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Öffentlich zugänglich Veröffentlicht von De Gruyter 3. Juni 2021

Die Modernisierung der russischen Streitkräfte

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Kurzfassung

Die gegenwärtigen Streitkräfte Russlands werden seit den 90er Jahren transformiert. Die Bemühungen, das Militär zu modernisieren, neu auszurüsten und zu reformieren, führten zu Streitkräften, die heute kleiner, besser ausgestattet und besser ausgebildet sind und die auf einem höheren Stand der Einsatzbereitschaft gehalten werden als ihre sowjetischen Vorgänger. Während es anfangs das Ziel war, in begrenzten Konflikten an der russischen Peripherie einzugreifen, steht spätestens seit 2014 auch das Ziel im Vordergrund, einen größeren konventionellen Krieg mit dem Westen ausfechten zu können. Der Erfolg der Reform- und Neuausrüstungspläne wäre ohne die entsprechende Aufstockung der Budgetmittel nicht möglich gewesen. Allerdings ist die Finanzierung nach wie vor von den ökonomischen Realitäten abhängig. Alle Teilstreitkräfte haben von einer besseren Finanzausstattung profitiert. Die größten Nutznießer waren die Strategischen Streitkräfte und die Luft- und Weltraumkräfte, während die Seestreitkräfte Mühe hatten, die Zielvorgaben für Überwasserschiffe zu erfüllen. Auch die Beschaffungsziele für die Landstreitkräfte wurden in einigen Schlüsselbereichen wie bei schweren Panzern verfehlt. Der Modernisierungsprozess hat keine Streitkräfte hervorgebracht, die es bezüglich Fähigkeiten und Größe in einem längeren, uneingeschränkten konventionellen Krieg mit den Vereinigten Staaten und der NATO aufnehmen könnten, aber dies war wahrscheinlich auch nie das Ziel. Russlands politischer Führung stehen heute gut ausgerüstete konventionelle Streitkräfte zur Verfügung, deren personelles Rückgrat Berufssoldaten statt Wehrpflichtige bilden.

Abstract

Russia’s contemporary armed forces are transformed from the Soviet-era formations that began the 1990s. Military modernisation, re-equipment and reform efforts have resulted in armed forces that today are smaller, better-supplied and better-trained and held at a higher state of readiness than their Soviet predecessors. While, in the beginning, the goal was to have forces available that could intervene in the Russian periphery, the focus has shifted to the being able to engage the West in a major conventional war. The overall success of reform and re-equipment plans has been helped by improved funding. However, funding has remained dependent on economic reality. All of Russia’s armed forces have benefited from increased funding. Strategic forces and the Aerospace Forces have profited the most from re-equipment programmes, while the Navy has struggled, for example, to meet surface-ship ambitions. Procurement goals for the Ground Forces have also failed to be met in some key areas, such as heavy armour. The modernisation process has not delivered a force of the capability and scale to match the United States and NATO in a sustained all-out conventional war, but this was likely never the aim. Russia’s political leaders now have at their disposal well-equipped conventional armed forces built around professional rather than conscript personnel.

1 Einleitung

Die Streitkräfte Russlands haben heute nur noch wenig gemein mit denjenigen der Sowjetunion. Eine Reihe militärischer Reformen, die mit höheren Verteidigungsbudgets finanziert wurden, hat dazu geführt, dass sie kleiner, besser ausgerüstet, professioneller und besser ausgebildet sind sowie in einem höheren Stand der Einsatzbereitschaft gehalten werden. Bei Operationen seit 2014 haben sie unter Beweis gestellt, dass sie in der Lage sind, Kampfeinsätze in heimatfernen Gebieten mit hohem und niedrigem Operationstempo längere Zeit durchzuhalten. Aber die Reformen gingen nur schleppend voran. Moskau musste seine Streitkräftereform und seine Umstrukturierungspläne anpassen, als sie sich als suboptimal erwiesen und als die geopolitischen Realitäten es erzwangen.

Zu Beginn des Reformprozesses wollte man kleinere militärische Formationen bilden, die für die Konflikte, die man im postsowjetischen Raum erwartete, als besser geeignet angesehen wurden. Nach 2014 hat Moskau eine weitere Umbildung vorgenommen, die dieses Mal die Möglichkeit eines größeren konventionellen Krieges antizipierte. Diese Umbildung fiel in einen Zeitraum, in dem die Streitkräfte begonnen hatten, im Rahmen der Ausbildung und bei Einsätzen einige der militärischen Fähigkeiten zu demonstrieren, die mit den höheren Verteidigungsbudgets finanziert wurden.

Allerdings wurden zeitgleiche Bestrebungen, auch die russische Rüstungsindustrie zu modernisieren, nur teilweise verwirklicht. Die Höhe des Verteidigungsbudgets bleibt instabil und ist in hohem Maße von den Einnahmen aus dem Export von Bodenschätzen abhängig. Ob die Streitkräfte ihren aktuellen Entwicklungspfad beibehalten können, hängt auf kurze Sicht von Fragen der industriellen Kapazität sowie von der politischen Aufmerksamkeit und der nachhaltigen Finanzierung ab.

2 Die Motive für die Streitkräftereform 1991–2008

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion standen die russischen Streitkräfte vor erheblichen Herausforderungen. Die Teilstreitkräfte mussten sich mit der Realität einer kleineren Sollstärke abfinden. Einheiten und Ausrüstung wurden auf die frisch in die Unabhängigkeit entlassenen Republiken der ehemaligen Sowjetunion aufgeteilt. Sie mussten auch mit den Hinterlassenschaften des Afghanistankriegs (1979–89) und der Tschetschenienkriege umgehen. Die Truppenstärke wurde reduziert, die Budgets gingen zurück und das Beschaffungswesen verkümmerte. Außerdem schränkten Faktoren die Schlagkraft der Truppe ein, die mit dem Erbe der Sowjetunion zusammenhingen. Dazu zählte etwa ein kompliziertes Dislozierungssystem, das darauf ausgelegt war, Kampfformationen durch Mobilmachung einer Reserve in Einsatzbereitschaft zu versetzen und diese mit Waffen und Ausrüstungsgütern zu versorgen, die größtenteils eingelagert waren.[1] Um diesen Prozess einzuleiten und Einheiten in Kriegsstärke zu versetzen, waren Mobilisierungsbefehle erforderlich. Die militärische Führung wusste, dass dies ein strukturelles Problem war, das sie angehen musste. Bemühungen in den 1990er Jahren, einen kampfbereiten Truppenkern zu schaffen, waren jedoch weitgehend erfolglos, und die Lage verbesserte sich erst, nachdem im Jahr 2003 eine Initiative gestartet wurde, um mehr Freiwillige für den Wehrdienst zu rekrutieren.[2] Ein weiteres grundlegendes Problem betraf die schwerfälligen Führungsprozesse.

3 Pläne zur Verbesserung der Einsatzbereitschaft

Diese Probleme waren seit langem bekannt. In den 1980er-Jahren wurden etwa von dem damaligen Generalstabschef Marschall Nikolai Ogarkow (1977–1984) Reformen erwogen, die den Mobilisierungs- und Dislozierungsmechanismus zugunsten professionellerer Strukturen schrittweise abgeschafft hätten. Diese hätten eine höhere Einsatzbereitschaft gewährleistet und zielten zugleich auf die Straffung der Führungsstrukturen, die Modernisierung der Ausrüstung und die Optimierung von Abläufen.[3] Finanzierungsprobleme behinderten jedoch weitreichende Reformen, und Initiativen wie das „Mobile Kräfte“-Konzept, das einsatzbereitere Formationen auf Brigade-Ebene einbeziehen sollte, waren nur teilweise erfolgreich.[4]

Neben den Nachwirkungen der sowjetischen Intervention in Afghanistan haben vor allem die militärischen Erfahrungen Russlands in den 1990er-Jahren die Reformbestrebungen verstärkt. Die strukturellen Probleme waren unverkennbar. Zur Zeit des Afghanistankriegs betrug die Truppenstärke der sowjetischen Armee mehr als zwei Millionen Mann, aber ihr fiel es schwer, die relativ wenigen Divisionen verbundener Waffen und Luftlandedivisionen sowie die eigenständigen Bataillone und Luftwaffenregimenter und -staffeln zu aktivieren. Im Jahr 1979 erging ein Teilmobilmachungsbefehl, um die Panzer-, motorisierten Schützen- und Luftlandedivisionen, die nach Afghanistan verlegt werden sollten, auf volle Solldienststärke zu bringen. Aber diese Mobilisierung dauerte nur sechs Monate. Anschließend wurden die Reservisten entlassen und durch Offiziere und Soldaten ersetzt, die von anderen Militärbezirken überstellt wurden.[5] Weil während des Feldzugs keine weiteren Mobilisierungsbefehle ergingen, hatte die Armee keine rechtlichen Grundlagen, um die Mechanismen zu aktivieren, die die Einheiten auf Solldienststärke hätten bringen können.

Im Jahr 1994, zur Zeit des ersten Tschetschenienkriegs, erwies es sich erneut als schwierig, zusammenhängende Einheiten zu verlegen, und russische Einheiten erreichten selten ihre Sollstärke. Die Tatsache, dass vor dem ersten Tschetschenienkrieg keine Mobilisierungsbefehle ergingen, hatte erneut zur Folge, dass die von Russland dorthin entsandten Formationen spontan zusammengestellt wurden und nur dadurch auf Sollstärke gebracht werden konnten, dass Kräfte aus anderen Einheiten abkommandiert wurden. Verschlimmert wurde die Lage durch die Entscheidung, die Zahl der Wehrpflichtigen zu senken, was die Anzahl der Gefreiten und Feldwebel verringerte. Außerdem gab es erhebliche Defizite in den Bereichen Strategie, Taktik und Kampfgeist. Als der Krieg im Jahr 1996 zu Ende ging, hatte das Ansehen der Landstreitkräfte stark gelitten, aber das Verteidigungsministerium war um wichtige Erfahrungen reicher. Probleme im Zusammenhang mit Mobilisierung und Einsatzbereitschaft wurden nun angepackt.[6]

Da die zur Verfügung stehenden Mittel keine grundlegenderen Veränderungen erlaubten, wurde zum damaligen Zeitpunkt lediglich die Aufstellung „kampfbereiter Formationen“ aus dem vorhandenen Bestand vorgesehen.[7] Alle aktiven Formationen sollten Personal und Ausrüstung bereitstellen, um damit Einheiten zu bilden, die personal- und ausrüstungsmäßig auf Kriegsstärke waren. Sämtliche Luftlandedivisionen, die Strategischen Raketenregimenter, Flugabwehrregimenter und Luftwaffenregimenter wurden dabei in kampfbereite Formationen umstrukturiert, auch wenn das auf eine Verkleinerung hinauslief. Der Prozess der Beseitigung von Personallücken bei den einen Einheiten der Landstreitkräfte hatte zur Folge, dass die Truppenstärke anderer Formationen unter ihre Sollstärke fiel.[8] Doch ungeachtet all der damit verbundenen Herausforderungen – bezüglich der Abhängigkeit von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der Grundstruktur des Mobilisierungssystems und der Wehrpflicht – hat dieser Prozess der Schaffung kampfbereiter Formationen durch „Personalspenden“ letztlich relativ gut bewaffnete und personell gut ausgestattete Einheiten hervorgebracht, selbst wenn es nur wenige davon gab. Wichtig war dabei vor allem, dass der Prozess der Bildung kampfbereiter Einheiten nicht von einem Mobilisierungsbefehl abhängig war.

Zur Zeit des zweiten Tschetschenienkriegs im Jahr 1999 gab es einen größeren Bestand an einsatzbereitem Personal, aber die russische Militärführung wollte aufgrund der Erfahrungen in Tschetschenien die Anzahl der Soldaten in Kampfeinsätzen verringern. Sie wollte auch mehr tun, um die verfügbare Kampfkraft der Formationen in höherer Einsatzbereitschaft zu nutzen. Zu diesem Zweck wurden Taktische Bataillonsgruppen (TBG) eingeführt.[9] Diese sollten aus gefechtsbereiten Formationen gebildet werden; ein Panzer- oder motorisiertes Schützenbataillon sollte durch andere Kampf- und kampfunterstützende Kräfte verstärkt werden. Dies führte dazu, dass im zweiten Tschetschenienkrieg von den gefechtsbereiten Formationen Russlands nur die 74. motorisierte Schützenbrigade und die 205. motorisierte Schützenbrigade in voller Truppenstärke verlegt wurden. Formationen aus anderen gefechtsbereiten Einheiten wurden in TBGs verlegt.

In Anbetracht der knappen Finanzmittel sah man in der Restrukturierung eine Möglichkeit, auch andernorts Effizienzverbesserungen zu erreichen, so etwa durch die Integration der Flugabwehrtruppe in die Luftstreitkräfte, die 1998 erfolgte.[10] Wie in den anderen Teilstreitkräften gingen die Personalzahlen und die Zahl der Einheiten zurück. Eine weitere Reorganisation fand im Jahr 2003 statt, als die bislang den Landstreitkräften zugeordneten Heeresflieger der Luftwaffe unterstellt wurden.

Es wurden auch Verbesserungen der Führungsorganisation durchgeführt. Die russischen Streitkräfte waren lange Zeit innerhalb des Ordnungsrahmens von Militärbezirken geführt worden; diese waren für Mobilisierungs- und Nachschubfragen zuständig. Ende der 1990er Jahre gelangte das Oberkommando dann zu der Auffassung, es gebe zu viele Führungseinrichtungen und Stäbe. So unterstand zum Beispiel das 282. motorisierte Schützenregiment des Sibirischen Militärbezirks seinem Divisionskommando, der 36. Armee und dem Sibirischen Militärbezirk. Im Jahr 2005 wurde dann beschlossen, eine neue Struktur auszuprobieren, in der drei Regionalkommandos direkt alle gefechtsbereiten Formationen und Armeen verbundener Waffen führen sollten. Nach einer Testübung erwies sich diese Reform als Fehlschlag. Nur zusätzlich zu den bestehenden Strukturen eine weitere Kommandoebene aufzuerlegen, hatte zu keiner Effizienzverbesserung geführt.[11] Der Fokus verlagerte sich jetzt auf die Reduzierung der Kommandoebenen. Im zweiten Tschetschenienkrieg kam es zu geringfügigen Verbesserungen, die Wende aber kam mit der Verarbeitung der Leistungen der Streitkräfte im Fünftagekrieg gegen Georgien im August 2008.

4 Die Folgen des Georgienkriegs

Der Georgienkrieg deckte erhebliche Mängel beim russischen Militär auf. Unabhängig von seiner Truppenstärke, fehlte es Russland an genügend trainierten und gefechtsbereiten Truppen.[12] Bekannte Probleme mit der Führungsorganisation wurden sichtbar. Einmal wurden die beiden von der 19. motorisierten Schützendivision entsandten TBGs gleichzeitig vom Divisionskommando, der 58. Armee verbundener Waffen, dem Militärbezirk Nordkaukasus und sogar dem Generalstab befehligt. Außerdem war die von diesen Verbänden benutzte Ausrüstung größtenteils veraltet. Es waren nicht genügend Einheiten des Heeres und der Luftwaffe einsatzbereit, und ihre Ausbildung und ihre Taktiken wurden oft als mangelhaft angesehen. Bei der Luftwaffe deckte der Krieg Mängel in Ausrüstung, Taktik und Personalverfügbarkeit auf. Bei den Besatzungen für Kampfflugzeuge gab es so große Engpässe, dass Personal von Ausbildungsbasen für Flugeinsätze abkommandiert wurde. Die Flugabwehr Georgiens machte es der russischen Luftwaffe schwer, ihren Auftrag zu erfüllen. Sie schoss mindestens zwei russische Flugzeuge ab, darunter – am zweiten Tag der Feindseligkeiten – einen Bomber vom Typ Tu-22M3 Backfire C.[13]

Die Schwächen, die das russische Militär in Georgien offenbarte, warfen grundsätzliche Fragen über die Fähigkeit der Streitkräfte auf, den Herausforderungen moderner Kriegsführung gerecht zu werden. Dies betraf insbesondere die Art von Konflikten, mit der an der Peripherie Russlands zu rechnen war. Die Reflexion der Versäumnisse des Georgien-Kriegs gab daher den entscheidenden Anstoß für weitergehende Reformen.

4.1 Serdjukow und die Neugestaltung

Im Februar 2007, mehr als ein Jahr vor dem Konflikt, war der Zivilist Anatoli Serdjukow zum Verteidigungsminister ernannt worden. Schon vor Georgien war Serdjukow und seinem zivilen Team die Aufgabe übertragen worden, weitreichende militärische Reformen umzusetzen.[14] Die Pläne für eine weitergehende Reform existierten bereits vor dem Krieg, aber die schwachen militärischen Leistungen Russlands in Georgien brachten die nötige politische und finanzielle Unterstützung, um ihnen einen kräftigen Schub zu verleihen.

 Anatoli Serdjukow

Anatoli Serdjukow

Letztendlich zielte die von Serdjukow verantwortete Neugestaltung, die dieser am 14. Oktober 2008 vorstellte, darauf ab, die Streitkräfte zu einer modernen, gefechtsbereiten Armee zu machen, die auf einem hohen Stand der Einsatzbereitschaft gehalten werden sollte und die sich langfristig deutlich von der auf Massenmobilisierung beruhenden Sowjetarmee unterscheiden würde. Die Streitkräfte der „Neugestaltung“ sollten kleiner sein, und ihre Sollstärke sollte verringert werden, aber sie wären permanent einsatzbereit. Serdjukow begann auch damit, die Bezahlung und die Lebensbedingungen für das Personal zu verbessern und die Dauer des Wehrdienstes zu verkürzen. Zwischen 2007 und 2008 wurde dieser zuerst von 24 Monaten auf 18 Monate und dann weiter auf 12 Monate verkürzt. Er bemühte sich auch darum, eine ausreichende Zahl von Freiwilligen (Zeit- und Berufssoldaten) zu rekrutieren.

Die Reformen sollten auch die Führungsorganisation straffen. Die Anzahl der Militärbezirke wurde von sechs auf vier verringert, und im Jahr 2010 wurden vier vereinte strategische Kommandos (OSKs) geschaffen (diese wurden 2015 auf fünf erhöht, und 2021 wurde ein fünfter Militärbezirk in Form der Nordflotte geschaffen). Eine wesentliche Neuerung bestand darin, dass dem Befehlshaber des Militärbezirks sämtliche Streitkräfte innerhalb des Bezirks unterstellt wurden (mit Ausnahme derjenigen, die dem Oberkommando unterstehen, wie die Luftlandetruppen [WDW] und die Strategischen Raketentruppen [RWSN]).[15]

Für die Landstreitkräfte sollte die Brigade, nicht die Division, die grundlegende Handlungseinheit sein, denn sie galt als geeigneter für die damals erwarteten lokalen Konflikte. Der Plan sah vor, dass sich motorisierte Schützenbrigaden je nach ihrer Ausrüstung – ob vorwiegend mit Rad- oder Kettenpanzern – bis 2015 in leichte, mittlere und schwere Einheiten umwandeln sollten.[16]

Auch die Luftstreitkräfte sollten reformiert werden, nachdem in den postsowjetischen Jahren über ein Jahrzehnt lang Stillstand und Niedergang geherrscht hatten. In den 1990er Jahren war dort die Moral zusammengebrochen, und zahlreiche Kampf-, Transport- und Spezialflugzeugprojekte sowie strategische Waffenprojekte wurden auf Eis gelegt oder verschoben. Der postsowjetische Niedergang erreichte im Jahr 1996 seinen Tiefpunkt, als keine neuen Flugzeuge mehr finanziert werden konnten.[17] Außerdem litt die Einsatzbereitschaft. Da es an Geld für Flugzeugtreibstoff mangelte, wurde die Zahl der Flugstunden reduziert. Man war der Auffassung, eine Reorganisation ermögliche eine effizientere Nutzung der geschrumpften Luftflotte mit geografisch noch immer breit gestreuten Basen. Entsprechend der Neuaufstellung wurden die Luftstreitkräfte und die Luftverteidigungsarmeen in vier Luftstreitkräfte- und Luftverteidigungskommandos reorganisiert, die jeweils einem Militärbezirk zugeordnet wurden. Bomber und schwere Transportflugzeuge wurden dem Fernfliegerkommando (der früheren 37. Luftarmee) beziehungsweise dem Kommando Transportfliegerkräfte (die frühere 61. Luftarmee) unterstellt.[18]

Im Zuge der Reformen der Luftstreitkräfte wurde auch eine Idee aufgegriffen, die erstmals in den 1990er-Jahren diskutiert worden war: die Schaffung einer Einheitsstruktur auf der Grundlage der „Luftwaffenbasis“. Diese sollten die Flexibilität und Reaktionsschnelligkeit verbessern, aber im Lauf der Zeit erkannte man, dass sie genau das Gegenteil bewirkte. Eine Reihe von Plänen zwischen 2008 und 2010 sahen vor, dass im Rahmen des Aviabasa-Konzepts jeweils eine unterschiedliche Anzahl von Einheiten in Luftwaffenbasen umgewandelt werden sollte. Diese Luftwaffenbasis-Struktur sollte Regimenter, unabhängige Geschwader und Staffeln ersetzen.[19] Aber der Plan wurde mehrfach überarbeitet. Von den 52 Luftwaffenstützpunkten, die 2008 vorgesehen waren, blieben bei der Umsetzung des Plans im Jahr 2009 nur 33 übrig. Im Jahr 2010 wurde der Plan erneut geändert, und die Luftstreitkräfte wurden in sieben Luftwaffenbasen ersten Grades und acht Luftwaffenbasen zweiten Grades umstrukturiert.[20] Ein Problem, mit dem die Luftstreitkräfte konfrontiert waren, hing einfach mit den geografischen Gegebenheiten zusammen. Das Luftwaffenbasis-Konzept mochte die Anzahl der Führungsverantwortlichen verringert und die Einheiten gestrafft haben, aber es hatte zur Folge, dass einige Befehlshaber jetzt eine Luftwaffenbasis führen mussten, deren Komponenten über Hunderte von Kilometern verstreut waren.[21]

Für die Seestreitkräfte, die Luftlandetruppen und die strategischen Streitkräfte waren geringere organisatorische Veränderungen geplant. Die strategischen Streitkräfte Russlands – die atomar bewaffneten Elemente der Marine und der Luftwaffe sowie die landgestützten Strategischen Raketentruppen – standen finanziell deutlich besser da als die konventionellen Elemente der Streitkräfte. Aber auch dort waren einige der Modernisierungspläne durch wirtschaftliche Rahmenbedingungen zum Scheitern gebracht worden. Auch wenn die Investitionen zurückgingen, behielten strategische Systeme eine Schlüsselstellung in der russischen Militärdoktrin, und die relative Bedeutung der Kernwaffenkräfte Moskaus wuchs in dem Maße, wie die Stärke seiner konventionellen Streitkräfte sank. Die Luftlandetruppen sind dem Generalstabschef unterstellt, unabhängig vom Heer, und sie haben eine Divisions- und Regimentsstruktur behalten und die Umstellung auf Brigaden vermieden.

