Rezensierte Publikation:
Dieter Haselbach (Hrsg.), Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe. Band 21: Einführung in die Soziologie, Schriften, Rezensionen 1931. Berlin / Boston: Walter de Gruyter 2021, 750 S., gb., 259,00 €
1 Zum gegenwärtigen Stand der Tönnies-Gesamtausgabe
Als der Autor dieser Zeilen vor über zwanzig Jahren in der SoziologischenRevue einen Besprechungsessay anlässlich des Erscheinens der ersten drei Bände der Tönnies-Gesamtausgabe veröffentlichte, gab es damals noch drei in Arbeit befindliche Gesamtausgaben, die den Werken großer deutscher Soziologen gewidmet gewesen sind, nämlich den Werken von Georg Simmel, Ferdinand Tönnies und Max Weber. Während die Georg-Simmel-Gesamtausgabe und die Max-Weber-Gesamtausgabe inzwischen erfolgreich abgeschlossen werden konnten, ist die Fertigstellung der Ferdinand-Tönnies-Gesamtausgabe derzeit jedoch überhaupt noch nicht abzusehen. Insofern handelt es sich bei ihr um das eigentliche ‚Sorgenkind‘ dieser drei editorischen Großprojekte. Es sind übrigens immer noch dieselben Gründe wie vor zwanzig Jahren, die den Herausgebern der Tönnies-Gesamtausgabe das Leben schwermachen (vgl. Lichtblau, 2001). Zum einen ist auffallend, dass deren Schriftleitung weder in einer Universität noch in einer Wissenschaftsakademie institutionell verankert ist, sondern ihren ‚hauptamtlichen‘ Sitz in einem eingetragenen Verein hat, nämlich in der 1956 gegründeten Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft in Kiel, die offiziell als ‚Auftraggeber‘ dieser Gesamtausgabe fungiert. Diese Gesellschaft, deren gegenwärtiger Präsident der in Berlin lebende Soziologe Dieter Haselbach ist, betreibt zum einen ein Studentenwohnheim im Kieler Stadtteil Schreventeich, nämlich das dortige Ferdinand-Tönnies-Haus. Laut Satzung unterstützt sie ferner studierende und arbeitende Jugendliche, betreibt politische Bildung und fühlt sich seit vielen Jahren auch der Tönnies-Forschung und der Edition seiner Schriften verpflichtet.[1]
Ein solches Spektrum an Zuständigkeiten ist zumindest in Deutschland für einen eingetragenen Verein ungewöhnlich und erklärt sich durch den Umstand, dass der langjährige Präsident der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft zugleich geschäftsführender Herausgeber der Tönnies-Gesamtausgabe war, nämlich der 2010 verstorbene Kieler Professor für Soziologie und Katastrophenforschung Lars Clausen, der im Jahr 2000 emeritiert worden ist. Insofern hätte es nahegelegen, die Edition dieser Gesamtausgabe zur Amtszeit von Lars Clausen, der immerhin seit 1970 ordentlicher Professor am Kieler Institut für Soziologie gewesen ist, an der dortigen Universität institutionell zu verankern. Da zum Zeitpunkt der Aufnahme der Arbeit an der Tönnies-Gesamtausgabe überhaupt noch nicht abzusehen gewesen ist, wie die Zukunft der Soziologie an der Universität Kiel nach dem Ausscheiden aus seinem Amt aussehen würde, hatte es Clausen jedoch vorgezogen, die entsprechenden Editionstätigkeiten schwerpunktmäßig im Umfeld der von ihm viele Jahre lang als Präsident geleiteten Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft anzusiedeln.
Doch mit diesem institutionellen Arrangement ist ein Problem verbunden, das bis heute die Arbeit an der Tönnies-Gesamtausgabe erschwert und das Erscheinen der einzelnen Bände dieser Gesamtausgabe immer wieder verzögert, nämlich deren mangelhafte finanzielle Absicherung. Waren es ursprünglich das Bundesland Schleswig-Holstein sowie die Stiftung200 Jahre Sparkasse Kiel, welche die Edition der ersten Bände dieser Gesamtausgabe finanziell gefördert haben, ist es seit Ende 2011 die Hamburger Stiftung für Wissenschaft undKultur, die bisher maßgeblich die Weiterarbeit an dieser Gesamtausgabe ermöglicht hat. Es ist allerdings abzusehen, dass auch diese Stiftung nicht ewig diese Edition unterstützen wird, sodass sich dann erneut die Frage stellt, wer für deren Finanzierung in Zukunft eigentlich zuständig sein soll. Es sei in diesem Zusammenhang noch erwähnt, dass das vom Hamburger Institut für Sozialforschung betriebene Internetportal Soziopolis vor nicht allzu langer Zeit einen Themenschwerpunkt veröffentlicht hat, der dem Leben und Werk von Ferdinand Tönnies gewidmet ist und dem entnommen werden kann, dass auch heute noch das Interesse an Tönnies aus den unterschiedlichsten Gründen nach wie vor ungebrochen ist.[2]
Auch ein anderer Umstand ist für das weitere Gedeihen der Tönnies-Gesamtausgabe etwas betrüblich. Es gibt nämlich seit einiger Zeit ein weit fortgeschrittenes Editionsunternehmen, das ganz offensichtlich mit der Tönnies-Gesamtausgabe konkurriert. Es handelt sich dabei um die seit 2008 in der Schriftenreihe “Materialien der Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle“ erscheinenden Tönnies-Bände, von denen es inzwischen sehr viele gibt. Wie konnte es zu dem institutionellen ‚Schisma’ zwischen diesen beiden editorischen Großprojekten, die dem Werk von Ferdinand Tönnies gewidmet sind, überhaupt kommen? Und worin besteht eigentlich der zentrale Unterschied zwischen diesen beiden Unternehmen?[3]
Als 1988 zum ersten Mal eine Gesamtausgabe von Tönnies‘ Werk ins Auge gefasst worden ist, gab es zwei verschiedene Orte, die für eine institutionelle Verankerung der damit verbundenen editorischen Tätigkeiten in Frage gekommen sind, nämlich die Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft in Kiel sowie die damals noch an der Universität Hamburg befindliche und von dem Hamburger Soziologen Alexander Deichsel geleitete Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle, die später der Universität Klagenfurt angegliedert worden ist. Hauptamtlicher Mitarbeiter dieser Arbeitsstelle war Rolf Fechner, der unter anderem durch seine bibliographischen Forschungen unverzichtbare Voraussetzungen für die Inangriffnahme der Tönnies-Gesamtausgabe geschaffen hat (vgl. Fechner, 1985; 1986; 1994). Bereits auf dem Kieler Tönnies-Symposium von 1987, das dem hundertjährigen Bestehen von Tönnies‘ Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft gewidmet war, hatte sich jedoch abgezeichnet, dass der diesbezügliche Wettkampf zwischen Hamburg und Kiel inzwischen zugunsten der Kieler Tönnies-Forscher ausgegangen ist.[4] Später wurde die von Alexander Deichsel geleitete Hamburger Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle zusammen mit deren langjährigem Mitarbeiter Rolf Fechner nach Klagenfurt verlagert und sie wird heute von Arno Bammé geleitet. Die von dieser Arbeitsstelle seit 2008 herausgegebene Edition von Tönnies‘ Schriften versteht sich als eine reine ‚Werkausgabe‘. Im Unterschied dazu liegt der Tönnies-Gesamtausgabe zwar kein ‚historisch-kritischer‘, aber immerhin ein ‚kritischer‘ Anspruch zugrunde. Überdies orientiert sie sich am ‚Chronologie-Prinzip‘, während die Klagenfurter Edition dem sogenannten ‚Pertinenz-Prinzip‘ folgt. Im ersten Fall werden die Schriften von Tönnies gemäß dem Prinzip der ‚letzten Hand‘ abgedruckt, wobei die letzte veröffentlichte Fassung eines Textes maßgeblich ist und die feststellbaren Unterschiede zu vorherigen Fassungen als Varianten dokumentiert werden. Im zweiten Fall werden die einzelnen Bände dagegen nach thematischen Schwerpunkten gegliedert. Ferner liegt der Klagenfurter Werkausgabe von Tönnies‘ Schriften kein Vollständigkeitsanspruch zugrunde. Überdies verzichtet sie bei der Herausgabe der einzelnen Bände auf eine anspruchsvolle philologische Bearbeitung und Kommentierung der einzelnen Texte gemäß der ‚textkritischen Methode‘ (vgl. Bammé 2014). Dagegen werden in den Bänden der Tönnies-Gesamtausgabe akribische Bemühungen unternommen, offensichtliche Schreibfehler und Druckfehler, die in der Originalfassung der einzelnen Texte festzustellen sind, entweder stillschweigend zu korrigieren und weitergehende Veränderungen abhängig vom Grad des Eingriffes der einzelnen Bandherausgeber in den Textbestand auch entsprechend ‚kritisch‘ zu dokumentieren. Ferner werden im editorischen Bericht jedes Bandes dieser Gesamtausgabe die werkgeschichtlichen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Texten sowie deren Entstehungskontexte erläutert. Ein ausführliches bibliographisches Verzeichnis der von Tönnies und den jeweiligen Bandherausgebern zitierte Sekundärliteratur sowie ein entsprechendes Personen- und Sachregister sind ebenfalls integraler Bestandteil jedes Bandes dieser Gesamtausgabe.[5]
Für diese seit 1998 im Verlag Walter de Gruyter erscheinende Tönnies-Gesamtausgabe waren von Anfang an 24 Bände geplant, von denen inzwischen neun Bände erschienen sind. Berücksichtigt man den Umstand, dass zwei Bände dieser Gesamtausgabe in zwei Teilbänden untergliedert wurden, haben wir es sogar mit elf veröffentlichten Bänden der Tönnies-Gesamtausgabe zu tun. Dagegen ist bei der in Klagenfurt erstellten Werkausgabe derzeit überhaupt noch nicht abzusehen, wieviel Bände für sie inzwischen eigentlich vorgesehen sind. Ferner ist es für einen außenstehenden Betrachter schwer abzuschätzen, welche Themenblöcke in den zukünftigen Bänden eigentlich noch dokumentiert werden sollen, zumal diese Werkausgabe keinen Vollständigkeitsanspruch stellt, aber immer umfangreicher wird.[6] Bis Ende 2021 sind in dieser bereits 30 Bände erschienen, was eine stattliche Zahl darstellt, wenn man bedenkt, dass der erste Band dieser Tönnies-Werkausgabe 2008 als Band 13 der in Hamburg gegründeten Schriftenreihe „Materialien der Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle“ erschienen ist. In den ersten zwölf Bänden dieser Schriftenreihe sind allerdings nicht Schriften von Tönnies, sondern tatsächliche ‚Materialien‘ der Tönnies-Forschung wie zum Beispiel Monographien verschiedener Autoren, Tagungsbände und Ergebnisse von bibliographischen Recherchen, Werkverzeichnisse etc. veröffentlicht worden. Insofern hätte es nahegelegen, diese Tönnies-Werkausgabe nicht in dieser Schriftenreihe, sondern in einer völlig neuen Reihe zu veröffentlichen. Ferner waren Mitarbeiter dieser Arbeitsstelle aktiv an der Vorbereitung der Tönnies-Gesamtausgabe beteiligt und haben in dieser ja selbst einige Bände herausgegeben oder mitherausgegeben. Selbst der Klagenfurter Soziologe Arno Bammé ist an der Herausgabe eines dieser Bände beteiligt gewesen. Zumindest in der Hamburger Zeit dieser Arbeitsstelle war ursprünglich also gar nicht geplant gewesen, in dieser Reihe eine umfangreiche Tönnies-Werkausgabe zu veröffentlichen, die seit der Verlagerung dieser Arbeitsstelle nach Klagenfurt nun in Konkurrenz zur Kieler Tönnies-Gesamtausgabe steht.[7] Aufgrund dieser betrüblichen Situation hat die Tönnies-Gesamtausgabe vermutlich nur dann eine Überlebenschance, wenn deren Finanzierung weiterhin sichergestellt ist und sich in Zukunft der zeitliche Abstand zwischen dem Erscheinen der einzelnen Bände dieser Gesamtausgabe deutlich verkürzt.[8]
2 Die Edition der 1931 erschienenen Schriften von Ferdinand Tönnies in der Gesamtausgabe
E wurde in diesem Besprechungsessay bereits darauf hingewiesen, dass gemäß den Editionsprinzipien der Gesamtausgabe alle von Tönnies veröffentlichten Schriften in chronologischer Reihenfolge vollständig zum Abdruck gebracht werden sollen. Dies hat zur Folge, dass der Umfang der geplanten und bereits erschienenen Bände sehr unterschiedlich ist. Bei manchen Bänden umfasst er mehrere Jahre, bei anderen wiederum nur das Schrifttum eines Jahres, wie dies bei dem hier zu besprechenden Band 21 der Tönnies-Gesamtausgabe der Fall ist, in dem nur Schriften von Tönnies veröffentlicht worden sind, deren letzte Fassung 1931 erschienen ist. Tönnies vollendete in diesem Jahr sein 76. Lebensalter und galt spätestens zu diesem Zeitpunkt unbestritten als ‚Altmeister‘ der deutschen Soziologie (645). Überdies gehörte er seit deren Gründung dem Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie an und war von 1909 bis 1933 darüber hinaus ihr amtierender Präsident. Seine weit über Deutschland reichende wissenschaftliche Anerkennung kommt in folgendem Eintrag des Reichshandbuchs der deutschen Gesellschaft von 1931 zum Ausdruck, den Dieter Haselbach in seinem Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen Band 21 der Tönnies-Gesamtausgabe wörtlich zitiert. In diesem Eintrag werden folgende Ämter und Funktionen aufgeführt, die Tönnies in diesem zumindest für damalige Verhältnisse hohen Alter immer noch wahrgenommen hat: „Geheimer Regierungsrat; ord. Prof. an der Universität Kiel; Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie; seit 1894 Membre, seit 1899 Vizepräsident des Institut international de sociologie; Korrespondierendes Mitglied der englischen, ebenso japanischen Gesellschaft für Soziologie, Ehrenmitglied der Wiener soziologischen Gesellschaft und des Rumänischen Sozialinstituts, der Genfer Société de sociologie und der American Sociological Society; Mitglied des Ausschusses des Vereins für Sozialpolitik und des Ausschusses der Gesellschaft für soziale Reform; Sodalis extraordinarius der Societas Spinozana 1927; Präsident der Societas Hobbesiana 1929“ (XIV).
Doch welche Bedeutung kommt dem Jahr 1931 eigentlich in werkgeschichtlicher Hinsicht zu? Über diese gibt der editorische Bericht von Dieter Haselbach eine informative und sachgerechte Auskunft, in dem er die Hintergründe darstellt, die zur Entstehung und Veröffentlichung der entsprechenden Schriften von Tönnies geführt haben, wobei zum Teil auch auf deren Rezeptionsgeschichte eingegangen wird (597–648). Wie alle bisherigen Bände der Tönnies-Gesamtausgabe enthält auch dieser Band zwei verschiedene Inhaltsverzeichnisse, die einem den Überblick über diese stattliche Schriftensammlung wesentlich erleichtern. Das eine bezieht sich auf die unterschiedlichen ‚Abteilungen‘, die in diesem Fall eine Monographie, verschiedene Aufsätze und Wörterbuchartikel, Buchbesprechungen sowie Stellungnahmen zu zeitgeschichtlichen Situationen und Ereignissen umfassen, während das andere Inhaltsverzeichnis die in diesem Band veröffentlichten Schriften gemäß Sachgebieten untergliedert. Zu diesen Sachgebieten gehören im vorliegenden Band unter anderem die „reine Soziologie“, die „Soziographie“ und die Statistik, die „Soziologie der Öffentlichen Meinung“, die Kultursoziologie sowie das Genossenschaftswesen (VII–VIII).
Vom Umfang her gesehen nimmt die monographische Einführung in die Soziologie von 1931 ungefähr die Hälfte der in diesem Band zum Abdruck gebrachten Schriften in Anspruch. Es handelt sich bei dieser Einführung um einen Beitrag zur „reinen“ beziehungsweise „theoretischen Soziologie“, worauf Tönnies unmissverständlich hinweist (7–10). Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass dieses Buch der letzte monographische Beitrag von Tönnies zu den großen Theoriedebatten darstellt, die im deutschen Sprachraum im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts geführt worden sind, kommt ihm naturgemäß eine besondere Bedeutung zu. Welche Art von ‚theoretischer‘ beziehungsweise ‚reiner Soziologie‘ vertritt Tönnies aber in dieser Schlussphase seines langen und in wissenschaftlicher Hinsicht äußerst fruchtbaren Lebens? Und wie verhält sich diese ‚reine‘ Soziologie eigentlich zur sogenannten ‚angewandten’ und ‚empirischen‘ Soziologie, zu denen Tönnies ja ebenfalls wesentliche Beiträge geleistet hat, die fachgeschichtlich leider weitgehend vergessen worden sind?[9]
Tönnies vertritt zu diesem Zeitpunkt ein Verständnis von ’reiner‘ und ‚angewandter‘ Soziologie, das heute nicht mehr üblich ist. Überdies unterscheidet er in einer sehr eigenwilligen Art und Weise zwischen der ‚generellen‘ beziehungsweise ‚allgemeinen‘ Soziologie und der ‚speziellen‘ Soziologie. Zur ersteren zählt er die ‚Sozialbiologie‘ beziehungsweise ‚Sozialanthropologie‘ sowie die ‚Sozialpsychologie‘, zur zweiten dagegen die ‚reine‘, die ‚angewandte‘ sowie die ‚empirische‘ Soziologie. Die ‚reine‘ beziehungsweise ‚theoretische Soziologie‘ ist für ihn mit einem ‚System‘ von soziologischen Grundbegriffen identisch, das sich auf den statischen Zustand der verschiedenen sozialen Verhältnisse und sozialen Gebilde sowie auf die damit verbundenen sozialen Normen und Werte einer Gesellschaft bezieht. Diese Grundbegriffe haben ihm zufolge einen unhistorischen Charakter, weil sie bewusst von allen geschichtlichen Prozessen wie zum Beispiel der Entstehung der ‚modernen‘ Gesellschaft westlicher Prägung absehen. Dynamische Gesichtspunkte kämen deshalb erst in der ‚angewandten Soziologie‘ zum Zug. In dieser würden die in der ‚reinen‘ Soziologie entwickelten Grundbegriffe bei der Analyse von historischen Prozessen zur Anwendung gebracht. In diese Analyse zieht Tönnies die ‚Universalgeschichte‘, das heißt die „Entwicklungsgeschichte der Menschheit“ ausdrücklich mit ein. Die ‚angewandte Soziologie‘, wie Tönnies sie versteht, ist also durch eine enge Beziehung zur Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie gekennzeichnet (276–278). Die Untersuchung des „gegenwärtigen, fortlaufenden, in unablässiger Veränderung begriffenen gesellschaftlichen Lebens“ sei dagegen Aufgabe der ‚empirischen Soziologie‘, die induktiv vorgehe und die von ihr erhobenen Daten durch die „Methode der Beobachtung und der auf Beobachtungen sich erhebenden Vergleichung“ auswerten würde, wobei Tönnies deren statistische Analyse ausdrücklich miteinbezieht (279 f.).[10]
Im vorliegenden Band der Tönnies-Gesamtausgabe sind nur Schriften zum Abdruck gebracht worden, die der ‚reinen‘ und der ‚empirischen‘ Soziologie gewidmet sind, während Beiträge zur ‚allgemeinen‘ sowie zur ‚angewandten‘ Soziologie fehlen. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass dieser nur das Schrifttum des Jahres 1931 umfasst, in denen die theoretischen Beiträge von Tönnies eindeutig überwiegen. Auch in diesem Band wird ferner deutlich, dass er die meisten der von ihm verwendeten soziologischen Begriffe höchst eigenwillig und insofern auch eigentümlich gebraucht, was für deren fachgeschichtliche Durchsetzung natürlich äußert ungünstig gewesen ist. Dies betrifft nicht nur die in seinem Buch Einführung in die Soziologie von 1931 entwickelte Begriffstypologie, die sich in vielerlei Hinsicht von der grundbegrifflichen Architektur seines Hauptwerkes Gemeinschaft und Gesellschaft unterscheidet und sich wie so viele soziologischen Begriffssysteme dieser Zeit im Laufe des 20. Jahrhunderts fachgeschichtlich nicht durchsetzen konnte.[11] Vielmehr ist damit auch sein Verständnis von Statistik und empirischer Sozialforschung gemeint.
Tönnies spricht sich nämlich dagegen aus, die Statistik ähnlich wie die Mathematik zu einer eigenständigen Wissenschaft weiterzuentwickeln und in dieser Form an den deutschen Universitäten zu institutionalisieren. Denn diese sei eine reine ‚Methode‘ der Analyse von Daten, wie sie heutzutage zum Beispiel in den statistischen Landesämtern der Bundesrepublik Deutschland gesammelt werden. Er betont dabei den Unterschied zwischen der ‚alten Statistik‘, wie sie im 17. und 18. Jahrhundert in Europa im Sinne einer ‚Staatenkunde‘ beziehungsweise ‚politischen Arithmetik‘ betrieben worden ist, und der heutigen statistischen Auswertung von quantitativ erhobenen Massendaten. Auf diese ‚ältere‘ Statistik bezieht sich der Begriff „Soziographie“, den er synonym mit dem Begriff der „empirischen Soziologie“ gebraucht. ‚Soziographisch‘ sind für ihn zum Beispiel alle Formen der Beobachtung des sozialen Lebens, wie sie in der Ethnologie und der ‚Volkskunde‘ üblich sind. Davon sind statistisch erhobene Daten keinesfalls ausgeschlossen, sie lassen sich aber auf diese nicht reduzieren. Es ist also ein Methodenpluralismus, der Tönnies zufolge die „empirische Soziologie“ beziehungsweise die „Soziographie“ kennzeichnet und die er strikt von der „reinen“ und der „angewandten Soziologie“ abgrenzt (280 ff., 468 ff. und 624 ff.). Dies hält Tönnies jedoch nicht davon ab, immer wieder selbst amtliche Statistiken auszuwerten und an der Kieler Universität auch einen Lehrauftrag für Statistik wahrzunehmen.[12]
Eine besondere werkgeschichtliche Bedeutung kommen neben seiner Einführung in die Soziologie auch Tönnies‘ Beiträgen zu dem von Alfred Vierkandt 1931 herausgegebenen Handwörterbuch der Soziologie zu, das einen repräsentativen Überblick über den Entwicklungsstand der deutschen Soziologie gegen Ende der Weimarer Republik vermittelt. Neben Tönnies waren unter anderem auch Franz Oppenheimer, Werner Sombart, Alfred Weber, Leopold von Wiese sowie Vierkandt als Autoren an diesem ‚Handwörterbuch‘ beteiligt. Tönnies hat in ihm vier größere Artikel veröffentlicht, die das „Eigentum“, die „moderne Familie“, das grundbegriffliche Verhältnis zwischen „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ sowie den soziologischen Gebrauch der Begriffe „Stände“ und „Klassen“ zum Gegenstand haben (291–405). In diesen verschiedenen Beiträgen wird deutlich, wie er den seinem Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft zugrundeliegenden Sprachgebrauch im Laufe der Zeit weiterentwickelt und gegen Ende der Weimarer Republik in einer ‚zeitgemäßen‘ Art und Weise anschlussfähig zu machen versucht hat.[13] Dabei sind insbesondere inhaltliche und grundbegriffliche Parallelen zwischen seiner Einführung in dieSoziologie sowie seinen beiden Wörterbuchartikeln über „Gemeinschaft und Gesellschaft“ sowie „Stände und Klassen“ festzustellen, auch wenn die beiden letzteren nicht den Grad der Differenziertheit aufweisen, wie er in seiner Einführung in die Soziologie festzustellen ist.
Alles in allem vermittelt der kürzlich erschienene Band 21 der Tönnies-Gesamtausgabe den Eindruck, dass hier ähnlich wie in der Georg-Simmel-Gesamtausgabe ein gangbarer Mittelweg zwischen einer ‚historisch-kritischen Gesamtausgabe‘ und einer reinen ’Werkausgabe‘ gefunden worden ist, der sich auch in den anderen zehn Bänden der Tönnies-Gesamtausgabe bewährt hat, die seit 1998 bereits erschienen sind. Es bleibt nur zu hoffen, dass dies nicht der letzte Band dieser stattlichen Gesamtausgabe sein wird, sondern dass ihm noch viele weitere Bände folgen werden.
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