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Sonnenfeld Jeffrey A. Tian Steven Sokolowski Franek Wyrebkowski Michal Kasprowicz Mateusz Business Retreats and Sanctions Are Crippling the Russian Economy Measures of Current Economic Activity and Economic Outlook Point to Devastating Impact on Russia. New Haven Yale University Juli 2022
Im Westen dominiert das Narrativ, wonach die westlichen Sanktionen weitgehend verpuffen würden. Die Verfasser zeigen, dass dies mitnichten der Fall ist. Vielmehr wirkten diese zunehmend, und die im Westen vorgetragene vorgebliche Nichtwirksam gehe auf eine geschickte Kombination aus von Russland unterdrückten und manipulierten Daten zurück, die vor allem die offiziösen Aussagen des Internationalen Währungsfonds manipuliere. Jeffrey Sonnenfeld nannte dies in einem Interview für die Börsenzeitung ein „gewissenloses Nachbeten von Putins Propaganda“ (30.7.22). Die hier vorliegende Studie der Yale-Universität ist eine wichtige und vor allem die erste fundierte ökonomische Wirkungsanalyse. Da sie ihre Grundlagen öffentlich macht, lädt sie zum inhaltlichen und methodischen Wettbewerb ein – eine Herausforderung, die durch die klare Strukturierung gut angenommen werden kann und die sie nach Kenntnis des Autors dieser Besprechung bisher mit Bravour bestand.
Grundsätzlich werfen Sonnenfeld et al. den „sogenannten Experten“ vor, die erforderliche Sorgfalt bei der Analyse russischer Daten vermissen zu lassen und das systematische Fehlen von Datensätzen bzw. häufige methodische Änderungen, die seit Kriegsbeginn greifen, nicht zu hinterfragen. Dabei gäbe es durchaus Möglichkeiten, die russische ökonomische Realität darzustellen, teilweise aus Veröffentlichungen, die in einem anderen Zusammenhang geschehen sind, teilweise durch Rekonstruktion aus verlässlichen Quellen. Dies sei insbesondere bei Daten zum Handel möglich, indem man Angaben von russischen Handelspartnern auswertet. Die wesentlichen Erkenntnisse der Studie lauten wie folgt:
Die Position Russlands als Exporteur von Waren habe sich unwiederbringlich verschlechtert, speziell gegenüber ehemaligen Großabnehmern, für die es über lange Zeit aufgrund von sektoralen Passungen und vor allem Transportstrukturen keinen Ersatz geben wird. Der Exodus von über 1.000 Unternehmen bedeute, das rund 40 Prozent der Wertschöpfung im Risiko stehen.
Die Importe seien weitgehend zusammengebrochen, vor allem bei Hochtechnologieprodukten. Ersatzlieferungen von potenten neuen Lieferanten, vor allem China, erfolgten höchst zögerlich – wenn überhaupt.
Importe stünden für rund 20 Prozent der russischen Wirtschaftsleistung; viele seien im Inland nicht zu substituieren und führten zum Stillstand ganzer Wertschöpfungsketten und damit weiter Teile der Wirtschaft. Sie gingen gegenüber 2021 um auf die Hälfte zurück. Zwei Drittel der befragten russischen Firmen gäben an, vor erheblichen Lieferkettenproblemen zu stehen, und für 82 Prozent der Güter gäbe es keinen Ersatz. Der Konsum sei gegenüber dem Vorjahr um rund 20 Prozent eingebrochen, der Autoverkauf sei auf ein Achtel geschrumpft.
Trotz mannigfaltiger Vorkehrungen befänden sich die zu rund 60 Prozent (drei Viertel davon Öleinnahmen) vom Rohstoffsektor abhängigen öffentlichen Haushalte in Schieflage, weil die Einnahmen implodierten – von April auf Mai 2022 allein meldete der Kreml einen Rückgang um 50 Prozent. Um die Wirtschaft zu stabilisieren, habe die Zentralbank die Märkte geflutet – die Geldmenge sei um rund 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen, was auch in einer Inflationsrate von rund 20 Prozent deutlich werde.
Der Zustand der Finanzmärkte, der auch ein Bild auf die Zukunftseinschätzungen der russischen Wirtschaft erlaube, verdeutliche, dass ein tiefer Pessimismus vorherrsche, der durch eine starke Kapitalflucht und das Ausbluten der internationalen Reserven – wenn sie nicht blockiert sind – untermauert werde. Insbesondere werde die Kapazität fehlen, nach einer Beendigung des Kriegs das Land aus eigenen Kräften aufzubauen.
Insgesamt kommen die Verfasser zu dem Schluss, dass eine Erholung der Wirtschaft keinesfalls zu erwarten ist. Eine Achillesferse der russischen Wirtschaft sei die hohe weltwirtschaftliche Integration auf der Ebene der Technologie und der Spezialgüter vor allem auf der Inputseite. Diese müsse im Kontext eines extraktiven und korrupten Institutionensystems gesehen werden, welches verhindert habe, dass die Breite der eigenen Wirtschaft verbessert werden konnte. Mit dem in Russland vorherrschenden autoritären Herrschaftssystem sind moderne und zukunftsfähige Wirtschaftsformen nicht kompatibel. Eine diversifizierte Wirtschaft – in Deutschland würde man auch von mittelständischen Strukturen sprechen – stellt für derartige Strukturen eher eine wirtschafts- und gesellschaftspolitische Bedrohung dar.
Das immer wieder vorgetragene Potential Chinas und anderer asiatischer Staaten als Ersatzmärkte für Öl und Gas scheitere an dem Fehlen eines effizienten Pipelinesystems, das nur einen Bruchteil der Komplexität und Größe des europäischen Netzes besitzt. Die Pipeline Power of Siberia nach China sei nur zur Hälfte ausgelastet, und es erfolgten kaum Investitionen aus der Seidenstraßen-Initiative in Russland. Die Transportzeit von den europäischen Häfen Russlands nach Ostasien per Schiff betrage teilweise 35 Tage. Russland besitze noch nicht einmal die Kompetenz, das eigene Land angesichts der aktuellen Überschüsse auf Gas umzustellen, weil es hierfür vor allem Technologien und Produkte aus Deutschland und Österreich benötige. Auch neue Explorationen seien ohne ausländische Technologie kaum darzustellen.
Der Exportsektor, so die Studie, schwächelt. Bemerkenswert sei, dass zwar die Erlöse aus abnehmenden Verkäufen nach Europa gestiegen sind, dies gelte aber nicht global. Die russischen Exporte in den mutmaßlichen Zukunftsmarkt China seien um 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr gefallen.
Bedauerlich ist, dass nicht mehr auf die anderen Ressourcen Russlands eingegangen wird. Am Beispiel Kupfer wird die fehlende Relevanz Russlands für die Weltwirtschaft verdeutlicht, aber wie ist es mit Nickel oder insbesondere Palladium? Hier führt Russland mit 40 Prozent der Weltproduktion. Das provoziert zu einer Randnotiz: Betrachtet man die für den Westen noch wichtigeren Verarbeitungskapazitäten der für die Energiewende essentiellen Mineralien, so liegen diese allesamt in China: Nickel 68 Prozent, Kobalt 73 Prozent, Graphit 100 Prozent, Lithium 59 Prozent und Mangan 93 Prozent.
Der Westen muss Russland die Möglichkeiten nehmen, diesen Krieg aus wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Gründen weiterzuführen, oder mit Nietzsche: „Was fällt, das soll man auch noch stoßen.“ Die beste Zeit für Sanktionsverschärfungen liegt aktuell hinter uns, denn die kalten Jahreszeiten stehen vor der Tür. Der Kollaps der russischen Wirtschaft ist im Interesse der freien Welt. Ihn, als glaubhafte Drohung zu betreiben, könnte ebendort ein Einlenken, vielleicht gar einen Regimewechsel bewirken, um der wirtschaftlichen Selbsterhaltung willen und auch, um wieder Teil der globalen Wirtschaft und nicht ein Appendix Chinas zu werden. Denn auch dies ist deutlich zu machen: Eine freie Ukraine ist durchaus mit einer Erneuerung der Beziehungen zu Russland kompatibel, sofern dort andere Herrschaftsverhältnisse bestehen.
https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=4167193
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