
Die Warnung vor Rüstungswettläufen gehört heute zum Standardrepertoire vieler deutscher Politiker und Politikerinnen, vor allem unter Sozialdemokraten, Grünen und Linken. Derartige Warnungen sind nicht neu, sie wurden schon im Reichstag vor über hundert Jahren geäußert. In den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts galten Rüstungswettläufe als die eigentliche Ursache für den Ersten Weltkrieg. Vor dem Hintergrund des Scheiterns der britischen Beschwichtigungspolitik gegenüber Hitler – die dezidiert auf der Überlegung beruhte, dass es gelte einen Rüstungswettlauf zu verhindern – wurde es dann lange still um dieses Thema. Erst der Verlauf der Rüstungskonkurrenz zwischen NATO und Warschauer Pakt (insbesondere bei den nuklearstrategischen Waffen) brachte das Thema wieder zum Vorschein, verbunden mit Warnungen vor den tödlichen Konsequenzen, die der nuklearstrategische Rüstungswettlauf haben könnte. Nach dem Ende des Kalten Kriegs und der damit einhergehenden massiven Abrüstung sank das Interesse an Rüstungswettläufen wieder deutlich ab. Erst in den vergangenen Jahren gibt es die ersten Hinweise auf die Möglichkeit von Rüstungswettläufen, etwa zwischen China und den USA.
Angesichts einer mehr als hundert Jahre währenden Debatte macht es Sinn, die Bedeutung von Rüstungswettläufen (oder besser gesagt: von Rüstungskonkurrenzen) in historisch vergleichender Weise wissenschaftlich zu untersuchen. Dieses Ziel haben sich die Herausgeber des vorliegenden Buches gesetzt und sie sind dabei sehr systematisch und konsequent vorgegangen. Bei ihnen handelt es sich um ausgewiesene Experten für Militärgeschichte und Strategische Studien, die an renommierten Universitäten lehren (Joseph Maiolo vom King's College, David Stevenson von der London School of Economics und Thomas Mahncken vom US Naval War College sowie der Paul Nitze School der Johns Hopkins University). Sie haben eine Gruppe von einschlägigen Historikern darum gebeten, im Rahmen von Fallstudien die Gültigkeit der gängigen Theorien zu Rüstungswettläufen zu überprüfen und zudem zu untersuchen, wie Rüstungskonkurrenzen enden.
Die Grundidee des Buches stellt Joseph Maiolo in der Einleitung vor. Er zeigt die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens über Rüstungswettläufe im Laufe der vergangenen 120 Jahre auf und kommt zu dem Ergebnis, dass es bislang wenig gesicherte Erkenntnisse zu den Ursachen, den Dynamiken und den Folgewirkungen von Rüstungswettläufen bzw. Rüstungskonkurrenzen gibt. Er identifiziert drei theoretische Erklärungsansätze, die die wissenschaftliche Debatte bislang anleiten: (1) ein Ansatz, der technologische Innovation als die treibende Kraft von Rüstungskonkurrenz ansieht und demzufolge Rüstungswettläufe ein typisches Begleitphänomen der Industrialisierung seien; (2) ein Erklärungsansatz, demzufolge es vor allem innenpolitische und wirtschaftliche Interessen sind, die die Dynamik von Rüstungsprozessen antreiben; (3) und ein weiterer Ansatz, der die Dynamik von Aktion und Reaktion in den zwischenstaatlichen Beziehungen in den Vordergrund stellt. Alle drei Erklärungsansätze schließen sich nicht gegenseitig aus, sie markieren aber unterschiedliche Hypothesen.
Die 12 Fallstudien beginnen mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, wo vor allem das maritime Wettrüsten zwischen Deutschland und Großbritannien sowie die Rüstungskonkurrenz zu Lande analysiert werden. Drei Fallstudien befassen sich mit der Zwischenkriegszeit und nehmen jeweils die Konkurrenz bei Marinestreitkräften, Landstreitkräften sowie bei Luftstreitkräften auf. Drei weitere Fallstudien befassen sich mit der Zeit des Kalten Kriegs und thematisieren die nukleare Rüstungskonkurrenz aus amerikanischer und aus sowjetischer Sicht sowie die weitere Rüstungskonkurrenz zwischen NATO und Warschauer Pakt. Zwei weitere Kapitel nehmen sich den israelisch-arabischen Konflikt und den indisch-pakistanischen Konflikt vor und untersuchen, inwieweit Theoreme des Rüstungswettlaufs diese Konflikte erklären können. Die letzten zwei Kapitel befassen sich mit Rüstungskonkurrenzen seit dem Ende des Kalten Krieges mit besonderer Berücksichtigung des Aufwuchses Chinas und der Konkurrenz zwischen China und den USA.
Jedes dieser Kapitel ist gründlich recherchiert und die Autoren gehen mit großer Gewissenhaftigkeit an die Überprüfung der Hypothesen. Es gibt zwar keinen gemeinsamen Kanon an Schlussfolgerungen und Empfehlungen, aber es bleiben doch eine Reihe von Befunden, die von David Stevenson im Abschlusskapitel zusammengefasst werden. Diese Befunde sind es wert, wiedergegeben zu werden, denn sie lassen ein weitgehend stimmiges Bild über die Bedeutung zu, die nach Ansicht der in diesem Sammelband vertretenen Wissenschaftler Rüstungswettläufe in der Vergangenheit gehabt haben:
Rüstungswettläufe sind ein Phänomen der Moderne und lassen sich seit den 1840er Jahren identifizieren. Allerdings ist nicht jede Rüstungskonkurrenz gleich ein Rüstungswettlauf (arms race). Von Letzterem sollte man nur dann sprechen, wenn sich eine intensive Interaktion (Aktion-Reaktion) der Rüstungsanstrengungen zwischen gegnerischen Parteien nachweisen lässt, bei der es zu einer massiven, aufeinander bezogenen Erhöhung des Rüstungsniveaus kommt, die auch erhebliche ökonomische Belastungen (gemessen am Anteil der Militärausgaben am Bruttosozialprodukt) zur Folge hat.
Was die Ursachen von Rüstungswettläufen betrifft, so könne keine der drei Erklärungsansätze überzeugen. Die These einer Technologie-induzierten Rüstungsdynamik sei zwar nicht grundsätzlich von der Hand zu weisen, da unter Bedingungen strategischer Gegnerschaft technologische Innovationen zu Verunsicherung beitragen würden und die beteiligten Regierungen versuchen könnten, mögliche Gewinne der anderen Seite zu antizipieren. Aber Innovation alleine mache keinen Rüstungswettlauf, es komme immer auf die strategische Ausgangslage an (d. h. besteht eine konfrontative Lage oder nicht). Auch die These einer innenpolitisch verursachten Rüstungsdynamik wird verworfen. Die These, wonach wirtschaftliche und innenpolitische Pressuregroups die Rüstungspolitik von Staaten bestimmen, lässt sich für keinen der beobachteten Rüstungswettläufe bestätigen. Zwar gäbe es Rüstungskonkurrenzen, die durch innenpolitisch motivierte Entscheidungen von Regierungen initiiert werden. Aber diese Motive seien entweder ideologischer Natur oder basierten auf grundsätzlichen machtpolitischen Entscheidungen. Auch die These eines Aktions-Reaktionsmechanismus, der gleichsam als unsichtbare Hand den Verlauf von Rüstungskonkurrenzen bestimme, lasse sich nicht belegen. Derartige Mechanismen lassen sich zwar beobachten, sie hätten aber weitgehend beschreibenden, weniger erklärenden Wert.
Die Entstehung und der Verlauf von Rüstungskonkurrenzen oder gar von Rüstungswettläufen muss in sehr viel komplexeren Zusammenhängen begriffen werden. Rüstungskonkurrenzen werden durch politische Entscheidungen und denen zugrundeliegende Antagonismen oder Ideologien angetrieben. Unter derartigen Bedingungen können zwar technologische Entwicklungssprünge, Aktion und Reaktion oder auch innenpolitische Kräfte diese Dynamik verschärfen. Aber die Ursachen liegen woanders. Zudem kann das Vorhandensein einer Rüstungsdynamik bzw. eines Rüstungswettlaufs auch zu einer Dynamik der beiderseitigen Beruhigung der Situation führen, etwa dann, wenn politische Entscheidungsträger auf beiden Seiten die Rüstungskonkurrenz als riskant einschätzen.
Rüstungswettläufe müssen nicht notwendigerweise zu Kriegen führen. Entscheidend ist ob eine Rüstungskonkurrenz stabil bleibt oder nicht. Eine Rüstungskonkurrenz kann stabilisiert werden, sei es durch Verhandlungen oder dadurch, dass Streitkräfte und Streitkräftestrukturen entstehen, bei denen sich keine Seite ausrechnen kann, erfolgreich einen Angriffskrieg zu führen. Eine instabile Rüstungskonkurrenz – bei der eine Seite sich Vorteile ausrechnet, wenn sie frühzeitig und entschieden losschlägt – kann in einen Krieg übergehen, eine stabile Rüstungskonkurrenz bleibt beherrschbar.
Im Rahmen einer stabilen Rüstungskonkurrenz oder eines stabilen Rüstungswettlaufs (d. h. wo keine Seite sich einen strategischen Gewinn durch die Eröffnung eines Krieges versprechen kann) kann es für eine am status quo orientierte Politik durchaus Sinn machen, die Konkurrenz bewusst zu verschärfen, um einer revisionistischen Macht die politischen und ökonomischen Kosten der Rüstungskonkurrenz zu erhöhen. Dies haben die USA und die NATO in den 1980er Jahren erfolgreich gegenüber der Sowjetunion praktiziert und damit den Weg für eine Beendigung des Ost-West-Konflikts und den Rüstungswettlauf geebnet. Eine derartige Politik setzt aber die Fähigkeit voraus, innenpolitisch durchzuhalten und dem strategischen Gegner eine politische Brücke zu bauen, ansonsten wäre eine aktive Politik der Verschärfung und Ausweitung einer Rüstungskonkurrenz mit Risiken behaftet.
Die Jahre seit dem Ende des Ost-West-Konflikts sind durch die Abwesenheit von Rüstungswettläufen gekennzeichnet. Es bestehen aber Beziehungen der Rüstungskonkurrenz, die in Rüstungswettläufe übergehen können. In erster Linie enthält das Verhältnis zwischen den USA und China das Risiko eines Rüstungswettlaufes.
Abschreckungspolitik kann ein Instrument sein, um eine Rüstungskonkurrenz oder gar einen Rüstungswettlauf zu stabilisieren oder zu beenden, sie kann diesen aber auch verschärfen. Letztlich hängt es von der Fähigkeit ab, die spezifische Dynamik einer jeden Rüstungskonkurrenz vor dem Hintergrund derjenigen politisch-strategischen Motive zu verstehen, die die andere Seite antreiben.
Das vorliegende Buch kann nur jedem Leser empfohlen werden, der abgewogene und empirisch untermauerte wissenschaftliche Erkenntnisse zu Rüstungswettläufen, Rüstungskonkurrenzen und der Rolle von Abschreckungspolitik sucht. Es ist zu hoffen, dass dieses Buch besonders von denjenigen Politikern und Politikerinnen gelesen wird, die hierzulande die Warnung vor Rüstungswettläufen wie eine Monstranz vor sich hertragen.
© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston