Zusammenfassung
Medizinische und politische Autoritäten behandeln die COVID-19-induzierte Ungewissheit durch Containment-Maßnahmen wie Social Distancing, Quarantäne, Abschirmung vulnerabler Populationen. Über diese abwehrende Bedeutung hinaus betrifft das englische Wort “to contain” den Menschen in seiner psycho-sozio-spirituellen Dimension: Wie „containen“, transformieren, transzendieren Subjekte die Erfahrung von Ungewissheit?
Foucault unterscheidet zwischen dem autoritären Pest/Lepra- und dem liberaleren Pocken-Modell der politischen und medizinischen Bewältigung von Epidemien. In westlichen Industrieländern stimmt die Covid-19 Pandemie (2020) recht gut mit dem Pocken-Modell überein, indem sie den Bürgern eine gewisse Bewegungsfreiheit einräumt und über Eindämmungs-Maßnahmen informiert. Foucault zufolge üben medizinische und politische Autoritäten in pandemischen Krisen ihre „Pastoralmacht“ aus. Die „Herde“ der säkularen Pastoren („Hirten“) reagiert auf die Eindämmungsmaßnahmen durch Unterwerfung oder Widerstand, z. B. durch Spiritualität (Selbstsorge, Praktiken durch die das Subjekt an sich selbst die notwendigen Transformationen ausführt, um Zugang zur Wahrheit zu erlangen).
Die pandemische Bedrohung reduziert den Menschen auf seine physische Dimension und schließt psycho-soziale und spirituelle Aspekte aus. Seelsorgende erleben diesen diskursiven Ausschluss, wenn sie als Besucher ausgeschlossen werden. Sie können jedoch sinnlose, toxische oder traumatische Aspekte der Pandemie „containen“ (i. S. v. „halten“) und transformieren. Auf diese Weise repräsentieren sie für Patienten und Personal nicht nur den Ausschluss des Spirituellen, sondern auch Hoffnung und Transzendenz.
Abstract
Medical and political authorities deal with COVID-19-induced uncertainty by adopting containment measures such as social distancing, quarantine, and confinement of vulnerable populations. In addition to this defensive meaning, the English word “to contain” concerns the human being in its psycho-socio-spiritual dimension: How do subjects contain, transform, transcend the experience of uncertainty?
Michel Foucault differentiates between the authoritarian plague/lepers and the more liberal smallpox-model of political and medical coping with epidemics. In Western industrialised countries, the 2020 Covid-19 pandemic matches the smallpox-model, granting citizens some liberty of circulation and informing about containment measures. According to Foucault, medical and political authorities exercise in pandemic crises their “pastoral power”. The secular pastors’ (“shepherds”) “herd” reacts by submission to containment measures or by resistance, e.g., by spirituality (care of the self, practices through which the subject carries out the necessary transformations on himself in order to have access to the truth).
The pandemic threat reduces the human being to his or her physical dimension, excluding psycho-social and spiritual aspects. Chaplains experience this discursive exclusion when excluded as visitors. They may, however “contain” (in the sense of “hold”) and transform the pandemic’s meaningless, toxic, or traumatic aspects, representing to patients and health professionals not only the exclusion of the spiritual but also hope and transcendence.
Vor allem legten alle unsere Mitbürger sehr schnell, sogar in der Öffentlichkeit, die Gewohnheit ab, die sie angenommen haben mochten, die Dauer ihrer Trennung zu schätzen. Warum? Als die größten Pessimisten sie zum Beispiel auf sechs Monate festgelegt hatten, als sie im Voraus die ganze Bitterkeit dieser kommenden Monate durchgemacht, mit großer Mühe ihren Mut dieser Prüfung angepasst und ihre letzten Kräfte angespannt hatten, um ohne zu wanken auf der Höhe dieses über eine so lange Folge von Tagen ausgedehnten Leids zu bleiben, da brachte sie manchmal ein zufällig getroffener Freund, eine in einer Zeitung geäußerte Meinung, ein flüchtiger Argwohn oder eine plötzliche Einsicht auf die Idee, dass es schließlich keinen Grund gab, warum die Krankheit nicht länger als sechs Monate dauern sollte, vielleicht ein Jahr oder noch länger (Camus 1947/2013: 56).
1 Einleitung
Am 11. März 2020 erklärte der Generaldirektor der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, den COVID-19-Ausbruch offiziell zu einer Pandemie. Mit der weltweiten Verbreitung des Virus geht eine kollektive Fokussierung auf ein Erkrankungs- und Sterberisiko einher – unter vielen anderen, in absoluten Zahlen viel bedeutsameren Krankheitsursachen. Dieser Beitrag folgt der „Spur der Infektion“ (Sarasin 2005) in Michel Foucaults Werk und reflektiert mit Hilfe seines Konzepts der „Pastoralmacht“ die medizinischen, politischen und gesellschaftlichen Anstrengungen, mit der Ungewissheit als zentralem Problem der Pandemie umzugehen. Dazu gehören gesundheitspolitisch angeordnete Maßnahmen zur Bekämpfung und Eindämmung (Containment) des Virus sowie der weitgehende Ausschluss des Subjekts aus dem herrschenden Diskurs. Die folgenden Überlegungen greifen diesen ausgeschlossenen psycho-sozio-spirituellen Aspekt des Covid-19-Diskurses auf: Die Internalisierung kollektiver Vorgaben durch das Individuum, dessen Unsicherheit, Angst und Orientierungssuche im Kontext der kollektiven Ungewissheit steht. Wilfred Bions „Container-Contained“-Konzept eröffnet eine Perspektive darauf, wie über die Eindämmung des schwer fassbaren, feindlichen Virus hinaus die Wiedereinführung des Subjekts in den Diskurs eine spirituelle Transformation ermöglichen kann.
2 Containment
Containment steht für eine Übergangs- und Notsituation, in der eine sich ausbreitende Infektionskrankheit, gegen die noch kein Impfstoff zur Verfügung steht, „eingedämmt“ (contained) werden soll. Ziel des Containments ist es, Zeit zur Einleitung weiterer Behandlungs- und Forschungsmaßnahmen zu gewinnen und die Belastung für das Gesundheitswesen zu verringern:
As there is no vaccine nor specific treatment, the containment of the outbreak is based on a number of measures including identifying people who are sick, bringing them to care, following up on contacts, preparing hospitals and clinics to manage a surge in patients, and training health workers (Ceukelaire & Bodini 2020).
Das englische Verbum contain kann bedeuten:
den Feind innerhalb eines bestimmten Gebietes, evtl. durch Angriff oder Drohung, in Schach halten
zurückhalten, einhalten, hindern
innerhalb fest bestimmter Grenzen halten; beinhalten
enthalten, bestehen aus (Vielfaches einer Zahl oder teilbar durch eine Zahl)
die Kapazität besitzen, etwas zu halten, für etwas Raum, Potenzial zu haben (nach Lazar 2014).
In der Bewältigung der Covid-19-Pandemie geht es vorwiegend um die defensiven Bedeutungen (1) bis (3): Das feindliche Virus soll entweder außerhalb der eigenen Grenzen (die oft konkretistisch-territorial und quasi-militärisch gedacht werden) gehalten, eingedämmt, zurückgedrängt (1) und sein Eindringen soll verhindert (2) werden; oder – wenn (1) und (2) nicht mehr möglich sind: Räumlich und zeitlich soll seine Ausbreitung verhindert bzw. wenigstens verlangsamt werden (3): durch Social Distancing oder Isolation von Infizierten. „Containment-Scouts“ werden in großer Zahl zur Kontaktpersonennachverfolgung angestellt; als gesundheitspolizeiliche „Pfadfinder“ sollen sie die Infektionswege rückverfolgen helfen. Der Begriff „Quarantäne“ (von frz. quarantaine: ungefähr 40) wird sowohl zeitlich gebraucht, z. B. eine Zeitdauer von zwei Wochen als auch räumlich, z. B. Beschränkung auf die eigene Wohnung, um die Weitergabe des Virus zu verhindern. Die Bedeutung (3) kann auch für einen Behälter (container), z. B. ein mikrobiologisches Probenröhrchen verwendet werden, in dem der Rachenabstrich einer potenziell infizierten Person sicher zur Untersuchung befördert wird. Im Sinne des infektiologischen Gesamtziels ist es wünschenswert, dass dieser Container den Erreger tatsächlich enthält, um ihn nachzuweisen und um falsch-negative Befunde zu vermeiden.
Die noch vorwiegend defensive Bedeutung (3) hat also im Gesamtkontext des infektiologischen Containments den erwünschten Effekt, das Virus zu asservieren und damit sowohl dem Einzelnachweis als auch der virologischen Forschung zugänglich zu machen. Die Bedeutung (3) ist ambivalent: Der infektiöse Inhalt könnte im kriegerischen Rahmen als B-Waffe missbraucht oder aber für die Herstellung eines Impfstoffes verwendet werden, der Immunität vermittelt (möglicherweise mit Impf-Nebenwirkungen, jedoch ohne Erkrankung im klinischen Sinn).
Die Bedeutungen (4) und (5) stehen für Produktivität, Potenzialität, also im Gegensatz zu den bisherigen Deutungen für die erwünschte Vermehrung des Inhalts. Dies gilt im arithmetischen Sinn für das Enthaltensein einer kleineren Zahl in einer größeren (4) und im übertragenen Sinn für transformative Vermehrung, also z. B. für die „Herdenimmunität“ des überwiegenden Teils einer Population, die mit dem Erreger Kontakt hatte, entweder eine Erkrankung überstanden oder asymptomatisch Immunität aufgebaut hat. Möglicherweise müssen vulnerable Personen weiterhin geschützt werden (etwa durch eine Impfung), der „feindliche“ Erreger könnte dann aber „mit seinen eigenen Waffen geschlagen werden“.
Covid-19 ist eine virale Pandemie, wobei es sich biologisch und sozial um globalisierte Information handelt. Viren sind mikroskopische Ansammlungen genetischer Information, die allein nicht lebensfähig sind, sondern sich tierischer und menschlicher Vektoren bedienen, um sich zu vermehren. Insofern ist die metaphorische Begriffsbildung Software-„Viren“ gut gewählt: Auch diese Malware kann ihre Wirkung nur entfalten, wenn sie auf einem (fremden) Computer ausgeführt wird. Nach einer weitgehend „digitalen“ Verwendung des Virus-Konzepts erleben wir nun eine massive Rückkehr der wörtlichen Bedeutung von „Virus“: Die reale und die virtuelle Bedrohung gehen Hand in Hand (Žižek 2020: 8). Deshalb zurück zu biologischen Viren: Von einer Pandemie sprechen wir, wenn menschliche Vektoren durch nahe Kontakte und (Flug-)Reisen zu viralen „Spreaders“ werden, das Virus also globalisieren und (semantisch-digitaler Aspekt) die WHO (möglicherweise nach einem gewissen Zögern) die Pandemie als solche deklariert. Insofern trifft das dekonstruierende Argument ("L’invenzione di un’epidemia", Agamben 2020) zu.
Die Covid-19-Pandemie ist sowohl ein biologisches Ereignis (Viren sind natürliche Entitäten, die tierische und menschliche Körper befallen) als auch ein sozio-kulturelles (die Pandemie ruft sozio-kulturell konstruierte Reaktionen hervor) und ein digitales: Die Covid-19-Forschung (wozu auch die vorliegende Ausgabe von SPIRITUAL CARE gehört) wird ermöglicht durch digitale Technologie. Aber auch Fehlinformationen und nicht durch Forschung gestützte Theorien verbreiten sich „pandemisch“ (Peters et al. 2020). Durch die explosionsartige Zunahme virtueller Kommunikations- und Lehrformate verstärkt das erzwungene Social Distancing gleichzeitig die globale Verbundenheit, wie einer der Gutachter bemerkt: „The idea of connectedness while being isolated. We are all connected, and no longer can ideology or geographical borders contain a virus (or the idea of a virus)” (Marek Tesar: Peters et al. 2020: 19).
Im Gegensatz zur Grenzenlosigkeit und Verbundenheit erzeugt Covid-19 wie andere Seuchen auch (Bourdelais 2008) neue Grenzen bzw. reaktiviert überwunden geglaubte, etwa durch eine weitgehende Ent-Schengenung Europas. Das bio-psycho-sozio-spirituelle Modell vom Menschen ist eingeebnet auf eine epidemiologische Sicht: Alle befinden sich in einem kollektiven Ungewissheits-Experiment (vgl. Spitzer 2019) mit dem Ziel, die Infektionskurve abzuflachen (und in die Länge zu ziehen): Das Kollektiv ist darauf reduziert, Integral unter dieser Kurve zu sein, auf unbestimmte Zeit. Die Polizei widmet sich weniger der Verbrechensbekämpfung und Verkehrsregelung als der Disziplinierung der Bürger. Die Medien schränken die Informationsvielfalt zu Gunsten einer breitgestreuten Gesundheitserziehung ein.
3 „Überwachen und Strafen“ (M. Foucault): Vom Pest/Lepra- zum Pocken-Modell
Michel Foucaults Werk sollte nicht historisierend-rückwärtsgewandt, sondern mit dem Blick auf unsere Gegenwart und Zukunft gelesen werden (Rabinow & Rose 2003a). Die Spannung zwischen den Bedeutungen von Containment als totaler Seuchenabwehr einerseits und als Hirtensorge andererseits durchzieht sein Werk. Foucault (1975/2008) schildert den totalen Überwachungsstaat in Seuchen-Zeiten: Durch Parzellierung werden alle in die eigenen Wohnungen eingeschlossen. „Herausgehen wird mit dem Tode bestraft. [...] Wer sich rührt, riskiert sein Leben: Ansteckung oder Bestrafung“ (251). Krankheit erzeugt staatlich verordnete Ordnung und einen Diskurs des Ausschlusses:
Im Hintergrund der Disziplinierungsmodelle steht das Bild der Pest für alle Verwirrungen und Unordnungen, wie das Bild des Aussatzes hinter den Modellen der Ausschließung steht (Foucault 1975/2008: 255).
Seine architektonische Perfektionierung erreicht der Überwachungsstaat im Gefängnisbau vom Typ des Panoptikums: Das aus dem griechischen abgeleitete Fremdwort für „alles sehen“ bezieht sich auf den Gefängnisaufseher, der von einem zentralen Turm aus alle konzentrisch angeordneten Einzelzellen einsehen kann, selbst aber unsichtbar bleibt. Gefangene, Kranke, Kinder oder wer auch immer im Panoptikum beaufsichtigt wird, sehen nicht, ob sie gegenwärtig gesehen werden, aber sie wissen, dass sie ständig gesehen werden könnten. Über diese speziellen Institutionen hinaus ist das Panoptikum „als ein verallgemeinerungsfähiges Funktionsmodell zu verstehen, das die Beziehungen der Macht zum Alltagsleben der Menschen definiert“ (Foucault 1975/2008: 263). Dieses Modell kann in der Situation eines extern und intern wegen der Seuchengefahr abgeschotteten Gemeinwesens in idealer Weise erprobt werden, um dann auf den Normalfall der disziplinierten Gesellschaft übertragen zu werden:
Wir haben es also mit zwei entgegengesetzten Bildern von Disziplin zu tun: auf der einen Seite die Disziplin als Blockade, als geschlossene Anstalt, die innerhalb bestimmter Grenzen auf negierende Funktionen ausgerichtet ist: Bannung des Übels, Unterbrechung der Beziehungen, Aufhebung der Zeit. Auf der anderen Seite die Disziplin als panoptischer Betrieb, als Funktionszusammenhang, der die Ausübung der Macht verbessern, d. h. beschleunigen, erleichtern, effektiver machen soll: ein Entwurf subtiler Zwangsmittel für eine künftige Gesellschaft (Foucault 1975/2008: 269).
Der spätere Foucault (1977–1978/2004) spricht von „Bio-Macht“ und „Bio-Politik“, um die Bedrohung der Menschheit durch Mikroorganismen (real und metaphorisch), aber auch die Instrumentalisierung dieser Bedrohung durch die staatliche Gewalt zu kennzeichnen (Berge 2020). Foucaults frühere (1963/1973) philosophische Reflexion über die Medikalisierung der Gesellschaft entwickelt sich weiter zum Blick auf eine ökonomisierte „molekulare Biopolitik“ (Rose 2007). Die Bio-Macht umfasst zwei Pole:
Anatomo-Politik des Körpers, um diesen zu stärken und in effiziente Systeme zu integrieren;
Populations-Biopolitik, um Natalität, Morbidität, Mortalität, Vitalität zu kontrollieren (Rabinow & Rose 2003b) und von der Wiege bis zur Bahre gesundes, nicht behindertes Leben zu garantieren.
In den Jahren nach „Überwachen und Strafen“ geht Foucault (1977–1978/2004) zum Modell der Pockeninfektion über, das im Vergleich zum Pest/Lepra-Modell gelockert, aber auch effizienter ist (Roberts 2019). Das Pocken-Modell basiert darauf,
[...] dass die Macht den Traum aufgibt, die Pathogene, die Eindringlinge, die Krankheitskeime vollständig auszumerzen, die Gesellschaft »in die Tiefe« hinein zu überwachen und die Bewegungen aller Individuen zu disziplinieren. Die Macht koexistiert vielmehr mit dem pathogenen Eindringling, weiß um sein Vorkommen, sammelt Daten, erstellt Statistiken, lanciert »medizinische Feldzüge«, die durchaus den Charakter der Normierung und Disziplinierung der Individuen annehmen können – aber die Disziplin, gar die vollständige, kann in der Moderne kein vernünftiges Ziel der liberalen Macht mehr sein. Dort, wo sie dies dennoch anstrebt, wo die Macht vom Pocken-Modell zum Pest-Modell zurückkehren möchte, wird sie totalitär (Sarasin 2005: 103).
Sarasin (2020) zufolge beschreibt Foucaults Pocken-Modell die Form des Regierens europäischer Regierungen in Zeiten der Pandemie. So gehöre die Regel des Social Distancing „in den Bereich der liberalen Regierungstechniken“, welche „die liberale Kontur des Pocken-Modells mit dem konkreten Stoff gesellschaftlicher Selbstorganisation füllen“. Trotz der unbestreitbaren Liberalität des Pocken-Modells ist Foucaults Panoptismus mit derlei Lockerungen keineswegs überwunden, sondern vielmehr raffinierter und perfektionierter als je zuvor. Die GPS-Funktion von Smartphones dient schon in pandemiefreien Zeiten keineswegs nur dazu, sich selbst zu orientieren, sondern auch lokalisiert zu werden, etwa im Dienst der Verbrechensbekämpfung oder zu militärischen und geheimdienstlichen Zwecken. Das Tracking der Infektionswege per Mobiltelefon-Applikation wird als probates Mittel der Seuchenbekämpfung angeboten und auf der Basis der Freiwilligkeit implementiert: Das durch Drohnen, GPS, Google überwachte Wohlfühl-Gefängnis der häuslichen „telerrepública“ (Preciado 2020) ist geboren. Freiwilligkeit als Wahlmöglichkeit ist nur möglich auf der Basis einer schier grenzenlosen Potenzialität des Daten-Containings als eines zeitgemäßen Panoptikums: Wir wissen nicht, ob und von wem diese unsere Daten gerade abgezapft werden, aber wir wissen, dass dies jederzeit möglich ist. Die neue Form der Panoptizität ist „Nexistenz in der Matrix“. Durch die bereits vielfach genutzte Möglichkeit, Big Data abzuschöpfen, entsteht „ein diffuses Gefühl des Beobachtetwerdens“, das mit „Beruhigungsmantren“ verleugnet werden muss, z. B.: „Wer interessiert sich schon für meinen Blutdruck? Soll der Geheimdienst doch alle meine Telefonate speichern, es gibt sowieso nichts Wichtiges zu hören“ (Lindemann 2015/2019).
Foucault erlebt die medialen Umbrüche der Informationsgesellschaft, insbesondere die ständige Zuhandenheit des persönlichen „Handys“ und damit die Panoptizität per Smartphone, nicht mehr. Zu seinen Lebenszeiten sind Mobiltelefone noch voluminöse Apparate mit langen Antennen, mit deren Hilfe man „nur“ telefonieren kann. In den letzten Lebensjahren vor seinem Tod an einer HI-Virusinfektion (1984) wendet sich Foucault einer „Ethik des Selbst“, der Selbstsorge, der Spiritualität zu. Er sucht, ausgehend von antiken Spiritualitäten, nach Selbstverhältnissen, die er als eine Form des Widerstandes gegen die Macht konzipiert:
Sehr zugespitzt ließe sich behaupten, dass dort, wo der Fremdkörper aus dem Blickfeld rückte und sich auflöste, Foucault jenes autonome Subjekt zu denken versuchen konnte, das sich nicht zwischen den Fährnissen der mikrobiologischen Welt und den Reaktionsweisen der Macht eingeklemmt und definiert sieht, sondern von solchen Bedrohungen unabhängig ist und alle äußeren Gefahren als »Prüfung« auffassen kann, die es zu bestehen vermag (Sarasin 2005: 106).
Das für Spiritual Care wichtige Begriffsfeld Spiritualität/Sorge (souci) taucht erst in Foucaults späten philosophischen Vorlesungen und Publikationen auf (Rabinow 2009):
Philosophie: «Denkform, die sich danach befragt, was es dem Subjekt erlaubt, einen Zugang zur Wahrheit zu haben, [...] die versucht, die Bedingungen und Grenzen des Wahrheitszuganges des Subjekts zu bestimmen».
Spiritualität : «die Suche, Praxis, Erfahrung, durch die das Subjekt bei sich selbst die nötigen Transformationen vornimmt, um Zugang zur Wahrheit zu erlangen» (Foucault 2001: 17).
Foucault konkretisiert an dieser Stelle die Spiritualität durch Praxen der Reinigung, Askese, Verzicht, Umwenden des Blickes, existenzielle Veränderungen, die das Subjekt wesentlich betreffen und nicht nur seine Erkenntniswege. Er nennt drei Charakteristika der (westlichen) Spiritualität:
Die Wahrheit wird nicht durch eine eigenständige Erkenntnisanstrengung des Subjekts erlangt, sie muss dadurch «bezahlt» werden, dass das Subjekt sich bekehrt (conversion) und wandelt (transformation).
Eros und Askese: Das Subjekt wird aus seiner aktuellen Verfasstheit herausgerissen und emporgehoben (Eros: Liebe). Die Wandlung geschieht ferner durch Arbeit an sich selbst (Askese).
Durch den Zugang zur Wahrheit wird das Subjekt selbst verwandelt („effets «de retour» de la vérité sur le sujet“).
In seiner philosophischen Rezeption der Spiritualität und der spirituellen „Exerzitien“ folgt Foucault Pierre Hadot (2008). Er greift damit die verschüttete spirituelle Tradition der praktischen Philosophie auf (Schuchter 2020). Den Ursprung der Spiritualität sieht Foucault in der Rede aus Freimut (parrhesia) und in der philosophisch begründeten Selbstsorge (epiméleia heautû). Die Selbstsorge ist die Voraussetzung dafür, sich um andere kümmern zu können, etwa in der politischen Verantwortung, über die Sokrates mit dem jungen Alkibiades spricht. Die Selbstsorge und damit die Spiritualität sieht Foucault als ein vernachlässigtes Motiv der europäischen Philosophiegeschichte, insbesondere bei den christlichen Autoren. Mit „Pastoralmacht“ charakterisiert Foucault die Beziehung zwischen Hirt (lat. pastor) und Herde im jüdisch-christlichen Kulturraum (Foucault 1977–1978/2004: 128–134, 1979/2005: 190–194). Er arbeitet disziplinierende und kontrollierende Aspekte der christlichen Seelsorge und Seelenführung heraus und überträgt sie auf andere, säkularisierte Bereiche. In seinen gesellschaftstheoretischen Texten behält er das Konzept der „Pastoralmacht“ als Metapher für die staatliche Macht bei. In abgeleiteter Weise kann dieses Konzept auf disziplinierende Tendenzen einer paternalistischen Medizin angewendet werden (Lemke 2014). Durch seine detailreichen Studien und durch die Wendung zum Subjekt im Spätwerk ergänzt Foucault seinen christentumskritischen Ansatz durch ein wachsendes Interesse für die christlichen Wurzeln der Spiritualität (Voigt 2007).
4. Diskussion
Die gesellschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie haben eine heftige Debatte unter Philosophen ausgelöst – von Agamben (2020) bis Žižek (2020). Die meisten Diskussionsbeiträge knüpfen an Foucaults Phänomenologie der medikalisierten Überwachung, insbesondere am Panoptismus an.
Foucaults Begriff der „Pastoralmacht“ scheint gut geeignet, sowohl die staatliche als auch die medizinische paternalistische Fürsorge in Covid-19-Zeiten, gekoppelt mit „milder“ Kontrolle, zu charakterisieren (Hannah 2020), wie sie im Pocken-Modell (liberale Überwachung ohne Anspruch auf vollständige Ausrottung des Virus, Epidemiologie und Statistik, Erzeugung von Immunität durch Impfung, Foucault 1977-1978/2004: 12) realisiert ist (Sarasin 2020). Gerade die Impfung zeigt: Im Pocken-Modell gilt das Containment nicht mehr als absoluter Ausschluss. Vielmehr wird der Erreger in kleiner Menge (oder „getötet“) zugelassen, weil die „Hirten“ eine „Herden“-Immunität erzeugen wollen. Dies gilt schon durch eine gewisse, kontrollierte Mobilität, bevor der Impfstoff zur Verfügung steht. Zwar gibt es Quarantäne- und Isolationsmaßnahmen für (sicher oder möglicherweise) Infizierte. Was die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung angeht, so existiert der „Feind“ jedoch in Personalunion mit dem „Wirt“, und dies wegen asymptomatischer oder während der Inkubationszeit inapparenter Infektionen in unsicherer Weise. So bleibt für die Bevölkerungsmehrheit nur der Kompromiss zwischen eingeschränkter Beweglichkeit und Social Distancing (Hannah 2020). Bezeichnend dafür sind Gesichtsmasken, die den Kondomen in öffentlichen Gesundheitskampagnen längst den Rang abgelaufen haben: Wie beim „safer sex“ bleibt ungewiss: Schütze ich dich oder mich oder uns beide?
Die Kontroll-Gesellschaft vom Pocken-Typ wird durch das für das Pest/Lepra-Modell passende Bild vom „gläsernen Menschen“ nur annäherungsweise beschrieben. Es geht nicht mehr um totalitäre Überwachung, sondern um internalisierte und automatisierte Selbstkontroll-Techniken von biological citizens, die sich selbst als Humankapital begreifen (Krasmann 2003; Uhl 2017).
Agamben polemisiert schon seit einigen Jahren gegen die Tendenz vorgeblich liberaler Gesellschaften, Ausnahmezustände wie terroristische Anschläge oder Epidemien als Anlass für die Einschränkung bürgerlicher Freiheiten zu nutzen. Er hat seine Kritik an den nach seiner Auffassung unverhältnismäßigen staatlichen Reglementierungs-Maßnahmen zwar in weiteren Diskussionsbeiträgen nuanciert, brandmarkt jedoch weiterhin den staatlich und medial „erfundenen“ Ausnahmezustand als nunmehr gültiges Gesellschaftmodell, das mit der Reduktion des Menschen auf sein nacktes („biologisches“) Leben einhergeht. Er muss sich jedoch den Vorwurf gefallen lassen, sich zum Sprachrohr ultralinker Kreise zu machen, die staatlichen Machtmissbrauch mehr fürchten als die tödlichen Folgen der Pandemie: „What I fear today more than the measures applied by China (and Italy and...) is that they apply these measures in a way that will not work to contain the epidemic, while authorities will manipulate and conceal the true data“ (Žižek 2020: 4). Linke und rechte Pandemie-Leugner, so Žižek, flüchten sich in sozial-konstruktivistische Ideen und in privilegierte Sonderwelten.
Auf den ersten Blick können sich Agamben und andere Kritiker des mediko-politischen Pandemie-Managements auf Foucaults Konzept des Widerstands (résistance) gegen die Macht berufen. Freilich kontextualisiert Foucault dieses Konzept durch seine Reflexion über die governementalité in liberalen Gesellschaften (Lemke 2014), die zwar das Ziel effizienter Virus-Eindämmung mit autoritären Gesellschaften gemeinsam haben, jedoch stets die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger („exit-Strategie“, Transparenz und Begründung von Maßnahmen) beachten müssen. Mit anderen Worten: aus dem liberalen Konzept der governementalité lassen sich Kriterien für den Umgang offener Gesellschaften mit der Pandemie folgern (Hannah 2020). Die Übernahme von Überwachungs- und Abriegelungsmaßnahmen autoritärer Staaten durch freiheitliche Demokratien ist ebenso fragwürdig wie die Zusammenpferchung der „Herde“ von Flüchtlingen nach dem Lepra-Modell. Je mehr Politik zur (Gesundheits-)Polizei degeneriert (Rose et al. 2006), desto stärker wird der Widerstand als Gegengewicht. Eine Gestalt des Widerstands ist nach Foucault Spiritualität: Selbstsorge, Wahrheitssuche und freimütige Rede (parrhesia).
Esposito (2020) greift Foucaults Überlegungen zu Biomacht und Biopolitik auf und konstatiert angesichts der Covid-19-Bedrohungslage: Einerseits sei die Politik dadurch medikalisiert worden, dass sie sich immer mehr für die “Heilung” der Bürger verantwortlich fühlt, andererseits werde die Medizin dadurch politisiert, dass sie Aufgaben der sozialen Kontrolle übernimmt, für die sie nicht zuständig ist. Es liegt nahe, Konzepte wie Biopolitik und Pastoralmacht für das Verstehen der Pandemie-Situation heranzuziehen. Wird die Rezeption einzelner Begriffe der dynamischen Entwicklung von Foucaults Oeuvre gerecht – das Biopolitik-Konzept verabschiedete er selbst Ende der 1970er Jahre (Sarasin 2020)? Immerhin: Die „Spur der Infektion“ durchzieht sein gesamtes Werk (Sarasin 2005) und dürfte derartige argumentative Anleihen bei Foucault hinreichend rechtfertigen.
Die Beziehung Container-Contained: Spiritualität als Widerstand
Die Spannung zwischen dem vormodernen, totalitären Pest-/Lepra-Modell und dem liberalen Pocken-Modell spiegelt sich in der von Bion aufgegriffenen Doppeldeutigkeit des Wortfeldes „to contain“ zwischen Eindämmen/Abwehr und Enthalten/Verarbeiten. Angewandt auf die Covid-19-Krise: Ältere und vulnerable Menschen müssen zu ihrem eigenen Schutz abgeschirmt werden und brauchen doch Kontakt; das Virus muss eingedämmt werden, und doch ist Kontakt mit ihm zum Aufbau von „Herden-Immunität“ wichtig; die Entscheidungsträger in Politik und Medizin üben ihre „Pastoralmacht“ im Interesse der „Herde“ aus, und doch müssen kritische Subjektivität und die psycho-sozio-spirituelle Dimension wieder in den somatisierten Diskurs eingeführt werden.
Der Psychoanalytiker Wilfred Bion (1970/1975) verwendet häufig das Begriffspaar „container – contained“, um die helfende Beziehung zwischen zwei Menschen (Lazar 1993) zu betonen. Er spricht von Containing zunächst in der kriegerischen Bedeutung (1), und zwar durchaus als Ressource für den betroffenen Patienten. Das gegenseitige Enthaltensein (etwa erotisch und psychisch in der Ehe, z. B. bei C.G. Jung) findet Bion als archetypisches Motiv in den Weltreligionen, besonders jedoch in der Phänomenologie mystischer Erfahrung (Lazar 2014).
Bion nahm in seinem Modell der frühen Mutter-Kind-Beziehung an,
[...] dass der Säugling ängstigende oder überwältigende psychosomatische und affektive Zustände in die Psyche der Mutter als Behälter (Container) projiziert, oder dieser auf diese Weise mitteilt, und dass die Mutter (unbewusst) bereit ist, diese aufzunehmen, zu verarbeiten und dadurch zu transformieren, indem sie ihnen psychische Bedeutung und Sinn verleiht (Bovensiepen 2008: 99).
Im Einzelnen können wir mit Bovensiepen die folgenden vier mütterlichen Reaktionen auf ihren Säugling unterscheiden – nach Bion Modell für die hilfreiche (therapeutische) Beziehung:
Wahrnehmung der Äußerungen des Säuglings
emotionale Resonanz auf diese Wahrnehmung
Aufnahme in die Psyche und das „Denken“ darüber
Reaktion oder Intervention der Mutter.
Das mütterlich-therapeutische Denken dient Bion zufolge dazu, zerstörerische, giftige, traumatische, sinnlose „Beta-Elemente“ in „Alpha-Elemente“ zu verwandeln, die einen Namen haben, Sinn und Bedeutung. Beta-Elemente sind namenloses, oft plötzlich hereinbrechendes Leid. Durch den Prozess des Leidens und Mit-Leidens entsteht schöpferisch etwas Neues.
Angewandt auf die Covid-19-Pandemie können wir sagen: Eine Virus-Infektion ist ein Beta-Element, genetische Information mit ihren Auswirkungen auf die Zellen des Wirtes, der dadurch im Erkrankungsfall zum „Patienten“ wird. Containment heißt für den kranken Menschen zunächst: defensiv Symptome eindämmen und bekämpfen, durch mehr oder minder intensive medizinische Behandlung die Gesundheit wiederherstellen.
Die Gesunden, möglicherweise das medizinische und pflegerische Personal werden für den kranken Menschen zum „Container“, ebenso wie die Räume und die therapeutische Umgebung, in denen er „gut aufgehoben“ ist. Die Beziehung Container-Contained ist dabei reicher als nur die (somatische) Symptom-Bekämpfung. Wir sagen, dass die helfende Beziehung psychische, soziale und spirituelle Aspekte hat und meinen damit: Der kranke und der gesunde Mensch, Contained und Container, sind als Subjekte am Heilungsprozess beteiligt: Doppelte, sowohl Arzt/Pflegekraft/sonstige Therapeuten als auch Patient(in) betreffende „Einführung des Subjektes“ (Weizsäcker 1933/1997: 96).
Die Wieder-Einführung des Subjekts in den therapeutischen Diskurs erfordert eine kritische Reflexion über das Phänomen des „biological citizenship“, das den Menschen zu einem „neurochemischen Selbst“ macht, das sich durch Ausbildung von Selbst-Techniken dem normativen Diskurs unterwirft (Rose 2007: 13) So wird allein im Freien ausgeübter Sport empfohlen, etwa Joggen mit angesagter rhythmisierender Musik. Mobiltelefon, GPS-Sportuhr oder andere mit dem Internet verbundene Geräte dienen nicht nur als Fitness-Tracker, sondern ermöglichen auch die freiwillige „Datenspende“ an die Gesundheitsbehörde. Auf diese Weise verbindet die trainierende Person eine Selbsttechnik mit der Anpassung an die überwachte kollektive Norm.
Mit dem Psychoanalytiker Donald W. Winnicott gesprochen, entsteht durch Anpassung ein „falsches Selbst“: Äußere Kontrolle wird antizipiert. Bevor sie gesundheitspolizeilich ausgeübt wird, ist sie schon „Teil des Selbst, zur Fähigkeit der Selbstbeherrschung und der selbstständigen Lebensführung“ (Krasmann 2003: 336) geworden.
Obwohl die Repräsentanten staatlicher und medizinischer Pastoralmacht den Menschen gern für Geduld und Diszipliniertheit danken, bleibt die Trauer über das Ausgeschlossene und die Sehnsucht nach autonomer Subjektivität. Nicht nur Patienten, Angehörige und das therapeutische Personal leiden darunter, dass das Subjekt in Pandemie-Zeiten aus dem therapeutischen Diskurs ausgeschlossen wird. Die psychosozialen und spirituellen Aspekte werden besonders von den Seelsorgenden schmerzlich vermisst, sind sie doch Anwälte und Repräsentanten der spirituellen Dimension mitten in der vordergründig „nur“ materialistisch-objektiven Welt der Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen. Ihr Zugang zu den Kranken ist nun reglementiert oder sie werden völlig ausgeschlossen, bleiben „außen vor“.
Dieser verschlossene, vermisste Zugang ist, mit Foucault gesprochen, auch der „Zugang zur Wahrheit“, das Feld der Sorge und der Spiritualität. Es geht um die Container-Contained-Beziehung, innerhalb derer erzählt, getrauert und geklagt werden kann. Dort werden „Tränen in einen Krug gesammelt“ (Ps 56,9), Beta- in Alpha-Elemente verwandelt, Leid in erlebte und geteilte Geschichte.
„Kritische Spiritualität“ (Westerink 2019 a, 2019b) als Widerstand im Sinne Foucaults (Rabinow 2009) führt weder in die pauschale Ablehnung medizinischer Pastoralmacht noch in die Perfektionierung von asketischer Selbst-Beherrschung und Selbst-Stilisierung. Sie ist vielmehr eine mystische (Gegen-)bewegung: weder feindselig gegen äußere Autoritäten oder das eigene Über-Ich gewandt noch auf der Flucht in eine imaginäre Sonderwelt. Kritische Spiritualität ist hoffnungsvoll. Sie hilft, individuell und kollektiv eine „Exit-Strategie“ zu entwickeln und doch ganz in der Gegenwart zu leben. Im Modus des Futur II hat sie nicht nur ökonomische, berufliche und Freizeitperspektiven (Rąb & Kettler 2020) im Blick, sondern die eigene Existenz als für die Transzendenz offenes Subjekt: Ich werde mein Leben in der Covid-19-Zeit gestaltet haben.
5. Fazit: Kritische Spiritualität in Corona-Zeiten
Angesichts der Covid-19-Pandemie haben Politik und Medizin eine sorgende „Pastoralmacht“ entfaltet, die sich durch Eindämmung der Seuche (containment) und soziale Kontrolle um die „Herde“ von Gefährdeten, Infizierten, Kranken und Toten kümmert. Der kollektive Umgangsstil mit der viralen Bedrohung geht mit einer Reduktion des Menschen auf seine Existenz als potenzieller Virus-Vektor einher; psychosoziale und spirituelle Ressourcen und Belastungen aller Beteiligten werden weitgehend ausgeschlossen. Dies betrifft stellvertretend die Seelsorgenden, die im Gesundheitswesen Spiritual Care repräsentieren (Roser et al. 2020): Als nur unter strengen Kautelen Zugelassene oder gänzlich Ausgeschlossene repräsentieren sie nun auch die oft schmerzlich vermisste spirituelle Dimension von Pflege und Medizin sowie des Gesundheitswesens insgesamt.
Die Macht der „Hirten“ verleiht der Sorge Nachdruck und Autorität – äußerlich und durch die bewusste oder unbewusste Internalisierung der Sorge durch die „Herde“. Allerdings hat Macht auch eine dunkle, verführerische Seite, gerade dann, wenn ihre Ausübung sachlich begründet, ja: lebensnotwendig ist (Guggenbühl-Craig 1971; Freund 2019). Mit Foucault (1975/1994) gesprochen: Die Hirten „träumen“ von der Seuche als der idealen Voraussetzung einer reglementierten und disziplinierten Gesellschaft. Machtmechanismen erzeugen sowohl Unterwerfung (besonders dann, wenn staatliche oder medizinische Machtausübung offensichtlich der Gefahrenabwehr dient: „Gesundheit geht vor!“) als auch Widerstand. Spiritual Care als Widerstand bedeutet weder Bekämpfen einer (z. B. politischen, religiösen, medizinischen, wissenschaftlichen) Autorität noch ein Rivalisieren mit dieser Macht. Spiritual Care als Selbstsorge und Sorge für den anderen Menschen heißt vielmehr, der leisen Stimme des ausgeschlossenen Subjekts Gehör zu verschaffen: Sobald dies möglich ist, solange dies möglich ist, wo immer dies möglich ist.
Über den Autor / die Autorin
Prof. Dr. med., Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker und Psychiater, katholischer Priester, erster Vorsitzender der IGGS.
Danksagungen
Meinen Patienten.
Author contributions
The author has accepted responsibility for the entire content of this manuscript and approved its submission.
Research funding
None declared.
Competing interests
Author states no conflict of interest.
Informed consent
not applicable.
Ethical approval
not applicable.
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