Kurzfassung:
In einer Zeit, in der sich die internationalen Beziehungen in eine Richtung entwickeln, die stärker von strategischer Konfrontation gekennzeichnet ist, nimmt Abschreckung wieder einen zentralen Stellenwert ein. Der Artikel gibt einen Überblick über die Kernfragen westlicher Abschreckungspolitik während des Kalten Krieges und in der heutigen Zeit. Während sich die Umstände erheblich geändert haben, bleibt auch heute das zentrale Anliegen von Abschreckung dasselbe wie im Kalten Krieg: Wie hält man angesichts von Gegnern, die ihrerseits mit verheerenden Atomangriffen Vergeltungsschläge gegen die Vereinigten Staaten ausführen können, die Glaubwürdigkeit der US-amerikanischen Drohung aufrecht, auch zur Verteidigung von Alliierten Atomwaffen einzusetzen? Es besteht kaum ein Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Drohung der Vereinigten Staaten oder anderer Atommächte, im Fall eines Atomangriffs auf ihre eigenen Staatsgebiete Vergeltung zu üben, sofern die Vergeltungskapazitäten den Erstangriff überstehen. Das Problem liegt in der Glaubwürdigkeit der erweiterten US-amerikanischen Abschreckung.
Abstract:
Against the backdrop of an international system becoming more confrontational in nature, the subject of deterrence is back again. This article provides an overview of the nature of the deterrence problem during the Cold War period and today. While the broader circumstances have changed markedly, today, the central issue of deterrence remains the same as in the Cold War: how to maintain the credibility of the American threat to employ nuclear weapons in the defense of allies in the face of adversaries that can retaliate with devastating nuclear attacks against the US itself. There is little doubt about the threat of the US or other nuclear powers to retaliate in the event of a nuclear attack against their own homelands, so long as those retaliatory forces can survive the initial attack. The problem is the credibility of US extended deterrence.
1 Einleitung
Abschreckung war das Kernstück westlicher Verteidigungspolitik während des Kalten Krieges. Mit ihr verband sich die Vorstellung, dass es sinnvoll und möglich ist, sich gegen einen militärisch hochgerüsteten Gegner behaupten zu können, ohne Streitkräfte aufstellen zu müssen, die diesem gleichwertig sind oder die gar in der Lage wären, dessen Territorium zu erobern.
Abschreckung ist einerseits eine defensive Form des Umgangs mit militärischen Bedrohungen und zielt auf Moderation und Kriegsverhinderung, andererseits kann sie nur dann wirksam sein, wenn sie auch extreme militärische Bedrohungen beinhaltet – wie den Einsatz von Kernwaffen. Mit deren Entwicklung hatte sich für viele nach dem Zweiten Weltkrieg die Hoffnung verbunden, dass Kriegsverhinderung durch Abschreckung nicht nur möglich, sondern auch geboten sei.
Diesem Gedanken hatte 1946 als Erster der US-amerikanische Strategieexperte Bernard Brodie Ausdruck gegeben, als er schrieb: „Bisher war es die Hauptaufgabe von Militärapparaten, Kriege zu gewinnen. Nunmehr ist es deren Aufgabe, diese zu verhindern.“[1] Vor dem Hintergrund der Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg und angesichts des anfänglichen Monopols der USA bei Kernwaffen war daher die Idee verlockend, Kriegsverhinderung durch nukleare Abschreckung zu erreichen.
Diese einfache Gleichung war aber nur für eine kurze Zeit gültig. Da die Sowjetunion und in der Folge noch andere Staaten in den Besitz von Kernwaffen gelangten und angesichts der Dynamik der militärischen Lage in Mitteleuropa sowie der quälenden Debatten innerhalb der westlichen Allianz über die Glaubwürdigkeit (aber auch die moralische Zulässigkeit) einer erweiterten Abschreckung, wurde die Abschreckungsdebatte mit Problemen konfrontiert, die nie vollständig gelöst werden konnten und die erst mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes aus dem Blickfeld verschwanden.
In der heutigen Zeit beginnen wir, mit Blick auf Russland, China und den Iran erneut über Abschreckung nachzudenken. Dabei stellen sich teilweise alte, aber auch neue Probleme. Im Folgenden werden zunächst die Abschreckungsdebatten der Zeit des Kalten Krieges noch einmal in Erinnerung gerufen, um dann die neuen Herausforderungen und Probleme einer Abschreckungspolitik aufzugreifen.
2 Abschreckung in Zeiten des Kalten Kriegs
Für die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten diente Abschreckung zu Beginn des Kalten Kriegs im Wesentlichen dem Ziel, ihrer Drohung Glaubwürdigkeit zu verleihen, auf nicht-atomare Angriffe der UdSSR mit einem Atomangriff reagieren zu können. Bei dieser Drohung lag der Schwerpunkt der Abschreckung auf Strafe (deterrence by punishment): auf dem Versprechen, der UdSSR einen Schaden zuzufügen, der weit größer wäre als jeglicher etwaige Nutzen, den die sowjetische Führung ihres Erachtens aus einem Angriff ziehen könnte. Daneben gab es das Konzept der Abschreckung durch Vereitelung oder der Verneinung militärischer Erfolge von Aggression (deterrence by denial).[2]
Zwar war während des Kalten Kriegs die Sowjetunion das Hauptziel von Abschreckung durch Bestrafung, doch das Konzept wurde auch auf andere potenzielle Gegner und geografische Räume ausgeweitet, beispielsweise zum Schutz Japans und Südkoreas nicht nur vor der Sowjetunion, sondern auch vor China und Nordkorea.
Die US-amerikanische Abschreckungsdoktrin durchlief dabei verschiedene Phasen. In den Fünfzigerjahren verfolgten die Vereinigten Staaten eine Strategie der „massiven Vergeltung“, die auf der Drohung beruhte, auf einen Angriff der Sowjetunion mit Gegenangriffen auf deren Städte zu reagieren und zwar mit den zur damaligen Zeit entwickelten Wasserstoffbomben. Die Vereinigten Staaten stationierten in Europa auch taktische Atomwaffen, die gegen jegliche Form einer sowjetischen Invasion eingesetzt werden konnten; damit sollte die Unterlegenheit der NATO bei konventionellen Streitkräften ausgeglichen werden. Im Hintergrund stand dabei die Drohung massiver Vergeltung für den Fall, dass die NATO-Streitkräfte nicht in der Lage wären, die Sowjetunion und deren Alliierte aus dem Warschauer Pakt abzuwehren.
In den späten Fünfzigerjahren zeichnete sich ab, dass die UdSSR bald über Kapazitäten für einen Angriff mit Nuklearwaffen auf US-amerikanisches Staatsgebiet verfügen würden: zuerst mit Langstreckenbombern, dann mit Interkontinentalraketen und anschließend mit U-Boot-gestützten ballistischen Raketen, wobei die U-Boote in internationalen Gewässern vor der US-Küste patrouillieren konnten. Damit waren die Vereinigten Staaten ihrerseits Atomangriffen ausgesetzt und es stellte sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit der US-amerikanischen Drohungen. Wie konnte erwartet werden, dass die Regierung sowjetische Städte attackiert, wenn US-amerikanische Städte ihrerseits massiven atomaren Vergeltungsschlägen ausgesetzt würden?[3]
Zudem erhob sich eine moralische Frage: Durfte Abschreckung auf der Drohung beruhen, unbewaffnete, unschuldige Zivilisten zu töten? In den frühen Sechzigerjahren begann die Kennedy-Regierung, eine alternative Strategie zu entwickeln. In den darauffolgenden drei Jahrzehnten setzten die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten diese Anstrengungen fort, wobei implizit davon ausgegangen wurde, dass eine neue Strategie mehr oder weniger die gleichen Elemente beinhalten könnte und sich gelegentlich nur die Terminologie änderte. Wichtig war, dass es um begrenzte atomare Reaktions- und Verteidigungsoptionen ging.
2. Begrenzte Optionen
Bei den begrenzten (oder selektiven) atomaren Optionen sollte die Strafandrohung zunächst von sowjetischen Städten auf die Streitkräfte und deren Infrastruktur verlagert werden. Derartige Gegenangriffe sollten dazu beitragen, dass weniger Zivilisten getötet würden, da viele militärische Ziele fern von Städten lagen. Eine solche Strategie könnte, so die Hoffnung, die UdSSR dazu bewegen, sich eine ähnliche Strategie zu eigen zu machen und im Kriegsfall einen Angriff auf Zivilisten zu vermeiden. Sollte es zu einer Eskalation kommen, würden am Ende doch wieder massive Gegenangriffe auf die Sowjetunion stattfinden und zum Tod zahlreicher Zivilisten führen. Somit war das Glaubwürdigkeitsproblem vielleicht ein wenig kleiner geworden, es war aber nicht vom Tisch.[4]
Ein weiterer Kritikpunkt an einer solchen Gegenangriffs-Strategie war, dass daraus strategische Instabilität resultieren könnte. Wenn die zuerst angegriffene Seite in der Lage ist, genügend militärische Kapazitäten des Gegners zu zerstören, um somit den Schaden eines dann zu erwartenden Gegenschlages zu begrenzen, könnte dies für jede Seite ein Anreiz sein, bei einer Krise einen die andere Seite entwaffnenden Erstschlag, ja sogar einen Überraschungsangriff zu starten.[5] Das unter der Kennedy-Regierung entwickelte Konzept begrenzter atomarer Optionen bestand daher darin, im Kriegsfall Atomangriffe auf eine geringere Anzahl von Zielen zu beschränken. Damit verband sich die Hoffnung, begrenzte Vergeltungsschläge dieser Art könnten die gegnerische Seite dazu veranlassen, die Aggression insgesamt einzustellen und Frieden anzustreben. Begrenzte Angriffe wären dann als ein Zeichen zu verstehen, mit dem die USA ihre Bereitschaft signalisierten, den Konflikt mit einem massiven Angriff auf sowjetisches Staatsgebiet noch weiter zu eskalieren.
Begrenzte Optionen waren Teil einer Strategie abgestufter Reaktionen. Dabei würden begrenzte Angriffe eine weitere Eskalation nach sich ziehen, sofern der Gegner seine Aggression nicht einstellte. Ziel war es, ihn zur Besinnung und zum Verzicht auf weitere Aggressionen zu veranlassen. Aus dieser Diskussion über begrenzte Optionen und abgestufte Reaktionen erwuchs die 1967 verabschiedete NATO-Strategie der Flexiblen Erwiderung (Flexible Response). Diese Strategie, so hieß es in dem Dokument der NATO, „basiert auf einem flexiblen und ausgewogenen Spektrum angemessener konventioneller und atomarer Reaktionen auf jede Art von Aggression oder Aggressionsdrohung“.[6]
Lange vor der Verabschiedung der Strategie der Flexiblen Erwiderung hatten die Vereinigten Staaten 7.000 Nuklearsprengköpfe für Artillerie, Raketen, Landminen und Luftbomben in Europa stationiert. Viele davon wären im Bedarfsfall von nicht-US-amerikanischen alliierten Truppen eingesetzt worden, allerdings im Rahmen von atomaren Teilungsvereinbarungen zwischen den Vereinigten Staaten und den NATO-Alliierten, bei denen die Waffen stationiert waren. Diese in Europa stationierten Atomwaffen waren bestens für die Strategie der Flexiblen Erwiderung geeignet, da sie sehr vielfältig eingesetzt werden konnten.
Bis in die späten Siebzigerjahre hinein enthielt dieses Konzept eine Eskalationsleiter, auf der jeder Schritt auf die nächsthöhere Stufe führte. Dies hatte auch eine regionale Dimension, weil begrenzte nukleare Vergeltungsoptionen, die von Truppen auf dem europäischen Kontinent umgesetzt werden konnten, als glaubwürdiger erachtet wurden als nukleare Optionen, die vom Boden der Vereinigten Staaten ausgingen. Der Doppelbeschluss der NATO von 1979, US-amerikanische taktische atomare Mittelstreckenwaffen[7] in fünf NATO-Mitgliedstaaten zu stationieren, beruhte explizit auf diesem Konzept, denn: Die sowjetischen Atomwaffenentwicklungen „lassen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Abschreckungsstrategie der Bündnispartner aufkommen, weil sie deutlich zeigen, dass das Spektrum, das der NATO für eine atomare Reaktion auf eine Aggression zur Verfügung steht, Lücken aufweist.“[8]
Die Strategie der abgestuften Reaktion rief viele Kritiker auf den Plan, die Zweifel an der Glaubwürdigkeit ebenso aufwarfen wie an der Ethik nuklearer Abschreckung. Einige europäische Kritiker sahen darin den Versuch der Vereinigten Staaten, sich vor einem Atomkrieg abzuschirmen, indem sie diesen auf Europa beschränkt hielten.[9] Der Krieg mochte aus US-amerikanischer Perspektive „begrenzt“ sein, aus europäischer Perspektive wäre er in jedem Fall katastrophal gewesen. Ein weiterer Kritikpunkt war, dass sich die sowjetische Führung einen Atomkrieg nicht als Abfolge von Phasen vorstellte, sondern sie neben konventionellen Waffen gegebenenfalls Atomwaffen einsetzen würde, um einen entscheidenden militärischen Sieg in Europa sicherzustellen. Sofern sie sich überhaupt eine Grenze setzte, dann die, dass bei einem Krieg in Europa die Vereinigten Staaten und die UdSSR Schongebiete sein könnten, ein Konzept, das durch den NATO-Doppelbeschluss unterminiert wurde.[10]
Während der ersten Jahre des Kalten Krieges entwickelten Großbritannien und Frankreich jeweils eigene Atomwaffen. Den Briten ging es vor allem darum, den Status einer Großmacht beizubehalten: Großmächte sollten Atomwaffen haben und sich nicht auf die US-amerikanische Atomabschreckungskraft verlassen, zumindest nicht gänzlich. Für Frankreich galt dies ebenfalls, doch wurde hier explizit die Glaubwürdigkeit einer US-amerikanischen Atomabschreckung als Schutzfaktor für Frankreich infrage gestellt. Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten waren das britische und das französische Atomwaffenarsenal relativ klein; man verließ sich hauptsächlich auf U-Boot-gestützte ballistische Raketen, wobei die Strategie darin bestand, diese als Vergeltungswaffe gegen hochrangige Ziele des potenziellen Gegners einzusetzen, während des Kalten Kriegs also der Sowjetunion.[11]
Weitere bedeutende Militärmächte in Europa und anderswo – Deutschland, Italien, Japan und Südkorea – entwickelten selbst keine Atomwaffen. Das hatte unterschiedliche Gründe, allen war gemein, dass sie letztendlich auf die Glaubwürdigkeit der atomaren Abschreckung durch die Vereinigten Staaten setzten. So wurde die Strategie der erweiterten Abschreckung seitens der Vereinigten Staaten zu einem der Grundpfeiler der Nichtverbreitung von Atomwaffen.
Dieser kurze Überblick über die Denkweise der Vereinigten Staaten und ihrer Alliierten, in deren Zentrum begrenzte Optionen als Mittel zur Unterstützung der Glaubwürdigkeit atomarer Abschreckung während des Kalten Krieges standen, kann der Tiefe und Qualität dieser Denkweise und der Diskussion darüber nicht gerecht werden. Die beste Übersichtsdarstellung stammt von Lawrence Freeman.[12]
2.2 Verteidigungsmaßnahmen
Wenn es der Abschreckung durch Bestrafung an Glaubwürdigkeit mangelte, kann Abschreckung durch Vereitelung (eines Angriffserfolgs) hilfreich sein. Dieser Gedanke stand hinter dem konstanten Eintreten der Vereinigten Staaten (und vieler anderer) für Verbesserungen bei den konventionellen Verteidigungsfähigkeiten der NATO. Wenn die NATO genügend konventionelle militärische Streitkräfte hätte, um die Kriegsziele der Sowjetunion zu vereiteln, könnte alleine dies sie davon abschrecken, einen bewaffneten Konflikt zu initiieren. Zwar waren die NATO-Streitkräfte während des Kalten Krieges denen des Warschauer Paktes unterlegen, aber aus US-amerikanischer Sicht wäre ein gleichwertiges konventionelles Potenzial erreichbar gewesen, sofern die europäischen Verbündeten mehr in die Verteidigung investiert hätten. Das konventionelle militärische Gleichgewicht in Mitteleuropa wurde bis in die Mitte der Achtzigerjahre als nachteilig für die NATO eingeschätzt. Nach den meisten analytischen Szenarien konnten die Streitkräfte des Warschauer Pakts ihr Ziel, Westdeutschland zu überrollen, erreichen, wenn der Krieg nur mit konventionellen Waffen ausgetragen würde.[13] Die europäischen NATO-Alliierten stationierten eine beträchtliche Anzahl konventionell bewaffneter Streitkräfte an der Seite der US-amerikanischen an der NATO-Hauptfront, doch die Vereinigten Staaten forderten weitere Anstrengungen.
Bei einem konventionellen Krieg sah man die NATO insofern in einem gewissen Vorteil als die Qualität ihrer Streitkräfte besser war, besonders die der Luftwaffe. Doch die NATO sorgte sich, dass dieser Vorteil durch einen Überraschungsschlag des Warschauer Pakts zunichtegemacht werden könnte, insbesondere durch einen schnellen Luft- und Bodenangriff auf NATO-Flugplätze und -Flugzeuge.[14] Die NATO wandte daher erhebliche Mühe für den Schutz ihrer Luftwaffe auf, befestigte Flugplätze und verteilte Flugzeuge auf zweitrangige Stützpunkte. Das war eine Strategie der Abschreckung durch Vereitelung, in diesem Fall mit passiven Verteidigungsmaßnahmen. Desgleichen griff die NATO zu aktiven Verteidigungsmaßnahmen in Form von Boden-Luft-Raketen, eigenen Flugplatz-Verteidigungskapazitäten und Luft-Luft-Raketen.
Es blieb jedoch das Problem, dass selbst bei einer erfolgreichen Abwehr eines lediglich konventionellen Angriffs des Warschauer Paktes dessen zweite strategische Staffel einen Krieg zugunsten Moskaus wenden würde. In der Spätphase des Kalten Krieges schien der Westen dank seiner technologischen Entwicklungen in der Lage zu sein, auch dieses Problem zu lösen und sowohl den Nachschub des Warschauer Pakts an die Hauptfront als auch den Einsatz der zweiten strategischen Staffel gefährden zu können. Vor allem mit dem AirLand-Battle-Konzept verfolgte die NATO eine Offset-Strategie, die die westliche Allianz in die Lage versetzte, auch Truppen hinter der Hauptkampflinie aufzuspüren und erfolgreich anzugreifen. Dies machte die Vorteile des Warschauer Pakts bei den konventionellen Bodentruppen weitgehend zunichte. In den Achtzigerjahren lösten diese Entwicklungen bei hochrangigen sowjetischen Militärführern die Sorge aus, ihr knapper Vorteil bei den konventionellen Ressourcen sei im Schwinden begriffen.[15] Womöglich war Abschreckung durch Vereitelung schließlich doch in Reichweite, als der Kalte Krieg endete.[16]
Ein weiterer Aspekt bei der Abschreckung durch Vereitelung, der sich durch die US-amerikanische Abschreckungsdebatte seit den Fünfzigerjahren zog, war der Einsatz aktiver und passiver Verteidigungsmaßnahmen zum Schutz der US-amerikanischen und alliierten Streitkräfte und Zivilisten vor Atomangriffen. Passive Verteidigungsmaßnahmen wie die Befestigung potenzieller Ziele waren in der Regel unstrittig, sofern man sie nicht als nutzlos erachtete, wie es bei der US-amerikanischen zivilen Verteidigung der Fall war. Auch Mittel der Luftabwehr waren nicht umstritten. Sowohl die Vereinigten Staaten als auch deren Alliierte versuchten, ihre Länder gegen das Eindringen von nuklear bewaffneten Kampfflugzeugen zu schützen. Die Entwicklung der US-amerikanischen und sowjetischen Interkontinentalraketen und U-Boot-gestützten ballistischen Raketen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren machte viele dieser Anstrengungen wirkungslos. Hierdurch verstärkte sich die gegenseitige Verwundbarkeit, da es gegen solche Waffen keine Verteidigungsmöglichkeit gab. Diese Situation war für viele zutiefst verstörend. Fred Iklé fasste das vielleicht am besten in Worte, als er sagte: „[U]nsere Methode, einen Atomkrieg zu verhindern, basiert auf einer seit dem dunklen Mittelalter verpönten Methode der Kriegführung – der Massentötung von Geiseln.“[17]
Ähnlich den begrenzten nuklearen Einsatzoptionen waren Bemühungen um Luft- und Raketenabwehr seit den Sechzigerjahren immer wieder Teil der Abschreckungsdebatte. Sowohl die Vereinigten Staaten als auch die UdSSR entwickelten Raketenabwehrsysteme (anti-ballistic missile – ABM). In den Vereinigten Staaten (und bei ihren Alliierten) waren diese politisch umstritten, da sie darauf abzuzielen schienen, die wechselseitige atomare Verwundbarkeit (mutual assured destruction – MAD) einzuschränken. Diese gegenseitige Verwundbarkeit galt für viele als wesentlicher Bestimmungsfaktor der nuklearstrategischen Stabilität und daher als am ehesten geeignet, einen Atomkrieg zu verhindern.
Das Ausschalten der gegenseitigen Verwundbarkeit war tatsächlich das entscheidende Motiv für die Verfechter der Raketenabwehrsysteme. Doch die Gespräche über eine Begrenzung der strategischen Rüstung (SALT) zwischen den Vereinigten Staaten und der UdSSR führten 1972 zum ABM-Vertrag, in dem unter anderem die Anzahl der Abschussvorrichtungen für Abfangraketen auf hundert Stück für jede Seite begrenzt wurde. Beide Seiten statteten damals ihre Abfangraketen mit Atomsprengköpfen aus, die anfliegende Raketen im Weltall durch eine gezielte Nuklearsprengung unschädlich machen sollten. Die UdSSR entschied sich für den Schutz Moskaus, ihrer nationalen Kommandobehörde, durch ein ABM-System. Die Vereinigten Staaten entschieden sich für den Schutz ihrer Interkontinentalraketen anstelle ihrer nationalen Kommandobehörde. Das US-amerikanische Raketenabwehrsystem wurde allerdings aufgrund seines begrenzten Potenzials alsbald eingestellt.
Die Debatte um die ABM-Abfangraketen flammte wieder massiv auf, nachdem Präsident Ronald Reagan 1983 in einer Rede die Entwicklung eines weitgehend weltraumgestützten Raketenabwehrsystems gefordert hatte (Strategic Defense Initiative – SDI), um sowohl die Vereinigten Staaten als auch deren Alliierte vor sowjetischen Raketen zu schützen. Infolge dieser Rede richtete das Pentagon die „Organisation für die Initiative zur strategischen Verteidigung“ (SDIO) ein, die die Aufgabe hatte, die Vorstellungen des Präsidenten umzusetzen. Diese Organisation und ihre Nachfolgebehörden beschäftigten sich mit den wesentlichen technischen Herausforderungen bei der Entwicklung eines Raketenabwehrsystems. Dazu zählte das Problem, eine „Kugel mit einer Kugel“ zu treffen, da die Vereinigten Staaten nicht länger auf nukleare Abfangraketen setzten, sondern „Hit-to-kill-Systeme“ entwickeln wollten. Dabei wurden erhebliche Fortschritte erzielt und einige Raketenabwehrsysteme sind mittlerweile stationiert worden, doch das Ziel einer Beseitigung der gegenseitigen nuklearstrategischen Verwundbarkeit scheint nach wie vor in weiter Ferne zu liegen.[18]
Bei den Alliierten der Vereinigten Staaten riefen die Bemühungen um Raketenabwehrsysteme aus mehreren Gründen Unbehagen hervor.[19] Erstens trieb sie (ebenso wie die Skeptiker in den Vereinigten Staaten) die Sorge um, dass das Streben nach Raketenabwehr die gegenseitige Verwundbarkeit und damit die gegenseitige Abschreckung unterminieren würde. Es gab auch Bedenken, Raketenabwehrsysteme könnten die strategische Stabilität beeinträchtigen, weil sie es ermöglichten, einen nuklearstrategischen Erstschlag (Entwaffnungsschlag) zu führen und mithilfe eines Raketenabwehrsystems den Schaden zu begrenzen, der aus einem Vergeltungsschlag der anderen Seite resultieren würde. Weitere Bedenken betrafen die technischen und finanziellen Probleme. SDI galt als aufwendig und teuer. Zudem wusste man schon zu Zeiten der SDIO, dass die technischen Herausforderungen beim Schutz vor Angriffen mit ballistischen Flugkörpern viel größer für Länder wären, die nahe an der UdSSR lagen, da die Raketen des Angreifers hier kürzere Flugzeiten hätten und somit die Vorwarnzeit sehr knapp ausfiele. Als die US-amerikanischen Raketenabwehrprogramme sich auf den Schutz vor begrenzten Angriffen von sogenannten Schurkenstaaten wie Iran und Nordkorea verlagerten, fielen solche Einwände größtenteils weg.
Auch wenn sich dieser Abschnitt vor allem mit dem Problem der Ausweitung der US-amerikanischen Abschreckung auf Europa befasst, gilt vieles auch für Alliierte der USA in Asien – Japan, Südkorea und Taiwan. In all diesen Fällen gehörte neben der UdSSR auch China zu den potenziellen Gegnern. In der Spätphase des Kalten Krieges schien China weniger wichtig zu sein, da sich die Beziehungen von gegenseitiger Anerkennung hin zu einer Annäherung bewegten. Im Fall Südkoreas war der Gegner hauptsächlich Nordkorea.
Die strategisch begrenzten nuklearen Optionen der Vereinigten Staaten lassen sich zwar auch auf einen asiatischen Abschreckungskontext anwenden, doch gab es dort keine Parallelen zur Entwicklung der NATO-Doktrin der Flexiblen Erwiderung. In Südkorea hatten sie taktische Atomwaffen stationiert, die dafür sorgten, dass es zumindest dem Anschein nach eine Strategie der abgestuften Eskalation gab. Sie glaubten auch, Nordkorea von einem Angriff abhalten zu können, indem man an der Seite der südkoreanischen Alliierten eine robuste konventionelle Verteidigung aufstellte. Im Vergleich zu Südkorea und Europa haben Japan und Taiwan den Vorteil, dass sie von Wasser umschlossen sind – eine wirksame passive Verteidigung gegen einen Angriff durch Landstreitkräfte. Auch in diesem Zeitraum trugen die Vereinigten Staaten mit starken Ressourcen zur Abschreckung bei.