Geplant war auch eine Aufwertung der Seestreitkräfte. Die Marine, die beim Zusammenbruch der Sowjetunion hochseetüchtig gewesen war (die Einführung der ersten Flugzeugträger hatte begonnen), wurde in den darauffolgenden Jahren immer weiter geschwächt. Sowohl die Anzahl der verfügbaren Schiffe als auch deren Einsatzbereitschaft gingen zurück. Der Niedergang der Flotte erreichte ihren symbolischen Tiefpunkt mit dem Verlust des U-Boots Kursk der Antey-Klasse (Oscar-II-Klasse) am 12. August 2000. Im Jahr 2001 führten russische SSBN nur eine Patrouillenfahrt durch; im Jahr 2002 gar keine.[22] Im Jahr 2007 verfügte die Flotte über 49 U-Boote (von denen 14 mit ballistischen Raketen bewaffnet waren) und rund 28 größere Überwasserkampfschiffe einschließlich des Flugzeugträgers Admiral Kusnezow. Zudem gab es fünf Kreuzer und 16 Zerstörer. Zum Vergleich: Im Jahr 1989 verfügte die sowjetische Marine über 349 U-Boote, darunter 69 strategische U-Boote, und 151 größere Überwasserkampfschiffe.[23] Die Sanierung der Flotte war eine große Herausforderung, nicht nur wegen der fehlende Finanzmittel, sondern auch was den Mangel an Schiffsbaukapazitäten betraf. Dies erklärt, dass Russland in Frankreich einen Hubschrauberträger des Typs Mistral kaufen wollte – spätere Modelle sollten in Russland gebaut werden, sobald man die notwendigen Kenntnisse erworben hätte.

4.2 Schojgu: Die Reformen an neue Realitäten anpassen

Im Jahr 2012 wurde Serdjukow als Verteidigungsminister durch Sergei Schojgu abgelöst, und General Waleri Gerassimow folgte auf General Nikolai Makarow als Chef des Generalstabs. Dies leitete einen Kurswechsel, aber keine grundlegende Neuausrichtung ein. Das vielleicht wichtigste Vermächtnis der Serdjukowschen Reformen war die Idee, dass gefechtsbereite Streitkräfte auf einem hohen Stand der Einsatzbereitschaft gehalten werden sollten. Dieses Ziel wurde unter Schojgu weiterhin mit Nachdruck verfolgt, und es wurde mehr in die Ausbildung investiert. Außerdem hielt Schojgu an ambitionierten Plänen zur Modernisierung der Lagerbestände an Ausrüstungsgütern fest und baute diese noch aus. Einige der strukturellen Veränderungen, die im Rahmen der Neugestaltung unter Serdjukow umgesetzt worden waren, hatten sich jedoch als suboptimal erwiesen und wurden korrigiert.

Das Luftwaffenbasis-Konzept beispielsweise wurde aufgegeben. Die Streitkräfte hatten bereits begonnen, sich davon abzusetzen: Im Jahr 2013 begann der Oberkommandierende der Luftstreitkräfte, Wiktor Bondarew, mit der Rückkehr zu Luft- und Luftverteidigungsarmeen und -divisionen. In den Jahren 2014–15 wurden die Luftverteidigungsbrigaden wieder zu Luftverteidigungsdivisionen und -regimentern.[24] Im Jahr 2015 wurden die Luftstreitkräfte und die Weltraumtruppen zu den Luft- und Weltraumkräften fusioniert. Man war zu der Einschätzung gelangt, dass die Serdjukow-Reformen, statt eine flexiblere Struktur einzuführen, das genaue Gegenteil bewirkt hatten: Sie führten eine Organisationsstruktur ein, die noch starrer zu werden drohte.

 Verteidigungsminister Schojgu im Gespräch mit Präsident Putin über militärstrategische Fragen

Verteidigungsminister Schojgu im Gespräch mit Präsident Putin über militärstrategische Fragen

Die Entscheidung des Kremls, im Februar und März 2014 die Krim zu besetzen, signalisierte weitere Veränderungen. Eine „unangekündigte Überprüfung“ der Gefechtsbereitschaft im Februar 2014 half mit, den Plan Russlands zu verschleiern. Die bei der Operation eingesetzten Kräfte kamen aus den besten Einheiten des Südlichen Militärbezirks und der Schwarzmeerflotte. Die Ereignisse auf der Krim erbrachten keine nennenswerten Lektionen in Bezug auf Gefechtstaktiken. Es gab aber Probleme infolge der Mischung von Zeitsoldaten und Wehrdienstleistenden. So gab es Berichte, wonach sogar einige Spezialkräfte-Einheiten nicht in voller Stärke eingesetzt werden konnten, weil auch Wehrpflichtige in ihnen Dienst taten. Diese Probleme hätten eine erneute Initiative anstoßen können, um schnelle Eingreifverbände und Taktische Bataillonsgruppen mit Zeit- bzw. Berufssoldaten zu besetzen. Erst der Ausbruch von Kämpfen in der Ostukraine in den folgenden Monaten und die Beteiligung russischer Truppen markierte eine deutliche Verlagerung des Schwerpunkts auf die Reform der Landstreitkräfte.[25] Die wachsenden Spannungen mit dem Westen verstärkten dies noch. Die Militärplaner, die sich bislang auf kurze Kriege an der Peripherie Russlands konzentriert hatten, mussten nun die Möglichkeit ins Auge fassen, einen größeren konventionellen Krieg mit dem Westen auszufechten.

In diesem Zusammenhang wurden Strukturreformen bei den Landstreitkräften korrigiert. Die Auslagerung von bestimmten Funktionen wurde rückgängig gemacht. Instandsetzungen sollten zum Beispiel wieder auf der Ebene der jeweiligen Einheit durchgeführt werden.[26] Tests des Konzepts der leichten, mittleren und schweren Brigade wurden im Jahr 2015 abgebrochen. Bezüglich der Umstellung auf Brigaden fand ein Umdenken statt: Es wurden wieder Divisionen aufgestellt. Die Wiederaufstellung von Formationen auf Divisionsebene scheint der Besetzung der Krim und dem Konflikt in der Donbass-Region der Ukraine nach dem Frühjahr 2014 vorangegangen zu sein, denn die ersten beiden Einheiten, die in Divisionen umgewandelt wurden, wurden bereits im Jahr 2013 umstrukturiert. Aber die Entwicklungen im Donbass beschleunigten den Prozess des Umdenkens. So wurden zum Beispiel 2016 neun Brigaden in Divisionen umgewandelt.[27] Diese Reformen deuten auch darauf hin, dass die Heeresführung begonnen hatte, den operativen Nutzen der verschlankten Führungsstruktur eines Vereinten Strategischen Kommandos zu hinterfragen – einer operativen Kommando-Brigade, die im Rahmen der Reformen Serdjukows geschaffen wurde.[28] Nunmehr wurde wieder eine Rolle für eine Führungsebene zwischen Armee und Brigade bei großräumigen Operationen vorgesehen. Diese sollte auch in der Lage sein, neu eintreffende Formationen einzubeziehen und besser zu führen und überdies Kampfunterstützung und logistische Unterstützungskräfte auf Divisionsebene bereitzustellen.

Die Entscheidung im Jahr 2015, in den Syrienkrieg einzugreifen, war die erste wirkliche Bewährungsprobe für die russischen Streitkräfte in der post-Serdjukowschen Ära.[29] Die Krim bot einen Vorgeschmack auf ihre Fähigkeiten, aber Syrien (und vielleicht auch die Ostukraine) lieferte mehr Erkenntnisse. Und nicht nur externe Beobachter, auch die russischen Streitkräfte selbst haben dazugelernt. Die Luftwaffe und die Kriegsmarine kamen dabei stärker zum Einsatz als die Landstreitkräfte. Für Russland war Syrien ein Testgelände sowohl für seine neuen militärischen Organisationsformen als auch für neue Waffen. Hunderte von Waffensystemen wurden nach Darstellung Moskaus bei Einsätzen erprobt.[30] Anders als in Georgien gelang es den russischen Luft- und Weltraumkräften, eine phasenweise temporeiche Luftoperation durchzuhalten. Piloten wurden während des Syrieneinsatzes systematisch durchgewechselt, um ihre operativen Erfahrungen an die gesamte Luftflotte weiterzugeben. Auch hochrangige Befehlshaber sind regelmäßig nach Syrien entsandt worden. Und obgleich die russische Flotte anfangs Mühe hatte, sich eine ausreichende Zahl von Versorgungsschiffen aus der Handelsflotte zu sichern, ist es ihr gelungen, eine Nachschubroute zur See aufrechtzuerhalten. Am spektakulärsten agierten die Seestreitkräfte im Verbund mit Elementen der Luft- und Weltraumkräfte mit Starts von 3M14-Kalibr (SSN-30A Sagaris)-Marschflugkörpern aus dem Kaspischen Meer gegen Landziele in Syrien. Diese wurden von U-Booten und Überwasserschiffen ausgeführt. Daneben feuerten Kampfflugzeuge aus großer Entfernung Kh-101-Marschflugkörper gegen Landziele in Syrien ab.[31]

Die Fähigkeit, Einsätze wie in Syrien längerfristig durchzuhalten und auch neue Waffensysteme wie Kalibr und Kh-101 effektiv einzusetzen, geht auf die erhebliche Aufstockung der Budgetmittel zurück sowie auf die verbesserten Organisationsstrukturen. Nach den 2000er-Jahren wurde der finanzielle Hahn weit aufgedreht. Die russischen Streitkräfte erfuhren endlich, dass die Mittel eintrafen, mit denen sich wichtige Ziele des Reformprogramms erreichen ließen und mit denen ein Teil ihres Bedarfs an Ausrüstungsgütern gedeckt werden konnte.

4.3 Das Staatliche Rüstungsprogramm 2020 – die Aufstockung der Budgetmittel

Staatliche Rüstungsprogramme und staatliche Rüstungsbeschaffungsprogramme sind seit den 1980er Jahren der Schlüssel für die Beschaffung von Rüstungsgütern in der Sowjetunion bzw. in Russland gewesen. Das Staatliche Rüstungsprogramm ist ein fortlaufendes zehnjähriges Dokument, das alle fünf Jahre überprüft wird. Es führt das Volumen von Rüstungsgütern auf, die von jeder Teilstreitkraft und von jedem Systemtyp beschafft werden sollen, und es beschreibt ausführlich neue Waffen, die in den folgenden zehn Jahren entwickelt werden sollen. Für jedes Waffensystemprojekt werden dabei Zeitpläne für Forschung und Entwicklung (F&E) sowie den Eintritt in die Serienproduktion aufgestellt. Das Staatliche Rüstungsbeschaffungsprogramm listet die jährlichen Mittelzuweisungen für neue Waffen und den Erwerb anderweitiger militärischer Geräte auf, ebenso für die Modernisierung und Reparatur in Gebrauch befindlicher Ausrüstungsgüter und für militärische Forschungs- und Entwicklungsprojekte.[32]

Das Staatliche Rüstungsprogramm (SRP) 2020 profitierte von der schnellen wirtschaftlichen Erholung nach der Finanzkrise von 2008. Das Ende 2010 verabschiedete SRP 2020 stellte das ambitionierteste militärische Modernisierungsprogramm seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion dar. Das zentrale Ziel des SRP 2020 bestand darin, gezielte Schritte einzuleiten, um der Überalterung des Bestands an Ausrüstungsgütern entgegenzuwirken, und den Anteil der nach Einschätzung des Verteidigungsministeriums modernen Geräte zu erhöhen, zu denen sowohl modernisierte als auch neu gebaute Waffen und Plattformen gehören. Im Jahr 2010 machten moderne Ausrüstungsgüter nur 10 Prozent des Gesamtbestandes aus, Einheiten im aktiven Dienst sollten bis 2020 mit bis zu 70 Prozent moderner Waffen und Ausrüstungsgütern ausgestattet werden.

In den Jahren 2011–15 kam es dann auch zu deutlichen Erhöhungen der Verteidigungsausgaben. Es gab entschlossene Bemühungen, die Ausrüstung zügig zu modernisieren, und die Finanzmittel für die Entwicklung neuer Waffensysteme wurden angehoben. Die Ausgaben begannen im Jahr 2012 zu steigen und erreichten im Jahr 2015 mit knapp unter 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ihren Höchststand, bevor sie 2017 auf 4 Prozent zurückgingen. Nach 2016 fand ein Übergang zu einer gleichmäßigeren jährlichen Erneuerung von Waffen statt. Die Gesamtausgaben fielen von einem Höchststand von 4,9 Prozent des BIP im Jahr 2015 auf 3,9 Prozent in 2019.[33]

Die Ausgabenerhöhung führte zu einer deutlichen Verbesserung des Outputs an Rüstungsgütern und ermöglichte die Neuausrüstung der russischen Streitkräfte. Allerdings waren die Fortschritte ungleichmäßig. Einige Bereiche der Entwicklung und Produktion (wie etwa Hubschrauber, ballistische Raketen, taktische Raketen und Marschflugkörper sowie Luftverteidigungssysteme) hatten im Allgemeinen mit weniger Schwierigkeiten zu kämpfen als andere, wie Überwasserkampfschiffe sowie moderne Jagd- und Transportflugzeuge. Eine bessere Finanzierung befähigte Russland auch, die Entwicklung von Systemen fortzusetzen, die zurückgestellt worden waren. Dazu gehören wahrscheinlich auch einige der „neuartigen“ strategischen Systeme, die Präsident Putin im März 2018 ankündigte, wie die nuklear angetriebene Unterwasserdrohne Poseidon (Kanyon), der bodengestützte Marschflugkörper mit Nuklearantrieb Burewestnik (SSC-X-9 Skyfall) und der überschallschnelle Awangard-Gleitflugkörper. Allerdings bleibt die Zukunft dieser neuen Systeme ungewiss.

Wenngleich einige Ziele verfehlt wurden, so hat Russland einen durchweg pragmatischen Ansatz verfolgt. Dieser zeigte sich darin, dass einige Projekte von SRP 2015 in SRP 2020 verschoben wurden. Einige Beschaffungsaufträge im Rahmen von SRP 2020 sind mittlerweile in das anschließende SRP bis 2027 verschoben worden. Das Ziel der rüstungstechnischen Modernisierungen wird weiterhin ebenso verfolgt wie das der Auslieferung neuer Ausrüstungsgüter.[34] Dieser Pragmatismus rührt aus den begrenzten finanziellen Mitteln und den industriellen Kapazitäten der russischen Verteidigungsindustrie her. Das Ausmaß der finanziellen Mittel hängt stark von den Erlösen der Rohstoffexporte ab. In diesem Zusammenhang wurden in einigen Fällen Programme und Auslieferungen verzögert, in anderen Fällen wurden die Zielvorgaben abgesenkt.

5 Die Streitkräfte heute: die Früchte der Modernisierung

Obgleich die verbesserte Finanzausstattung den gesamten Streitkräften Russlands zugutekam, haben die strategischen Streitkräfte und die Luft- und Weltraumkräfte am meisten von Neuausrüstungsprogrammen profitiert. Die Seestreitkräfte hatten Mühe, die Zielvorgaben für Überwasserschiffe zu erreichen, während die Beschaffungsziele für die Landstreitkräfte in einigen Schlüsselbereichen wie schweren Panzern nicht erreicht worden sind.

5.1 Strategische Streitkräfte

Das strategische Kernwaffenarsenal Russlands war besser vor den Folgen des wirtschaftlichen Chaos der 1990er-Jahre und der Unterfinanzierung zu Beginn der 2000er-Jahre geschützt als seine konventionellen Streitkräfte. Es kam zwar häufig zu erheblichen Verzögerungen bei der Auslieferung von Waffensystemen und sonstigen Ausrüstungsgütern, trotzdem werden die Strategischen Raketentruppen bis 2030 über ein aufgewertetes Raketenarsenal verfügen. Darin spiegelt sich auch die Bedeutung der strategischen Streitkräfte für die Strategie Russland wider. Zu ihren wichtigsten Waffensystemen gehören RS-12M1/RS-12M2 Topol-M (NATO-Bezeichnung SS-27 Mod. 1), RS-24 Jars (SS-27 Mod. 2), Jars-S und Sarmat (SS-X-29). Sarmat ist eine schwere, mit Flüssigtreibstoff angetriebene ICBM, die als Trägersystem für den Awangard-Hyperschallgleiter dient. Eine begrenzte Zahl davon ist gegenwärtig in Dienst gestellt, und Moskau hat sie entsprechend seinen Verpflichtungen aus dem New-Start-Abkommen gemeldet.[35] Die Flotte der mit ballistischen Raketen bewaffneten Atom-U-Boote wird Mitte der 2030er-Jahre aus Booten der Borei- und Borei-A-Klasse bestehen, während die Luftwaffe ab Mitte der 2020er-Jahre den verbesserten Tu-160M Blackjack-Bomber einführen wird.[36] Was die Rolle der neuartigen nuklearen Systeme Russlands anlangt, so ist die Ungewissheit größer, und in einigen Fällen – wie etwa bei der Burewestnik – stellt sich die Frage, ob die Technologie jemals verlässlich funktionieren wird. Man kann jedoch mit Sicherheit davon ausgehen, dass Moskau weiterhin nach Wegen suchen wird, eine US-Raketenabwehr zu unterlaufen. Daraus wird wahrscheinlich eine Mischung aus etablierten und neuartigen Systemen entstehen. Aber letzten Endes bleiben die landgestützten strategischen Streitkräfte das größte Element der Triade, und obgleich das Neuausrüstungsprogramm Fortschritte macht, kommt es auch hier zu Verzögerungen.

5.2 Landstreitkräfte

Weniger erfolgreich war Moskau bei der Modernisierung seiner Landstreitkräfte, insbesondere der gepanzerten Fahrzeuge. Bei der Siegesparade auf dem Roten Platz im Jahr 2015 wurde neues militärisches Gerät vorgeführt, wobei die universelle Kampfplattform Armata im Mittelpunkt stand. Zu einem frühen Zeitpunkt in der SRP 2020-Phase wurden ehrgeizige Pläne öffentlich bekanntgegeben, denen zufolge bis 2020 etwa 2.300 Fahrzeuge in Dienst gestellt sein würden.[37] Es wurde vermutet, dass diese Zahl bis zur Mitte des Jahrzehnts eine Mischung aus neuen Armata-Fahrzeugen und der Modernisierungen vorhandener Plattformen beinhalten würde. Doch im Jahr 2021 liegt die Beschaffung von Fahrzeugen der Armata-Familie – die aus dem Hauptkampfpanzer und schweren Infanteriekampffahrzeugen besteht – weit hinter dem Zeitplan zurück: Sie wurde jetzt in das SRP 2027 verschoben.[38] Es bleibt auch fraglich, wie viel gepanzerte Fahrzeuge der Armata-Serie letzten Endes beschafft werden.[39] Die Anschaffung relativ weniger Exemplare, aufgrund der Kosten, könnte durch weitere Käufe des Kampfpanzers T-90M und die fortgesetzte Modernisierung der älteren T-72-Kampfpanzer erweitert werden. Tatsächlich wurden im Rahmen des SRP 2020 bislang vor allem modernisierte T-72, aber keine gepanzerten Fahrzeuge der Armata-Familie ausgeliefert. Der T-72 bildet nach wie vor das Rückgrat der russischen Panzerwaffe.[40]

 Einer der wenigen Armata Kampfpanzer auf einer Truppenparade im Jahr 2015

Einer der wenigen Armata Kampfpanzer auf einer Truppenparade im Jahr 2015

Eine ähnliche Entwicklung gab es bei den Artilleriesystemen. Bei der Siegesparade im Jahr 2015 wurde auch die Koalitsiya-SV 152-mm-Selbstfahrhaubitze vorgeführt. Sie sollte das alternde 2S19-Msta-System ablösen. Aber im Jahr 2021 ist Koalitsiya noch immer nicht im Dienst. Stattdessen hat Russland das 2S19 und das 2S3-Akatsiya-System modernisiert, aber es verfolgt das Koalitsiya-Projekt weiter. Andere ältere und schwerere Systeme werden ebenfalls modernisiert, etwa der 2S4-Tjulpan-Mörser. Diese Entwicklungen reflektieren vielleicht Erkenntnisse aus den Einsätzen in Syrien und der Ukraine, bei denen gegen befestigte Stellungen eine höhere Feuerkraft erforderlich war.[41] Darin spiegelt sich aber auch ein zunehmend zweigleisig werdender Modernisierungsprozess wider: die Konzentration auf neue Plattformen und auf die Modernisierung bestehender Systeme sowie auf zusammengefasstes Feuer und Präzisionsangriffe. Was Letzteres anlangt, erwies sich das SRP 2020 als erfolgreich, da es das Nachfolgemodell für die ballistische Kurzstreckenrakete 9K79 Tochka (SS-21 Scarab) bereitstellte. Sämtliche ballistische Raketenbrigaden der Landstreitkräfte sind mittlerweile mit der 9K720 Iskander-M (SS-26 Stone) ausgerüstet worden. Diese hat ungefähr die dreifache Reichweite der weitreichendsten Version der SS-21. Eine Brigade ist in Kaliningrad stationiert, und das System kann auch für den Abschuss von Marschflugkörpern vom Typ 9M728 (SSC-7 Southpaw) genutzt werden, die gegen Landziele eingesetzt werden können. Das Heer beginnt, auf das präzisionsgelenkte Mehrfachraketenwerfersystem Tornado-S umzurüsten.[42]

5.3 Seestreitkräfte

Im Lauf des Modernisierungsprozesses hat sich gezeigt, dass die Ambitionen der russischen Kriegsmarine und die tatsächlichen Resultate immer weiter auseinanderklaffen. Während die Seestreitkräfte nach wie vor Hochseefähigkeiten und trägergestützte Luftmacht anstreben, sind die Bauprogramme für Überwasserschiffe und U-Boote mittlerweile weit hinter dem Zeitplan zurückgefallen. Aber dies wurde bis zu einem gewissen Grad durch Investitionen in die Integration von Fähigkeiten wettgemacht, u. a. die Fähigkeit, Landziele aus einer Entfernung von bis zu 2.500 Kilometern mit konventionell bewaffneten Marschflugkörpern anzugreifen. Die 3M14 Kalibr wird heute in großem Umfang auf Schiffen und U-Booten stationiert.[43] Gegenwärtig finden auch Erprobungen des Hochgeschwindigkeitsmarschflugkörpers Tsirkon statt, und es ist durchaus möglich, dass Tsirkon das Rückgrat der nächsten Generation russischer Präzisionslenkwaffen bilden wird.

Das Programm zum Bau eines mit Marschflugkörpern bewaffneten Atom-U-Boots – das Projekt Jasen/Jasen-M – ist, obgleich in Verzug, von zentraler Bedeutung für die offensive unterseeische Schlagkraft der Seestreitkräfte.[44] Die Erhaltung und Modernisierung der U-Boot-Flotte steht nach wie vor im Zentrum der zukünftigen Seekriegsfähigkeiten Russlands. Dies hängt nicht nur mit der historisch bedeutsamen Stellung von U-Booten zusammen, sondern auch damit, dass die Bauziele für eine Vergrößerung der Überwasserflotte deutlich verfehlt worden sind. Zwar sind Exemplare einiger neuer Klassen ausgeliefert worden, wie etwa Bujan-Korvetten und Stereguschtschi-Fregatten, aber andere, wie die Gorschkow-Fregatten, haben die Schwierigkeiten umfassend vor Augen geführt, mit denen der russische Schiffsbau zu kämpfen hat. Auch sind für die Zerstörer der Lider-Klasse – die zu einer Plattform von einer Dimension aufgewachsen sind, dass sie fast schon als Kreuzer gelten können – in dem SRP 2027 anscheinend keine Mittel bereitgestellt worden.[45] Selbst wenn moderne Hochsee-Überwasserplattformen in hinreichender Zahl einzutreffen beginnen, werden sie möglicherweise die schwindenden Altbestände nicht vollständig ersetzen können. Die zukünftigen Fähigkeiten zur Machtprojektion beruhen auf dem Programm zum Bau von Flugzeugträgern. Dieses Programm gilt heute als unsicher. Es deutet auch wenig darauf hin, dass Mittel für den Ersatz des Flugzeugträgers Admiral Kusnezow bereitgestellt werden. Ungeachtet all ihrer Schwächen muss die Kusnezow vielleicht bis in die 2030er-Jahre hinein in Dienst gestellt bleiben, wenn die Kriegsmarine auch nur in einem geringfügigen Ausmaß eine trägergestützte Marineflieger-Komponente aufrechterhalten will.

5.4 Luft- und Weltraumkräfte

Wie bei den Seestreitkräften wurden auch Schlüsselprojekte für die Luft- und Weltraumkräfte verschoben. Allerdings verfügen diese als Zwischenlösung über bessere Optionen als die Landstreitkräfte. Ein zentrales Ziel des SRP 2020 für die Luftstreitkräfte war die Einführung des Kampfflugzeugs Su-57 Felon. Dieses Ziel wurde nicht erreicht. Die Pläne waren zu ambitioniert. Im Jahr 2010 sollte die Serienproduktion aufgenommen werden. Tatsächlich befindet sich das Flugzeug Anfang 2021 noch immer in der Erprobung. Anfängliche Pläne im Rahmen von SRP 2020, die darauf hinausliefen, 60 Maschinen dieses Typs zu kaufen, wurden aufgegeben. Während für das SRP 2027 ursprünglich eine geringe Zahl eingeplant war, erhöhte Putin diese Zahl auf 76, die Ende 2027 erreicht werden soll.[46] Angesichts von Problemen mit der Su-57 konnte die Luftwaffe auf eine Übergangsoption zurückgreifen, die Su-35S Flanker M. Obwohl die Su-35S kein Tarnkappendesign besitzt, stellt sie der Luftwaffe ein fähiges Mehrzweckkampfflugzeug für die Rolle des Luftüberlegenheitsjägers bereit. Mitte 2020 ging man davon aus, dass Ende 2027 drei Su-57-Regimenter im Dienst sein würden, und zusammen mit der Su-35S und der Su-30SM Flanker H wird dieses Design die gesamten 2030er-Jahre hindurch das Rückgrat der taktischen Luftstreitkräfte Russland bilden.[47] Unterdessen ersetzt die aus der Su-27 abgeleitete Su-34 Fullback die Su-24 Fencer in den Rollen als Jagdbomber, Aufklärer und zur elektronischen Kriegsführung. Gleichzeitig verbessern modernisierte Luft-Luft- und Luft-Boden-Raketen die Kampffähigkeiten der Luft- und Weltraumkräfte. Die Luftverteidigungsfähigkeiten verbessern sich ebenfalls, auch wenn die Entwicklung des Boden-Luft-Raketensystems S-500 langsamer voranging als geplant. Die Entwicklung von Abwehrsystemen für Angriffe im Weltraum hat ebenfalls von einer verbesserten Finanzausstattung profitiert. Boden- und luftgestützte Antisatellitenraketen, Laser- und Teilchenstrahlen- sowie ko-orbitale Fähigkeiten befanden sich im Jahr 2020 alle in relativ fortgeschrittenen Entwicklungs- und Erprobungsphasen.[48]

Die Fernfliegerkräfte profitieren von anhaltenden Investitionen in die Bomber Tu-160 Blackjack und Tu-95MS Bear H. Die Arbeiten an einem neuen strategischen Bomber mit Tarnkappeneigenschaft (Tupolew PAK-DA) gehen weiter, auch wenn dieses Projekt, wie die Su-57, unter Verspätungen leidet. Und wie die Su-57 hat die Luftwaffe zur Überbrückung auf ein bereits bestehendes Design, die Tu-160, zurückgegriffen.[49] Das Programm sieht nach dreißigjähriger Pause die Wiederaufnahme der Produktion des Blackjack vor. Der Tu-22 wird ebenfalls modernisiert. Aber es bleibt abzuwarten, ob Russland die finanziellen und industriellen Kapazitäten besitzt, um das Tu-160M-Programm und das neue Design parallel laufen zu lassen.[50]

6 Ausblick

Die russischen Streitkräfte geben Moskau glaubwürdige militärische Instrumente zur Verfolgung nationaler politischer Ziele an die Hand. Russland ist bestrebt, bei der Verfolgung seiner politischen Ziele auch andere Instrumente nationaler Machtausübung zu nutzen.[51] Zweifellos haben derartige Mittel – darunter die Nutzung von Energieabhängigkeiten aber auch von Stellvertreterkräften – in der Vergangenheit ihre Wirkung gehabt.[52] Auch wenn die Streitkräfte nur eines von mehreren Instrumenten der russischen Politik sind, bleiben die russischen Streitkräfte von zentraler Bedeutung für Moskaus Konzeptionen zukünftiger Konflikte. Nach Aussage von Generalstabschef General Waleri Gerassimow kommt ihnen eine „entscheidende Rolle“ zu, auch wenn die Grundsätze der Kriegsführung sich weiterentwickelt haben mögen und jetzt auch nicht-militärische Mittel einschließen.[53]

Die gegenwärtigen Streitkräfte Russlands sind aus den Formationen der sowjetischen Ära hervorgegangen, und dieser Transformationsprozess begann in den 1990er-Jahren. Die Bemühungen, das Militär zu modernisieren, neu auszurüsten und zu reformieren, führten zu Streitkräften, die heute kleiner, besser ausgestattet und besser ausgebildet sind und die auf einem höheren Stand der Einsatzbereitschaft gehalten werden als ihre sowjetischen Vorgänger. Tatsächlich ist die Verwirklichung dieses Reformziels – nämlich nicht länger, wie noch in der Sowjetära, auf Massenmobilisierung angewiesen zu sein und moderne Streitkräfte hoher Einsatzbereitschaft zu schaffen – der übergeordnete Erfolg der nach 2008 verfolgten Reformen gewesen. Die russischen Streitkräfte sind auch professioneller geworden. Russland hat traditionell den größten Teil seiner aktiven Soldaten aus Wehrpflichtigen rekrutiert. Heute setzt sich die Truppe nur noch zu einem guten Drittel aus Wehrpflichtigen und zu fast zwei Dritteln aus Zeit- bzw. Berufssoldaten zusammen. Allerdings sprechen die Größe und die Natur der Streitkräfte, wenn heute auch aus anderen Gründen, noch immer dafür, dass die Planungen auf einen schnellen Feldzug und eine rasche Entscheidung in jedem Konflikt ausgerichtet sind.

Der grundsätzliche Erfolg der Reform- und Neuausrüstungspläne wäre ohne die entsprechende Aufstockung der Budgetmittel nicht möglich gewesen. Allerdings ist die Finanzierung nach wie vor von den ökonomischen Realitäten abhängig. Die russische Wirtschaft ist noch immer in hohem Maße von Rohstoffexporterlösen abhängig, und die Auswirkungen schwankender Ölpreise sind in Moskau deutlich zu spüren. Daher musste die militärische Führung bei der Verfolgung ihrer Modernisierungspläne pragmatisch sein, und dies wird vermutlich auch weiterhin der Fall sein. Strukturreformen wurden pragmatisch angegangen. Mitunter wurden im Rahmen der Reformen radikale Pläne umgesetzt, aber wenn sie sich als suboptimal erwiesen, wurden sie überarbeitet oder rückgängig gemacht. Wenn es die Finanzen erlaubten, wurden Einheiten neu ausgerüstet und Projekte zur Entwicklung neuer Fähigkeiten in Angriff genommen (beziehungsweise alte Programme wurden wiederbelebt). Wenn die Mittel knapp waren, mussten die Streitkräfte diesem Umstand Rechnung tragen und sich mit Lieferverzögerungen abfinden. Und wahrscheinlich werden auch die zukünftigen SRP Flexibilität erfordern, weil sich einige Projekte aufgrund von Finanzierungs- und Produktionsproblemen verzögern werden. Solche Faktoren, wie der erreichte Entwicklungsstand neuer Plattformen und auch industrielle Kapazitäten, werden diesen Pragmatismus ebenfalls weiterhin beeinflussen.

In Anbetracht von Entwicklungsverzögerungen und oftmals optimistischer Indienststellungstermine sah sich Moskau gezwungen, auf Modernisierungen bereits eingeführter Designs als Überbrückungslösungen für den Bedarf an bestimmten Fähigkeiten zurückzugreifen, sofern die industrielle Kapazität dafür vorhanden war. Dies wird wahrscheinlich in nächster Zeit so weitergehen, und es bedeutet, dass nicht alle Ziele des russischen Modernisierungsprogramms erreicht werden. Dennoch war die militärische Modernisierungsinitiative bislang im Großen und Ganzen erfolgreich darin, Rüstungsgüter auszuliefern, die eine höhere operative Effizienz ermöglichen. Bei den Landstreitkräften wird sie weiterhin hinter den Planungen zurückbleiben (Ende 2020 betrug der Prozentsatz „moderner“ Ausrüstung bei den Landstreitkräften nur rund 54 Prozent).[54] Aber für die Typen von Feldzügen, für welche die Landstreitkräfte bislang ausgerüstet und eingesetzt worden sind, hat sich dies als ausreichend erwiesen. Dies gilt auch für die Investitionen in Waffensysteme für Langstrecken-Präzisionsangriffe, die im Ausland Befürchtungen geweckt haben.

Tatsächlich kann man sagen, dass die russischen Streitkräfte zwar nicht alle Ausrüstungsgüter erhielten, die ihnen im Rahmen der Reformen und des SRP 2020 zugesagt wurden, aber sie bekamen immerhin das, was sie befähigte, im Jahr 2015 einen temporeichen Kampfeinsatz in Syrien zu beginnen. Und die russischen Streitkräfte haben diesen Einsatz bis heute durchgehalten. Außerdem gibt der Syrien-Einsatz den Streitkräften einzigartige Gelegenheiten, Erfahrungen aus Übungen zu ziehen und Impulse für weitere Entwicklungen daraus zu ziehen. Der Einsatz wurde genutzt, um neue Plattformen, Waffen und Personal zu testen. Damit wurde eine Verbesserung der Leistungsfähigkeit der russischen Streitkräfte erreicht. Die Intervention in Syrien hatte aber auch einen strategischen Signalcharakter und diente als Schaufenster für potentielle ausländische Abnehmer russischer Rüstungsgüter. Die militärische Führung legte nicht nur Wert darauf, dass ihre Kräfte praktische Kampferfahrungen sammelten – und daraus lernten –, vielmehr hat sie sich auch darum bemüht, die Übungsmöglichkeiten im Inland, Manöver eingeschlossen, zu verbessern. Und auch wenn die Luft- und Weltraumkräfte das Rückgrat und die Hauptnutznießer des Syrien-Einsatzes sind, machen sich die Lerneffekte weit darüber hinaus bemerkbar. Syrien hat Moskau die Gelegenheit gegeben, Elemente seiner Führungsarchitektur, einschließlich des (2014 gegründeten) Nationalen Einsatzführungskommandos, in einem Einsatzumfeld mit Beteiligung sämtlicher Teilstreitkräfte praktisch zu erproben. Tatsächlich stehen die Doktrin des Teilstreitkräfte-übergreifenden Einsatzes und die Führungsstrukturen, die diesen auf allen Kommandoebenen unterstützen, immer mehr im Fokus der russischen Streitkräfte.

Die Reform- und Modernisierungsagenda hat sich auf alle Teile der russischen Streitkräfte ausgewirkt. Das Personal ist besser ausgebildet, und es wird auf einem höheren Stand der Einsatzbereitschaft gehalten als zuvor. Alle Teilstreitkräfte haben von einer besseren Finanzausstattung profitiert. Die größten Nutznießer von Neuausrüstungsprogrammen waren die Strategischen Streitkräfte und die Luft- und Weltraumkräfte, während die Seestreitkräfte zum Beispiel Mühe hatten, die Zielvorgaben für Überwasserschiffe zu erfüllen. Auch die Beschaffungsziele für die Landstreitkräfte wurden in einigen Schlüsselbereichen wie bei schweren Panzern verfehlt. Der Modernisierungsprozess hat keine Streitkräfte hervorgebracht, die es bezüglich Fähigkeiten und Größe in einem längeren, uneingeschränkten konventionellen Krieg mit den Vereinigten Staaten und der NATO aufnehmen könnten, aber dies war wahrscheinlich auch nie das Ziel. Russlands politischer Führung stehen heute gut ausgerüstete konventionelle Streitkräfte zur Verfügung, deren personelles Rückgrat Berufssoldaten statt Wehrpflichtige bilden. Die zentrale Herausforderung für Moskau wird allerdings darin bestehen, dieses Fortschrittstempo durchzuhalten, nicht nur in Bezug auf die Verteidigungsausgaben, sondern auch im Hinblick auf die Steigerung der wehrtechnologischen Innovationskraft und der Produktionskapazitäten seiner Rüstungsindustrie.


Anmerkung

Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung der IISS-Studie Russia’s Military Modernisation: An Assessment, die 2020 in englischer Sprache publiziert wurde.


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Published Online: 2021-06-03
Published in Print: 2021-06-01

© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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