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Publicly Available Published by De Gruyter July 11, 2016

Exerzitien, spirituelle (Geistliche Übungen)

  • Eckhard Frick EMAIL logo
From the journal Spiritual Care

Die Ejercicios Espirituales gehen auf den baskischen Mystiker Ignatius von Loyola zurück, der auch das gleichnamige Büchlein verfasste. Zuvor von mehreren regionalen Inquisitionsgerichten belangt, war es ihm wichtig, für den Text eine offizielle kirchliche Anerkennung zu erhalten (1548). Originell am Text der S. E. sind weder dessen sprachliche Form noch konkrete Methoden des Betens und Meditierens, wofür Ignatius viele Anleihen bei der Tradition macht. Ähnlich wie ein Kochbuch sind die S. E. so lange unlesbar, bis die S. E. „gemacht“, d. h. ihre ‚Rezepte‘ in die Tat umgesetzt werden. Deshalb bedeutet „S. E.“ im Folgenden zweierlei; zum einen: den Text des E.-Büchleins (nach der üblichen Nummern-Zählung zitiert), zum anderen und vor allem: den E.-Prozess in der Praxis. Ignatius selbst verstand sich weder als Erfinder noch als Erstautor der S. E.. Vielmehr wollte er, von seiner eigenen mystischen Erfahrung ausgehend, die S. E. „geben“. Damit löste er in den auf ihn folgenden Jahrhunderten eine breite und vielfältige Erfahrungs-Weitergabe aus, nicht nur innerhalb des von ihm gegründeten Jesuitenordens, sondern bei ungezählten Frauen und Männern, die sich von der Spiritualität der S. E. ansprechen ließen und lassen.

Ignatius vergleicht die S. E. mit sportlichen Übungen (Umhergehen, Wandern, Laufen, S. E. Nr. 1). Der Begriff „s.“ (espiritual) lebt von dieser Leib-Seele-Harmonie, bisweilen auch von der durch das Miteinander von Leib und Seele im Menschen entstehenden Spannung. Deshalb gehören Elemente von Leib-Arbeit (Yoga, Eutonie, Feldenkrais u. a.) zum Programm vieler S. E.-Kurse. Die Mühen und Anstrengungen des sportlichen Trainings, die Niederlagen, die Motivationsprobleme und inneren Widerstände, die physische und psychische Erschöpfung, aber auch die Freude an der Bewegung, am Mitmachen, vielleicht am Erfolg: all dies verbindet S. E. und Sport (ejercicios corporales). Auch der Begriff mociones (Bewegungen, Regungen) ist noch nahe an der sportlichen Vorstellungswelt. Ignatius bezeichnet mit diesem Oberbegriff die inneren Bewegungen (Emotionen) von Trost und Trostlosigkeit. S. E. dienen nicht der Maximierung des Trost-Erlebens im Sinne eines Wellbeing-Programms. Wiederum hilft der Vergleich mit der sportlichen Anstrengung, die einerseits zu Glücksgefühlen und Flowerleben, andererseits zu Erschöpfung, Schmerz und Unbehagen führen kann. Sowohl Erfahrungen von Trost als auch von Trostlosigkeit bedürfen der Unterscheidung der Geister, um herauszufinden, welche inneren Tendenzen mehr zu Gott hinführen oder mehr von Gott entfernen. Die s.e Unterscheidung im Längsschnitt, d. h. innerhalb eines u. U. längeren Prozesses, relativiert momentane Stimmungen des ‚High‘- oder ‚Down‘-Seins.

Ignatius war überzeugt: Wer sich auf die S. E. einlässt, der ist auch im übrigen Leben fähig, die Spuren Gottes zu entdecken und andere bei diesem Entdecken zu begleiten.

Spiritualität als „s.e Kompetenz“ ähnelt der Sportlichkeit einer Verkaufsperson im Sport-Fachhandel, die selbst sportlich ist, so erscheint und damit die sportliche Kompetenz des Unternehmens verkörpert. Im Unterschied zur Sportlichkeit ist s.e Kompetenz jedoch nicht am äußeren Habitus, am Bewegungsmuster usw. abzulesen. Dass jemand Sport treibt, prägt sein Erscheinungsbild. Die persönliche s.e Praxis hingegen ist hochindividuell und von außen schwer einzuschätzen (Steinforth 2013).

Ignatius nennt ein wichtiges Kriterium für die Einschätzung der s.en Praxis, nämlich die bereits erwähnten „Bewegungen der Seele“: Wenn Trost und Trostlosigkeit und andere emotionale Regungen fehlen, so solle man den Exerzitanten fragen, wann und wie er die Übungen tatsächlich macht (S. E. Nr. 6).

Tagesrhythmus, Dauer und Inhalte der Übungen werden im persönlichen Gespräch zwischen dem Exerzitanten und der Person, die ihn begleitet, besprochen: Am wichtigsten sind für Ignatius Ereignisse aus dem Leben Jesu, andere Texte aus (beiden Teilen) der Bibel sowie Betrachtungen, die das Engagement der Jesus-Nachfolge beinhalten. Ähnlich wie das sportliche Training können auch die S. E. in einem Kontrast zum übrigen Leben stehen, was die Zeitgestaltung und das Zeiterleben angeht. So gehen die S. E. für sehr aktive, vielleicht unter Zeit- und Leistungsdruck stehende, Menschen mit einer abrupten Entschleunigung, einer Entdeckung der Langsamkeit, ja: der Langeweile einher. Während sonst die Tage nicht genug Zeit für die vielfältigen Aufgaben zu haben scheinen, wird jetzt eine einzige Meditation schier endlos lang. Auch das Schlafbedürfnis kann zunehmen. Umgekehrt erleben Menschen, deren Alltag wenig Struktur aufweist, plötzlich das Anfordernde eines Rhythmus im Wechsel von Ruhe, Bewegung und inhaltlicher Fokussierung. Wie auch immer das Leben außerhalb der S. E. aussehen mag: Im Prozess der S. E. geht es nicht um Tun, Wissen oder Informationsverarbeitung, sondern um die Übung der Gegenwart. „Denn nicht das viele Wissen sättigt und befriedigt die Seele, sondern das Innerlich-die-Dinge-Verspüren-und-Schmecken“ (S. E. Nr. 2).

S. E. leben sowohl von der „Abgeschiedenheit“ (S. E. Nr. 20) als auch vom Lebensbezug. Abgeschiedenheit in zeitlicher und räumlicher Hinsicht kann z. B. bedeuten, sich für eine Woche oder sogar einen Monat in ein besonderes E.-Haus zurückzuziehen („retreat“), um sich ganz dem Gebet und der Meditation zu widmen. S. E. „im Alltag“ (S. E. Nr. 19) tragen der Tatsache Rechnung, dass viele aktive Menschen durch berufliche und familiäre Verpflichtungen nur schwer eine längere s.e Auszeit nehmen können. Außerdem verwirklicht diese Spielart „im Alltag“ die andere Dimension von S. E. neben der Abgeschiedenheit, nämlich den Lebensbezug. Ignatius ging es nicht darum, eine fromme Parallelwelt zu schaffen, sondern Gott in allen Dingen zu suchen und zu finden, also auch in unserer säkularisierten, durch Technik und Ökonomie bestimmten Lebenswelt. Die moderne Klinik oder Pflegeeinrichtung ist nicht deshalb ein s.er Ort, weil es dort möglicherweise eine Kapelle, Seelsorge gibt oder weil die Einrichtung eine kirchliche Trägerschaft hat. Vielmehr gibt es dort s. suchende Menschen und sogar S. E. im Erfahrungskontext der Krankheit. Deshalb sind medizinische Räume auch s.e Räume. Weil s.e Haltungen und Überzeugungen auch in Therapieziel-Entscheidungen einfließen, können S. E. den Raum für das Entstehen einer Patientenverfügung bieten (Frick 2016).

Die S. E. haben im Lauf von fünf Jahrhunderten zahlreiche kulturelle und methodische Ausprägungen erlebt. Für die Berücksichtigung der spirituellen Suche heutiger Menschen und deren Lebensbezug sind gegenwärtig besonders wichtig: die kontemplative Spielart der S. E. (Jalics 2006 / 2014), S. E. auf der Straße (Herwartz 2011), der Zen-Weg (Bauberger 2010), der Zugang über das klassische Psychodrama (Frick & Fühles 2009).

Literatur

Bauberger S (2010) Der Weg zum Herzgrund. Zen und ignatianische Spiritualität (Ignatianische Impulse Bd. 42). Würzburg: Echter.Search in Google Scholar

Frick E (2016) Spirituelle Anamnese und Patientenverfügung. Interview mit Ulla-Mariam Hoffmann und Heide Krantz. Spiritual Care 5:43–46.10.1515/spircare-2016-0008Search in Google Scholar

Herwartz C (2011) Brennende Gegenwart. Exerzitien auf der Straße (Ignatianische Impulse Bd. 51). Würzburg: Echter.Search in Google Scholar

Jalics F (2006 / 2014) Der kontemplative Weg (6. Aufl., Ignatianische Impulse Bd. 14). Würzburg: Echter.Search in Google Scholar

Steinforth T (2013) Wie kommt die Spiritualität in die Organisation? Förderung spiritueller Kompetenz von Mitarbeitern und Führungskräften. Spiritual Care 2 (3):8–20.10.1515/spircare-2013-0041Search in Google Scholar

Online erschienen: 2016-7-11
Erschienen im Druck: 2016-7-1

© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 8.12.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/spircare-2016-0101/html
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