Rahmen des Readiness Action Plan mit ihrer ohnehin vergleichsweise kleinen maritimen Komponente im Ostseeraum wenig ausrichten.
Was also tun? Nach Auffassung von Frank G. Hoffman sollte die NATO eine regionale maritime Sicherheitsstrategie für den Ostseeraum und Nordatlantik erarbeiten, um bestehende Fähigkeitslücken und –mängel zu beheben. Eine solche Strategie müsse ausdrücklich strategische Herausforderungen wie den freien Zugang zu den Meeren und Seehandelswegen, kritische Infrastruktur, Energie sowie den Schutz maritimer Ressourcen und der Umwelt einschließen. Sie sollte sich aus den folgenden Elementen zusammensetzen:
Ein verbessertes Verständnis der maritimen Dimension im Ostseeraum: verstärkte Zusammenarbeit mit zivilen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren
Verteilte Abschreckung: Ausweitung der bisherigen Abschreckungsmaßnahmen auf einen flächendeckenden Schutz der Ostseeküsten; Einbeziehung von Handelsschiffen und Küstenwachen; Sicherung des Zugangs zur Region für Folgekräfte im Krisenfall; Verbesserung der Resilienz von NATO-Mitgliedstaaten und -Partnern
Kritische Infrastruktur und Hafensicherheit: Investitionen in u. a. unbemannte Unterwasser-Aufklärung und in offensive Fähigkeiten zur Abschreckung und/oder Neutralisierung von Unterwasser-Angriffen unter Einbeziehung von NATO-Partnern; Schaffung einer Standing Maritime Group für den Ostseeraum mit militärischen und zivilen Kräften als erster Schritt zur Entwicklung eines größeren Konsortiums
Kooperative oder verbündete Planung: Ausweitung von smart defence- und pooling-Ansätzen auf die speziellen Herausforderungen im Unterwasser-Bereich; stärkere Einbeziehung von ziviler Expertise u. a. aus den Bereichen public diplomacy und soziale Medien
Stärkung und Einsatzbereitschaft der Fähigkeiten zur Unterwasser-Kriegsführung: Revitalisierung und Ausbau der Fähigkeiten zur Unterwasser-Aufklärung und Anti-U-Boot-Kriegsführung; Sicherstellung der Einsatzbereitschaft auch unter den teils widrigen Bedingungen der Ostsee.
Erweiterte alliierte regionale Sicherheitsarchitektur und Koordinierung: Verstärkte Kooperation mit EU, regionalen Initiativen (z. B. NORDEFCO) und relevanten Stakeholdern; Verfolgen eines umfassenden kollektiven Sicherheitsansatzes; Aufhebung der institutionellen Abgrenzung, um Resilienz zu erhöhen
Der erforderliche Fähigkeitsausbau und -aufbau solle im Rahmen einer Maritime Security Enhancement Initiative erfolgen, z. B. unter Rückgriff auf Mittel aus der European Reassurance Initiative. Darüber hinaus solle die NATO ein eigenes Center of Excellence for Undersea Warfare aufbauen.
Der Autor kommt in seinem Beitrag immer wieder auf das fehlende Bewusstsein für (v. a. maritime) Konfliktpotentiale im Ostseeraum zu sprechen und schließt mit der Warnung, dass gerade dieser Mangel, gepaart mit unzureichenden Fähigkeiten, das Risiko für einen hybriden oder konventionellen Konflikt erheblich steigern würde – denn Russland verfüge über ein komplettes Fähigkeitsspektrum in allen Dimensionen und Organisationsbereichen, nicht nur an den Landgrenzen zur NATO. Eine Rückversicherung des Baltikums müsse auch darin bestehen, die Bewegungsfreiheit der NATO im Ostseeraum zu erhalten und die Kosten für eine (auch hybride) russische Aggression möglichst hoch zu treiben.
https://www.fpri.org/article/2017/06/assessing-baltic-sea-regional-maritime-security/
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