Im Kalten Krieg weiteten sie die atomare Abschreckung auf Gebiete und Staaten aus, in denen sie wesentliche nationale Sicherheitsinteressen verfolgten. Mit anderen Worten, dort einen Krieg zu verhindern, war das mit der Androhung atomarer Vergeltung verbundene Risiko wert. Andernorts sprachen sie keine Atomdrohung aus, um der Abschreckung Nachdruck zu verleihen, sondern strebten eine Abschreckung durch Vereitelung an. Dies galt vor allem für den Vietnamkrieg. Zwar argumentierten in den Sechzigerjahren dessen Befürworter, die Sicherheit Südvietnams stelle ein wesentliches nationales Sicherheitsinteresse für die Vereinigten Staaten dar – ein Argument, welches, wie sich nach Kriegsende zeigte, nicht richtig war. Aber selbst Nordvietnam wurde nicht explizit mit Atomangriffen bedroht, auch wenn gelegentlich Berichte über angebliche „Studien“ durchsickerten, die diese Möglichkeit diskutierten.[20]
Es stellte sich auch die Frage, ob atomare Abschreckung in Europa oder Asien unterhalb der Schwelle zur Invasion oder zu einem offenen See- oder Luftangriff funktioniert hätte. Wie sah es beispielsweise bei Angriffen sowjetischer Spezialeinheiten auf Häfen, Flugplätze oder Kommunikationseinrichtungen aus? Es ist unwahrscheinlich, dass derartige Aktionen eine massive Reaktion ausgelöst hätten, vermutlich eher eine „Retourkutsche“. Aber das ist heute Spekulation.
3 Nach dem Kalten Krieg
Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa und dem Ende der Sowjetunion entwickelten Russland und die NATO-Staaten kooperative Beziehungen. Teils aufgrund wirtschaftlicher Probleme schrumpften Russlands militärische Kapazitäten merklich, die Bedrohung für Europa löste sich praktisch auf. Die Abschreckungsstruktur wurde daher größtenteils abgebaut. Die Vereinigten Staaten zogen die überwiegende Mehrzahl ihrer konventionellen Streitkräfte ab, desgleichen ihre Atomwaffen; es verblieben nur etwa 50.000 Militärangehörige und einige hundert Atombomben. Die NATO wurde um 13 neue Partner erweitert, darunter alle nicht-sowjetischen Warschauer-Pakt-Mitglieder sowie die drei ehemals sowjetischen baltischen Republiken. Die Grenze zwischen den NATO-Mitgliedstaaten und Russland verschob sich an Russlands Ostgrenze. Ein NATO-Russland-Rat wurde gegründet, um Konsultationen zwischen den NATO-Mitgliedern und Russland zu ermöglichen.
Russland blieb aber eine starke Atommacht mit sowohl strategischen als auch taktischen Atomwaffen. Das strategische Patt zwischen Russland und den Vereinigten Staaten wurde in einer Reihe von Rüstungskontrollabkommen festgeschrieben, wenngleich die Anzahl der Waffen abnahm. Die Vereinigten Staaten hielten es weiterhin für notwendig, Russland abzuschrecken, und setzten ihre Planungen für einen Vergeltungsschlag gegen einen russischen Angriff fort – sofern erforderlich. Begrenzte Optionen blieben damit nahezu mit Sicherheit Teil der Strategie, die Vereinigten Staaten lehnten eine Politik des Verzichts auf den Ersteinsatz von Atomwaffen ab. Sie behielten sich das Recht vor, nötigenfalls mit Atomwaffen auf nicht-atomare Angriffe zu reagieren. Die NATO-Doktrin der Flexiblen Erwiderung blieb unberührt.
Ab Anfang 2000 verschlechterten sich unter der Führung Wladimir Putins die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. Die Ära nach dem Kalten Krieg endete definitiv 2014 mit der Annexion der Krim durch Russland und dessen Beteiligung an Aufständen in der östlichen Ukraine. Die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland sind zwar noch nicht auf dem Niveau eines Kalten Kriegs, doch sicher abgekühlt.
4 Gegenwart: Die Ära nach der Ära nach dem Kalten Krieg
Heute ist das zentrale Anliegen von Abschreckung dasselbe wie im Kalten Krieg: Wie hält man angesichts von Gegnern, die ihrerseits mit verheerenden Atomangriffen Vergeltungsschläge gegen die Vereinigten Staaten ausführen können, die Glaubwürdigkeit der US-amerikanischen Drohung aufrecht, auch zur Verteidigung von Alliierten Atomwaffen einzusetzen? Es besteht kaum ein Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Drohung der Vereinigten Staaten oder anderer Atommächte, im Fall eines Atomangriffs auf ihre eigenen Staatsgebiete Vergeltung zu üben, sofern die Vergeltungskapazitäten den Erstangriff überstehen. Das Problem liegt in der Glaubwürdigkeit der erweiterten US-amerikanischen Abschreckung.
Seit dem Ende des Kalten Krieges hat sich viel geändert. Der Großteil der Veränderungen wirkt sich negativ auf die Glaubwürdigkeit einer erweiterten US-amerikanischen Abschreckung aus:
Erstens wurde in der Zeit seit dem letztmaligen Einsatz von Atomwaffen im Zweiten Weltkrieg die politische Legitimität atomarer Drohungen massiv infrage gestellt. Bedeutende westliche Politiker, darunter der damalige Präsident Barack Obama, befürworteten das Konzept einer atomwaffenfreien Welt. Obama zog offensichtlich auch eine Zustimmung zum Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen in Betracht, was faktisch das Ende einer Ausweitung der atomaren Abschreckung auf konventionelle Angriffe sowie der Strategie der Flexiblen Erwiderung bedeutet hätte. Doch dazu kam es nicht. Beim NATO-Gipfel 2016 bestätigten die alliierten Staats- und Regierungschefs die bisherige Doktrin: „Die NATO ist in der Lage und entschlossen, einem Gegner Kosten aufzubürden, die unzumutbar wären und die die Vorteile, auf die ein Gegner hoffen könnte, bei weitem überträfen.“[21]
Zweitens haben sich in Europa die geografischen Rahmenbedingungen der Verteidigung und Abschreckung nach Osten verschoben. Deutschland und andere europäische Staaten sehen sich nicht mehr mit der Möglichkeit einer groß anlegten Invasion durch die Sowjetunion und deren Alliierte konfrontiert. Doch nun teilen sich fünf NATO-Mitglieder eine gemeinsame Grenze mit Russland. Da es seit Kurzem wiedererstarkt, muss die NATO erneut mit der Gefahr einer möglichen, allerdings räumlich begrenzten Invasion rechnen. Die Verteidigung der drei baltischen Staaten – Litauen, Lettland und Estland – ist besonders knifflig.[22] Bei diesen Ländern besteht nur eine geringe strategische Tiefe zwischen der russischen Grenze und der Ostsee, und es gibt nur wenige Verkehrswege, um Verstärkung heranzuführen. Das Problem besteht darin, dass Russland in einem oder mehreren dieser Länder schnell vollendete Tatsachen schaffen und die NATO dann nicht auf konventionelle Art reagieren könnte.
