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BY-NC-ND 4.0 license Open Access Published by De Gruyter November 29, 2022

Jeffrey Mankoff: Russia’s War in Ukraine. Identity, History and Conflict. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies (CSIS), April 2022,

  • Irene Etzersdorfer EMAIL logo

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Jeffrey Mankoff Russia’s War in Ukraine Identity, History and Conflict. Washington, D.C. Center for Strategic and International Studies (CSIS) April 2022


Die Zeitschrift „SIRIUS“ sieht sich als Bindeglied zu der Welt der strategischen Forschungseinrichtungen und veröffentlicht regelmäßig Kurzdarstellungen von ausgewählten Studien, die sich mit wichtigen Aspekten der internationalen strategischen Entwicklung befassen. Dabei werden in jedem Heft einzelne Schwerpunkte gesetzt. Die Kurzdarstellungen dienen primär der Wiedergabe der Ergebnisse dieser Studien, das schließt kritische Kommentierung nicht aus.

Laut dem Verfasser der Studie basiert die russische Invasion in die Ukraine auf groben Fehlkalkulationen – allen voran dem Glauben, man würde in kurzer Zeit mit geringem militärischen Aufwand ein schwaches ‚faschistisches‘ Marionettenregime von Westens Gnade wegfegen und dort mehrheitlich auf eine Bevölkerung treffen, die in den Russen ihre wahren Befreier erkennt; bereit, ihr größtenteils aufgezwungenes, nur oberflächliches ukrainisches Nationalgefühl zugunsten viel tiefer verankerter ‚ewiger‘ kultureller, familiärer und politischer Affinitäten zu Russland, über Bord zu werfen. Dieser Glaube an ein leichtes Spiel mit einem durch westliche Einflüsse verwirrten Volk, das im Angesicht des großen Verwandten zur Besinnung kommt und seine nationale Eigenständigkeit aufgibt, dominiert nach Jeffrey Mankoff die politischen Eliten Russlands bis heute. Er bildet das geistige Sediment für den nahezu widerstandslos akzeptierten Angriffskrieg auf den seit 1991 souveränen Nachbarstaat, gegenüber dessen Transformation und ‚Ukrainisierung‘ in Russland Blindheit vorherrschte.

Um es vorweg zu nehmen: Jeffrey Mankoff verwickelt sich mit seiner These jedoch in einen Widerspruch. Einerseits behauptet er, die russische Fehleinschätzung beruhe auf der eingangs beschriebenen, weit verbreiteten russischen Wahrnehmungsstörung, die zur Leugnung eines distinkten ukrainischen Nationalgefühls führte. Andererseits buchstabiert seine Analyse genau jene politischen Etappen durch, die – zum Teil von den russischen Interventionen in innere ukrainische Angelegenheiten provoziert – ein solches Nationalgefühl beflügelten, das sehr wohl in Russland wahrgenommen wurde. Nicht zuletzt rief der sichtbare Aufbau einer ukrainischen Nation unter permanenten russischen Torpedierungsversuchen jene inneren Spannungen hervor, die der Sehnsucht nach einem westlichen Schutzschirm Auftrieb verliehen. Zwangsläufig wird man an den berühmten Ausspruch des frühen Nationalismusforschers Ernest Renan erinnert, der behauptete, dass Nationen in ihrem Entstehen auch viel aus der Geschichte ‚vergessen‘ müssten. Weder eine gemeinsame Sprache wäre essentiell noch ethnische Homogenität. Was zähle, wäre das Bekenntnis zu einem ‚täglichen Plebiszit‘, dem mehrheitlichen politischen Willen eines Volkes zu einem gemeinsamen Staat. Genau dieser Prozess ließ sich in der Ukraine beobachten. Ohne Ernest Renan zu erwähnen, zeigt Jeffrey Mankoff, wie sich dieser gemeinsame politische Wille in den letzten 30 Jahren trotz russischer Einflussnahmen letztlich durchsetzte. Schon 1991 sprachen sich 92,3 Prozent der stimmberechtigten Bevölkerung für die Unabhängigkeit aus, darunter auch ein Gutteil der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine. Dass ‚Ukrainisierungsversuche‘ im Sinne einer Konsolidierung und Stärkung des ukrainischen Nationalbewusstseins seitens der Politik nicht ausblieben, entspricht der Regel beim Aufbau von Nationen. Ein Tauziehen – bisweilen über Handgreiflichkeiten im ukrainischen Parlament – über die richtige ‚Balance‘ zum russischen Nachbarn und ein kontroverser Diskurs über die gemeinsame Geschichte dominierten die ukrainische Politik über weite Strecken. Die offene Unterstützung Russlands für einige Kandidaten und der offenkundige Versuch, den westlich orientierten Präsidentschaftskandidaten Viktor Yushenko aus dem Weg zu räumen, hat dem ukrainischen Nationalgefühl jedes Mal Auftrieb verlieh. Als der in der Ostukraine verankerte, aber zwischen Russland und einer möglichen EU-Mitgliedschaft liebäugelnde Präsident Wiktor Janukowitsch 2010 ein EU-Assoziationsabkommen zurückzog, fühlten sich bereits viele Menschen in der Ukraine um ihre Zukunft betrogen – und jagten ihn 2014 aus dem Amt, was selbst Russland nicht verhindern konnte. In den Maidan-Protesten zeigte sich schließlich auch der Generationswandel: eine junge, politisch aktive pro-ukrainische und den westlichen politischen Prinzipien zuneigte Zivilgesellschaft war entstanden, konnte nicht mehr ausgegrenzt oder politisch gekauft werden.

In der in Russland kolportierten propagandistischen Version hatten die USA allerdings einen Staatsstreich geplant, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Als Janukowitschs Nachfolger Pedro Poroshenko das EU-Assoziierungsabkommen schließlich unterzeichnete, ging die Ukraine für die von Russland forcierte, an sich schwächelnde Eurasische Wirtschaftsunion endgültig verloren. An der sich daraufhin ändernden Strategie Moskaus zeigte sich jedoch deutlich, dass man dort an keiner Wahrnehmungsstörung litt, sondern die Lage sehr wohl begriff. So ging man zu Teilungsplänen über, annektierte völkerrechtswidrig die mit Autonomierechten ausgestattete Halbinsel Krim und setze sich in Donezk und Luhansk fest. Die Hoffnung war, die dort ansässige mehrheitlich russischsprachige Bevölkerung gegen die für verloren betrachtete Westukraine mobilisieren zu können. Russland entging auch nicht, dass selbst diese militärischen Interventionen die ukrainische Regierung nicht von ihrem westlichen Integrationskurs abbringen konnte – allerdings konnten sie auch nicht zur Umsetzung der Minsker II Dezentralisierungsvereinbarungen für Donezk und Luhansk bewegt werden. Sowohl Pedro Poroshenko (2016) als auch Volodymyr Zelensky (2019) gewannen satte Mehrheiten in allen Landesteilen. Auch diese russische Strategie war nicht aufgegangen. Im Gegenteil, die Angst der NATO-Anrainerstaaten vor einer russischen Aggression führte nach 2014 tatsächlich zu einer Verstärkung des militärischen Potentials der an Russland grenzenden NATO-Mitglieder, ohne dass je eine Bedrohung von der Allianz ausging.

Dass in Teilen der russischen Elite noch immer ein anderes wishful thinking vorherrscht, mag stimmen. Dass sich in einem autoritären Staat Geschichtslügen in das Ordnungsprinzip der gezielten Lüge einfügen, sicher auch. Dazu zählt, eine unliebsame Gegenwart anhand selektiv zusammen gewürfelter Ereignisse aus der Vergangenheit zu interpretieren und eine ewige Wiederholung der Geschichte zu behaupten. Aus dem geopolitischen Schicksal im 19.Jahrhundert – als das heutige ukrainische Territorium rivalisierenden Imperien untergeordnet war und ukrainische Nationalbewegungen in der Westukraine unter Habsburgerherrschaft zur Schwächung des russischen Zarenreiches unterstützt wurden – Parallelen für die Gegenwart zu konstruieren, ist absurd, mag aber bequem sein. So wie es sich um ein allgemeines Verhalten von Imperien gegenüber konkurrierenden Nationalbewegungen handelte, galt dies für die von Russland unterstützten Nationalbewegungen gegen die Habsburger. Es trifft auch zu, dass die Nationalsozialisten in der Ukraine wüteten, die jüdische Bevölkerung auslöschten und Stepan Bandera’s Ultranationalisten unterstützten, so dass selbst der Dissident und Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn nach 1991 gegen die Falschheit einer ukrainischen Nation und Sprache wetterte, Boris Jelzin der Unabhängigkeit der Ukraine im Glauben an den Bestand der bleibenden engen Bande zu Russland zustimmte und die russische Orthodoxie immer an der Seite der Herrschenden stand. Dennoch lässt sich daraus keine glaubhafte Parallele zum Verhalten westlicher Staaten oder auch der NATO nach 1991 konstruieren. Allen Beteiligten ist klar, dass ein souveräner Staat in der Wahl seiner Bündnispartner prinzipiell frei ist. Ob und wo die Grenzen der politischen Klugheit überschritten wurden, ist eine andere Frage, die jedoch an den Normen des kollektiven Sicherheitssystems, auf das sich Russland und die Ukraine verpflichtet haben, Halt macht. Und Letzteres ist Russland auch bewusst, sonst müsste es seine unfassbaren Völkerrechtsbrüche nicht mit Lügengebäuden verteidigen. Das leitende russische Handlungsmotiv ist Nichtakzeptanz und keinesfalls Nichtwahrnehmung der ukrainischen Transformation. Über die Stimmung in Russland erfahren wir tatsächlich wenig. Mit der Mär von der Nichtexistenz einer ukrainischen Nation wurde in Russland jahrelang versucht, Scheinlegitimität für gänzlich Uninformierte aufzubauen; denn woraus immer sich nationale Identitäten zusammensetzen mögen – und sie können zum Gutteil auf der Negation einer dominanten Macht gründen –, sind den relevanten russischen politischen Akteuren wie auch der gebildeten Bevölkerung die elementaren Normen des Völkerrechts bekannt. Fragen des Nationalgefühls, ob stark oder schwach, russisch, ukrainisch oder vom Ausland aufgebaut, spielen keine Rolle, wenn es um einen Angriffskrieg – das schwerste internationale Verbrechen neben dem Völkermord – geht. Die Ukraine ist als souveräner, von der Staatengemeinschaft anerkannter Staat in seinen festgelegten Grenzen jenseits der Frage, ob Russland seine Bevölkerung als kulturell verwandt einstuft, zu respektieren. Genau deswegen, so Jeffrey Mankoff am Schluss seiner Analyse, trägt die Invasion den Beigeschmack einer Verzweiflungstat: jetzt oder nie, denn die Ukraine entgleitet uns. Womit Jeffrey Mankoff seine These selbst widerlegt.

https://www.csis.org/analysis/russias-war-ukraine-identity-history-and-conflict

Published Online: 2022-11-29
Published in Print: 2022-12-16

© 2022 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 5.12.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/sirius-2022-4008/html
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