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BY 4.0 license Open Access Published by Oldenbourg Wissenschaftsverlag December 6, 2022

Anja Röcke, Soziologie der Selbstoptimierung. Berlin: Suhrkamp 2021, 257 S., kt., 20,00 €

  • Katharina Liebsch EMAIL logo
From the journal Soziologische Revue

Rezensierte Publikation:

Anja Röcke, Soziologie der Selbstoptimierung. Berlin: Suhrkamp 2021, 257 S., kt., 20,00 €


Selbstoptimierung lässt sich heute als Zweck und Ziel in diversen Bereichen des Alltagslebens ausmachen. Sie hat Eingang in Ernährung, Gesundheit, Bildung, Therapie und Beratung, Schönheitshandeln und Denk- und Konzentrationsfähigkeit gefunden, transportiert sich über Ratgeber-Literatur, pharmakologische und medizintechnische Eingriffe, digitale Selbstvermessungsgeräte und wird als Fitness und Diätik, als Medikament und Nahrungsergänzungsmittel und als Tracking und Prothetik auch qua Markt und Mode verbreitet. Die Berliner Soziologin Anja Röcke versteht Selbstoptimierung als „Leitidee der Gegenwart“ (S. 7), als paradigmatische „gesellschaftliche[...] Anforderung“ (S. 28), und will – wie der Titel ihres Buches nahelegt – dem Thema ein soziologisches Fundament geben. Dazu erarbeitet Anja Röcke in sieben gut lesbaren und flüssig geschriebenen Kapiteln die begrifflich-konzeptionellen und gesellschaftstheoretischen Zusammenhänge, beschreibt die diskurs- und ideengeschichtliche Genese von Optimierung und Selbstoptimierung und entwickelt ein strukturanalytisches Raster, mit dessen Hilfe sie die Fülle und Vielfalt von Praktiken systematisiert, die Menschen an sich selbst vornehmen bzw. vorzunehmen bereit sind, wenn es ihnen um Selbstoptimierung geht. Es ist das Anliegen der Autorin, „das „Phänomen in seiner Kulturbedeutung“ zu begreifen (S. 21).

Zur Umsetzung dieses Anspruchs macht sich Anja Röcke zunächst an die Ausarbeitung des Begriffs, seiner historischen Vorläufer und kategorialen Äquivalente (Kapitel II). Sie versteht Optimierung keineswegs nur als quantitativ messbares Steigerungsbegehren. Vielmehr ziele diese darauf, im Spannungsfeld zwischen Nutzen, Knappheit, Entscheidungsanforderungen und konkurrierenden Zielvorstellungen, „ein bestmögliches Ergebnis zu einem gegebenen Zeitpunkt unter Berücksichtigung der vorhandenen Ressourcen und Kontextbedingungen zu erreichen“ (S. 50). Im nachfolgenden Kapitel III wird ein Überblick über Praktiken der Selbstoptimierung und ihre historischen Vorläufer gegeben: Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts findet das Ansinnen zu optimieren auch auf die eigene Person bezogen Anwendung. Dies erscheint zunächst im Bereich der Arbeit – als Anforderung an Arbeitnehmer:innen – und dann in den Debatten um die Möglichkeiten der Technisierung des Lebendigen, die mit den Entwicklungen in der Gen- und Reproduktionstechnologie und Künstlicher Intelligenz in Erscheinung treten: Biohacking, Enhancement, Eugenik, Prävention. Zum gesellschaftlichen Trend wird diese Verhaltensweise ab dem Jahr 2000 ausgerufen. Ab diesem Zeitpunkt, so Röckes These, kann davon gesprochen werden, dass sich Selbstoptimierung als „Ausdruck und Ergebnis einer bestimmten Gesellschaftsformation“ (S. 78), zeigt, als eine Verbindung von Idee, Begriff und Praktiken.