Das Bündnis hat dieses Problem erkannt und begonnen, durch die rotierende Stationierung gemischter Kampfgruppen im Baltikum dagegen vorzugehen. Diese sorgen, zusammen mit den einheimischen Truppen, zumindest für Abschreckung in Form eines „Stolperdrahts“. Ein russischer Angriff, bei dem NATO-Soldaten getötet würden, speziell US-amerikanische, könnte der erste Schritt nach oben auf der Eskalationsleiter sein und einen Vergeltungsschlag auslösen. Doch es sind wesentlich mehr vorwärts stationierte Truppen und Verstärkungsplanungen erforderlich, wenn die NATO dort eine robuste Verteidigung haben will.[23]
Ein weiterer problematischer Aspekt bei der Verteidigung und Abschreckung im Baltikum ist der Grad, in dem US-amerikanische (und andere) wesentliche nationale Interessen im Baltikum eine Rolle spielen. Solange diese Länder zur UdSSR gehörten, tangierte dies die Interessen der Vereinigten Staaten nicht. Das hat sich geändert. Nunmehr sind sie und andere NATO-Alliierte eine gegenseitige Verteidigungsverpflichtung mit diesen Ländern eingegangen. Man mag darüber streiten, ob dies ein kluger Schritt war oder nicht. Damit wurde aber ein wesentliches nationales Interesse hergestellt: Falls die Vereinigten Staaten und die anderen Alliierten es nicht schaffen, diesen Ländern bei der Verteidigung beizustehen, könnte dadurch leicht der gegenseitige Verteidigungspakt der NATO ins Wanken geraten.
Drittens wurden durch den Abzug der US-amerikanischen taktischen Atomwaffen aus Europa und Südkorea in gewisser Weise die vorhandenen, begrenzten atomaren Reaktionsoptionen der Vereinigten Staaten eingeschränkt. Dies hat zu einer stärkeren Abhängigkeit der nuklearen Abschreckungsgarantie von US-amerikanischen strategischen Atomwaffen geführt. Doch existieren noch Abschreckungsoptionen unterhalb des Einsatzes strategischer US-Systeme. Nach wie vor gibt es speziell ausgerüstete Kampfflugzeuge in Europa, sowohl US-amerikanische wie alliierte, die mit Atombomben bestückt werden können. Auch die konventionellen Angriffsmöglichkeiten der USA haben sich durch den breit gefächerten Einsatz moderner Systeme verbessert, die ursprünglich für die Offset-Strategie in den Achtzigerjahren entwickelt worden sind. Die NATO könnte beschließen, den Krieg auf das Hoheitsgebiet des Gegners auszuweiten und damit potenziell verheerende Wirkung erzielen, ohne zu Atomwaffen zu greifen.
Viertens hat die Nutzung des Weltraums und des Cyberspace durch den militärischen und den zivilen Sektor neue Bereiche für die Kriegsführung eröffnet.[24] Aufklärung, Überwachung, Kommunikations- und Geheimdienste hängen stark von diesen Domänen ab. Viele dieser Systeme wurden ursprünglich nicht für militärische Zwecke konzipiert, daher sind sie anfällig für bewusst eingeleitete Störungen. Es liegt im Bereich des Möglichen, die alliierten Streitkräfte und Gesellschaften taub, stumm und blind zu machen, indem man diese Informationssysteme angreift. Angriffe – beispielsweise auf Kommunikationssysteme – könnten nur schwer einem Gegner zugeschrieben werden, was wiederum die Vergeltungsoptionen einschränken dürfte. Viele dieser Probleme sind bekannt, und man könnte ihnen durch Absicherung und Redundanz begegnen, was Abschreckung durch Vereitelung bedeuten würde. Auch Reaktionsoptionen könnten entwickelt und implementiert werden.[25] Einige dieser Probleme müssen dringend angegangen werden.
Fünftens sind Indien, Pakistan, Israel, Nordkorea und womöglich der Iran dem Klub der Atommächte beigetreten, was der Weiterverbreitung von Kernwaffen Vorschub leisten könnte. Das Indien-Pakistan-Problem liegt weitgehend außerhalb der wesentlichen Interessen der Vereinigten Staaten und ihrer Alliierten, außer dass ein Atomkrieg zwischen den beiden Mächten eine humanitäre Katastrophe darstellen würde und sich auf andere Länder ausweiten könnte, vor allem auf China. Die Abschreckung wird in diesem Fall aufrechterhalten, da sich die beiden Länder im Kriegsfall gegenseitig vernichten könnten.
Es ist davon auszugehen, dass Nordkorea womöglich einige Dutzend Atomwaffen besitzt und schon bald in der Lage ist, mit Atomwaffen bestückte Interkontinentalraketen auf Kontinentalamerika abzuschießen. Bis hierher scheint es, dass die erweiterte Abschreckung der Vereinigten Staaten auf der koreanischen Halbinsel funktionierte und den Norden davon abhielt, einen Versuch zur Eroberung des Südens zu starten. Die Effizienz der Abschreckung resultierte aus zwei Faktoren: Im Fall eines Angriffs könnten die Vereinigten Staaten zu einem Atomangriff auf den Norden übergehen, ohne sich vor einer Vergeltungsmaßnahme fürchten zu müssen. Zudem würden sie und ihre südkoreanischen Alliierten bei einem konventionellen Konflikt vermutlich siegen, wenn auch mit schweren Verlusten auf beiden Seiten, was zu einem Zusammenbruch des Regimes im Norden führen würde. Hier war Abschreckung wirksam, sowohl durch Strafe als auch durch Vereitelung.
Wenn Nordkorea über atomare Interkontinentalraketen verfügt, setzt dies mit großer Wahrscheinlichkeit die Glaubwürdigkeit einer Strafandrohung herab. Doch es setzt sie nicht außer Kraft. Zudem ist die Glaubwürdigkeit der Ressourcen zur Vereitelung eines Angriffs auf den Süden vermutlich groß genug, um den Norden davon abzuschrecken.
Der US-Regierung bereitet jedoch die Möglichkeit Sorge, dass das Regime Kim Jong-uns die Vereinigten Staaten mit seinen Interkontinentalraketen bedroht, um ein politisches Ziel zu erreichen: deren Rückzug von der koreanischen Halbinsel. Gemäß dem Abschreckungsdenken sollte die offensichtliche Fähigkeit der Vereinigten Staaten zu einem massiven Vergeltungsschlag gegen den Norden diesen von einer derartigen Drohung abhalten. Doch laut des Nationalen Sicherheitsberaters des US-Präsidenten lässt sich die „klassische Abschreckungstheorie“ aufgrund der „unsäglichen Brutalität“ des Kim-Regimes nicht auf Nordkorea anwenden.[26] Wenn dies zutrifft, besteht die einzige Alternative darin, einen Präventivkrieg zu starten, um die atomaren Ressourcen des Nordens und das Kim-Regime auszuschalten. Da die Folgen jedoch immens viele US-amerikanische und koreanische Leben kosten würden, könnten die Vereinigten Staaten von sich aus davor zurückschrecken, einen solchen zu starten.
Diese „Selbstabschreckung“ könnte vermindert werden, wenn die Vereinigten Staaten eine starke Raketenabwehr hätten, die sie vor nordkoreanischen Interkontinentalraketen schützen würde. Doch eine potente Raketenabwehr, die mit hoher Verlässlichkeit verhindern würde, dass Interkontinentalraketen sie treffen könnten, ist vermutlich noch nicht zu realisieren. Sie würde auch keinen kostenintensiven Krieg in Korea verhindern.
Die klassische Abschreckung funktioniert wahrscheinlich weiterhin. Sie funktionierte schon zuvor gegen brutale Regime in der Sowjetunion und in China. Zudem ist dem Kim-Regime das eigene Überleben wichtiger als alles andere; der Start eines Atomkriegs gegen die Vereinigten Staaten wäre garantiert sein Ende. Abschreckung mag keine befriedigende Antwort auf diese Gefahr sein, könnte jedoch vielleicht die einzige Option darstellen. Zudem scheinen die Interkontinentalraketen eher dem Zweck zu dienen, die Vereinigten Staaten von einer Invasion abzuhalten und damit von dem Versuch, das Kim-Regime zu stürzen.
Das iranische Atomprogramm liegt vielleicht vorübergehend auf Eis dank der Vereinbarung vom Januar 2015, dem gemeinsamen und umfassenden Aktionsplan (Joint and Comprehensive Plan of Action – JCPOA). Doch es könnte wiederaufgenommen werden, wenn die Vereinigten Staaten, wie angedroht, einen Rückzieher machen oder wenn die Vereinbarung ausläuft. Der Iran entwickelt weiterhin ballistische Raketen, die es ihm ermöglichen, seine Nachbarn zu bedrohen, also Israel, Saudi-Arabien, aber auch Teile Europas, sobald der JCPOA kippt oder ausläuft. Wie Nordkorea wird auch der Iran früher oder später echte Interkontinentalraketen entwickeln. Diese Fähigkeiten könnten den Iran ermutigen, seine Nachbarn zu bedrohen, sie zu erpressen oder zu destabilisieren.
Eine Antwort auf diese Bedrohung ist die Raketenabwehr. In Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten versucht die NATO, Abwehrfähigkeiten zu entwickeln, die iranische Atomraketen zerstören können. Die Vereinigten Staaten planen den Verkauf eines Raketenabwehrsystems an Saudi-Arabien. Israel verfügt über ein aktives Raketenabwehrprogramm. Doch diese Systeme könnten, wie schon erwähnt, im Ernstfall nicht ausreichen.
Europa und Israel besitzen bereits Atomwaffen, mit denen sie einen Atomangriff durch den Iran kontern könnten. Im Fall Europas handelt es sich dabei größtenteils um US-amerikanische Atomwaffen, die der Kernpunkt der erweiterten Abschreckung sind. Doch wie sieht es mit anderen Nachbarn aus, die bedroht sein könnten – den Golfmonarchien, Saudi-Arabien und Ägypten? Sollten die Vereinigten Staaten die Abschreckung auf diese ausweiten, um einerseits den Iran abzuschrecken und andererseits zu verhindern, dass die arabischen Nachbarn selbst Atomwaffen erwerben? Hoffentlich muss diese Frage nicht bald beantwortet werden, denn das würde etliche neue schwierige Fragen aufwerfen, zum Beispiel, ob eine erweiterte Abschreckung ohne eine weitere Stationierung US-amerikanischer Atomwaffen in der Region glaubwürdig wäre.
Sechstens haben sich die Risiken in Asien erhöht. Abgesehen von den Entwicklungen in Nordkorea hat China hier im Zuge seines wirtschaftlichen Aufstiegs sein Militär modernisiert. Die wichtigste Veränderung war die Realisierung eines leistungsstarken konventionellen Anti-Access/Area Denial-Systems (A2/AD), das die US-amerikanischen Streitkräfte im Pazifikraum verwundbarer macht, je näher sie China kommen. Taiwan gerät immer stärker in Reichweite des chinesischen A2/AD-Systems, was die Planungen für dessen Verteidigung verkompliziert. Gleichwohl ist China nicht in der Lage, zumindest noch nicht, einen amphibischen Großangriff zu bewerkstelligen. Es müsste damit rechnen, dass sich die US-Streitkräfte an der Verteidigung Taiwans beteiligen würden, mit allen Eskalationsrisiken, die ein Aufeinanderprallen der Vereinigten Staaten mit China nach sich ziehen würde.[27] Abschreckung funktioniert im Fall Taiwans nach wie vor.
Siebtens und vielleicht am wichtigsten: Der derzeitige Präsident der Vereinigten Staaten hat explizit Zweifel am Wert der Bündnisse in Europa und Asien aufgeworfen. Während des Wahlkampfs 2016 forderte Donald Trump, Japan und Südkorea sollten sich nicht länger auf die Vereinigten Staaten verlassen, sondern selbst Atomwaffen beschaffen. Im Jahr 2017 weigerte er sich zunächst, ein Bekenntnis zu Artikel 5 des Nordatlantikpakts, also der gegenseitigen Verteidigungsverpflichtung, abzugeben. Später bekannte er sich dazu, doch sein ursprünglicher Widerwille und seine generelle Geringschätzung der Bündnispartner werfen naheliegende Fragen darüber auf, wie glaubwürdig die erweiterte US-amerikanische Abschreckung ist.