Den historischen Vorläufern der Idee widmet sich die Autorin im vierten Kapitel, in dem sie anhand der drei Begriffe Bildung, Rationalisierung, Fortschritt die Durchsetzung dieser mit der Selbstoptimierung verbundenen Vorstellungen im Verlauf des 19. Jahrhunderts skizziert. Sie arbeitet heraus: Bildung fungiert eher als Gegenspieler zur Selbstoptimierung, da sie nicht zweckrational, sondern auf eine ganzheitliche Entwicklung von Person und Persönlichkeit ausgerichtet ist. Demgegenüber teile die Idee des Fortschritts die Vorstellung einer Steigerungsdynamik mit der Selbstoptimierung und unterscheide sich aber auch insofern von ihr, als dass das aufklärerische Verständnis von Fortschritt auch die Vorstellung einer sittlich-moralischen Vervollkommnung umfasst – eine Ansicht, die in dem Konzept der Selbstoptimierung keine Rolle spielt. Das Konzept der Rationalisierung samt seiner Ausrichtung an Zweckrationalität und bürokratischer Organisation und Kalkulation hingegen wird im 20. Jahrhundert zum zentralen Organisationsprinzip von Ökonomie, Gesellschaft und Psyche mit dem Ziel, Effektivität zu steigern. Dies verbinde die Rationalisierung mit dem Prinzip der Selbstoptimierung.

Im fünften Kapitel verankert Anja Röcke ihr Thema im Feld kultursoziologischer Diskurse. Sie stellt die hinlänglich bekannte grundlegende Bedeutung der Foucault’schen Überlegungen zur Gouvernementalität und zur Biomacht für das Verständnis von Selbstoptimierung heraus und wendet sich dann vier theoretischen Ansätzen zu: Sie stellt Michael Makropoulos‘ Ansatz des Zusammenhangs von „historische(r) Kontingenz und soziale(r) Optimierung“ dar und kontrastiert diesen mit den Thesen Ulrich Bröcklings und Stephanie Duttweilers zur „Ökonomisierung des Sozialen“ sowie mit der von Hannelore Bublitz ausgearbeiteten Perspektive einer massenkulturellen Subjektivierung, um abschließend zu zeigen, wie mit Hilfe von Andreas Reckwitz‘ These vom „singularistischen Subjekt“ das Thema Selbstoptimierung kulturtheoretisch als individuell und gesellschaftlich motivierte Handlungsstrategie spätmoderner Subjekte verstanden werden kann. Diese vier Ansätze diskutiert Anja Röcke im Hinblick auf „Gemeinsamkeiten und Unterschiede“ (S. 160) des jeweiligen Verständnisses von Optimierung und Selbstoptimierung sowie der Analyse ihrer gesellschaftlichen Bedingungen und Voraussetzungen.

Nach diesen (begriffs)historischen, kulturellen und kultursoziologischen Verortungen bestimmt die Autorin im sechsten Kapitel den Gegenstand mittels einer „analytischen Perspektive“ (S. 166). Dazu unterscheidet sie zunächst Foucaults Konzept der „Sorge um sich“ von der Selbstoptimierung, weil diese Form der Sorge einer, wie Foucault formuliert, „Ästhetik der Existenz“ verpflichtet ist und deshalb nicht mit der auf Verwertbarkeit ausgerichteten Selbstoptimierung gleichgesetzt werden kann. Darauf aufbauend arbeitet sie zentrale Aspekte von Selbstoptimierung heraus: in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht wird Selbstoptimierung als entgrenzt, als Streben nach Perfektibilität, prinzipieller Überbietbarkeit und zweckrationaler Optimierung sowie als ausgeprägter Selbstbezug beschrieben. Anschließend wird die Selbstoptimierung bezüglich der Leib-Körper-Unterscheidung sowie angesichts der zwischen Versachlichung und Verdinglichung differenziert. Des Weiteren macht die Verfasserin eine zehn Elemente umfassende Struktur selbstoptimierender Praktiken aus, die sie entlang der Aspekte „Subjekt, Objektbereich, Grundorientierung, Intentionalität/Routine, Ziele, Zielkonflikte, Mittel, offene Prozesslogik, Spannungsfeld von Autonomie/Heteronomie, Fehlen letztgültiger Kriterien zur (normativen) Bewertung“ (S. 193) skizziert. Abschließend wird mittels der Perspektiven von Subjektivierung und Lebensführung die Alltagsrelevanz von Selbstoptimierung angesprochen.

Das Buch endet mit Betrachtungen zur Gegenwartsbedeutung des Phänomens –„Selbstoptimierung heute“ (S. 216) – und stellt dessen normierende Kraft und handlungsorientierende Wirksamkeit heraus. Selbstoptimierung stabilisiere und perpetuiere „gesellschaftliche Prozesse auf der Mikro-Ebene der Akteure“ (S. 221). Grundsätzlich, so die Überlegung, oszillierten Idee und Praxis von Selbstoptimierung in einem Spannungsfeld zwischen zwei Polen, etwa zwischen Spielerei und Zwang/Askese, zwischen Befriedigung und Leid oder auch zwischen der Suche nach individueller Besonderheit und Massenkonsum. Diese „konstitutive Ambivalenz“ der Selbstoptimierung, sei „symptomatisch für die Moderne und die Spätmoderne insgesamt“ (S. 229).

In der gesamten Publikation sind Fragestellung und Vorgehensweise konzeptualisierend und typologisierend angelegt. Es geht Anja Röcke um die Ausarbeitung und Füllung des Begriffs, seiner historischen Vorläufer und kategorialen Äquivalente und um die Logiken und Wirkungsweisen von Selbstoptimierung als organisierendes und mobilisierendes Prinzip sozialen Handelns. Der konkrete Vollzug und die jeweiligen Variationen von Praktiken wie auch die Motive, Anlässe, Zwänge und subjektiven Bedeutungen kommen in dem Buch allenfalls abstrahiert, als implizites Ergebnis der historischen, begrifflichen, theoretischen Fundierung und analytischen Systematisierung des betrachteten Phänomens vor. Einige der gehaltvollen Systematisierungen werden tabellarisch präsentiert – etwa: „Tabelle 1: Typen selbstoptimierter Praktiken“ (S. 67), „Tabelle 2: Parallelen und Unterschiede von Bildung, Fortschritt, Rationalisierung und Selbstrationalisierung und Selbstoptimierung (S. 118) oder „Tabelle 7: Zusammenfassung der Perspektiven auf Optimierung (O) und Selbstoptimierung (SO)“ (S. 163). Diese Darstellungsform sorgt einerseits dafür, dass die Vielschichtigkeit des Phänomens sowohl differenziert als auch prägnant und typisierend auf den Punkt gebracht wird. Andererseits trägt sie dazu bei, die Wirkmächtigkeit der Idee als tendenziell ungebrochen, allgegenwärtig und faktisch anzusehen. Dieser Lese-Eindruck stellt sich mit der Lektüre sukzessive ein und mag auch damit zusammenhängen, dass Selbstoptimierung in der vorliegenden Studie weniger als empirische – und damit auch immer gebrochene – Praxis interessiert, sondern vor allem als kulturelles Prinzip verstanden wird, dessen Logik sich immer und überall zeigen (kann).

Gleichermaßen verblasst im Zuge der vielfältigen Systematisierungen, Strukturierungen und Analyse-Perspektiven der Gegenstand zunehmend. Genauere Betrachtungen von Fragen, wie sich die Ausformungen der Idee der Selbstoptimierung sozial unterscheiden, welche Konjunkturen, Trends, Moden und Ökonomien sich aufgrund welcher Einflüsse und Faktoren verstetigt und weiterentwickelt haben, wie sie sich auf die Phasen des Lebenslaufs verteilen, in die work-life-balance integriert oder auch wieder aufgegeben werden, kommen nur am Rande vor. Auch wird der Betrachtung und Reflexion von Kehrseiten, Grenzen und Gegenbewegungen wenig Raum gegeben.

Das eingangs formulierte Anliegen der Autorin, „das „Phänomen in seiner Kulturbedeutung“ zu begreifen (S. 21), kann so nur teilweise realisiert werden. Denn zur Kultur gehören auch die symbolischen und ästhetischen Formen kultureller Praktiken sowie die Vielschichtigkeit eines „sozialen Sinns“, den die Subjekte im Umgang mit den gesellschaftlichen Erfordernissen und Erwartungen erzeugen. Davon aber erfährt der:die Leser:in in dem theoretisch und systematisch gehaltvollen Buch von Anja Röcke zu wenig.

Online erschienen: 2022-12-06
Erschienen im Druck: 2022-12-01

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 30.9.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/srsr-2022-2010/html
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