5 Fazit
Trotz aller Probleme in Bezug auf die Glaubwürdigkeit atomarer Abschreckung bleibt eine Tatsache bestehen: Die Glaubwürdigkeit kann so lange nicht aufgehoben werden, solange es Atomarsenale gibt, die nicht durch einen Erstschlag vernichtet werden können. Zu Beginn des Atomzeitalters stellte Bernard Brodie fest: „Alles in Bezug auf die Atombombe wird von zwei Tatsachen überschattet: dass es sie gibt und dass ihre Zerstörungskraft überwältigend ist.“[28] Kein noch so großes Glaubwürdigkeitsproblem kann die Möglichkeit ausschalten, dass ein Militärangriff seitens eines Gegners auf eine Atommacht oder auf ein Land unter dem Schutz einer Atommacht die Entfesselung einer solchen überwältigenden Kraft nach sich ziehen und zur Zerstörung des Gegners führen könnte. Jeder, der einen solchen Angriff erwägt, muss diese Möglichkeit in Betracht ziehen. So bleibt die Abschreckung trotz aller Probleme weiterhin bestehen, weil man sie mit allen Mitteln stützt.
Literatur
Barbier, Collette (1993): The French Decision to Develop a Military Nuclear Programme in the 1 950 s, Diplomacy and Statecraft, 4 (1), 103–113.10.1080/09592299308405875Search in Google Scholar
Brodie, Bernard (1946): The Absolute Weapon, New York; Harcourt Brace.Search in Google Scholar
Brodie, Bernard (1959): Strategy in the Missile Age, Princeton; Princeton University Press.10.1515/9781400875108Search in Google Scholar
Cimbala, Stephen J. (2013): US Military Strategy and the Cold War Endgame, New York und London; Routledge.10.4324/9781315036106Search in Google Scholar
FitzGerald, Frances (2001): Way Out There in the Blue: Reagan, Star Wars and the End of the Cold War, New York; Simon & Schuster.Search in Google Scholar
FitzGerald, Mary C. (1987): Marshal Ogarkov and the New Revolution in Soviet Military Affairs, Alexandria, Va.; Center for Naval Analyses.10.21236/ADA184407Search in Google Scholar
Freedman, Lawrence (1986): The First two Generations of Nuclear Nuclear Strategist, in: Makers of Modern Strategy, hrsg. von Peter Paret, Princeton; Princeton University Press, 735–778.Search in Google Scholar
Freedman, Lawrence (2003): The Evolution of Nuclear Strategy. Third Edition, London; Palgrave Macmillan.10.1057/9780230379435Search in Google Scholar
Freedman, Lawrence (2004): Deterrence, London; Polity Press.Search in Google Scholar
Friedman, Uri (2017): Can America Live With a Nuclear North Korea? The Lessons – and Limits – of Deterrence, The Atlantic, Online, https://www.theatlantic.com/international/archive/2017/09/north-korea-nuclear-deterrence/539205/.Search in Google Scholar
Gill, David James (2014): Britain and the Bomb: Nuclear Diplomacy, 1964–1970, Stanford; Stanford University Press.10.2307/j.ctvqsdzmdSearch in Google Scholar
Haftendorn, Helga (1983): Sicherheit und Entspannung. Zur Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1955–1982, Baden Baden; Nomos Verlag.Search in Google Scholar
Hermann, Robert (1982): Die sowjetische Fähigkeit zu Überraschungsangriffen und mögliche Maßnahmen zur Verlängerung der Warnzeit, in: Die Einhegung sowjetischer Macht, hrsg. von Uwe Nerlich und Falk Bomsdorf, Baden-Baden; Nomos, 305–315.Search in Google Scholar
Karber, Phillip A. (1982): Die konventionellen Kräfteverhältnisse in Europa 1965–1980, in: Sowjetische Macht und westliche Verhandlungspolitik im Wandel militärischer Kräfteverhältnisse, hrsg. von Uwe Nerlich und Falk Bomsdorf, Baden Baden: Nomos, 49–133.Search in Google Scholar
Kelleher, Catherin M. (1975): Germany and the Politics of Nuclear Weapons, New York; Columbia University Press.Search in Google Scholar
Kissinger, Henry A. (1974): Kernwaffen und auswärtige Politik, München; Oldenbourg Verlag.10.1515/9783486817300Search in Google Scholar
Kohl, Wilfrid L. (1971): French Nuclear Diplomacy, Princeton; Princeton University Press.Search in Google Scholar
Krause, Joachim (2011): Nach Hiroshima. Die Entwicklung der Theorie des Nuklearkrieges; in: Handbuch Kriegstheorien, hrsg. von Thomas Jäger und Rasmus Beckmann, Opladen; VS-Verlag, 413–426.Search in Google Scholar
Leebaert, Derek, Hrsg. (1981): Soviet Military Thinking, Cambridge, Mass.; Allen & Unwin.Search in Google Scholar
Mahncke, Dieter (1972): Nukleare Mitwirkung. Die Bundesrepublik Deutschland in der Atlantischen Allianz 1954–1970, Berlin und New York; De Gruyter Verlag.10.1515/9783110826845Search in Google Scholar
Mallory, King (2018): New Challenges in Cross-Domain Deterrence, Washington, D.C.; RAND National Defense Research Institute (PE-259-OSD).10.7249/PE259Search in Google Scholar
Mendl, Wolf (1970): Deterrence and Persuasion: French Nuclear Armament in the Context of National Policy, 1945–1969, New York; Praeger Publishers.Search in Google Scholar
Miller, Steven E./ an Evera, Stephen, Hrsg. (1986): The Star Wars Controversy, Princeton; Princeton University Press.10.1515/9781400858163Search in Google Scholar
Shlapak, David/Johnson, Michael (2016): Reinforcing Deterrence on NATO's Eastern Flank, Santa Monica; RAND Corporation (RR-1253-A).Search in Google Scholar
Snyder, Glenn (1961): Deterrence and Defense. Toward a Theory of National Security, Princeton; Princeton University Press.Search in Google Scholar
Tannenwald, Nina (2006): Nuclear Weapons and the Vietnam War, The Journal of Strategic Studies, 29 (4), 675–722.10.1017/CBO9780511491726.007Search in Google Scholar
Thomson, James A. (2008): An Unfavorable Situation: NATO and the Conventional Balance, Santa Monica; RAND Corporation (N-2842-FF/RC).Search in Google Scholar
Warner, Edward L. III (1989): Soviet Concepts and Capabilities for Limited Nuclear War. What We Know and How We Know it, Santa Monica; RAND Corporation (N2769-AF).Search in Google Scholar
Wohlstetter, Albert (1959): The Delicate Balance of Terror, Foreign Affairs, 37 (2), 212–234.10.1007/978-1-349-19791-0_12Search in Google Scholar
© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston