Rezensierte Publikation:
Andreas Reckwitz / Hartmut Rosa, Spätmoderne in der Krise: Was leistet die Gesellschaftstheorie? Berlin: Suhrkamp Verlag 2021, 310 S., gb., 28,00 €
Wie die Jungfrau zum Kinde kam. Oder Einladung, dem gesellschaftstheoretischen Boxing Event des Jahres 21–22 beizuwohnen
Es ist wohl offensichtlich, dass die Ko-Autorin dieses Autor:innen Teams, geboren im Sternzeichen der Jungfrau, zu dieser Buchrezension kam wie die Jungfrau zum Kinde: die Einladung, das gemeinsame Buch der Kollegen Reckwitz und Rosa im Rahmen eines Essays zu besprechen, tauchte völlig unerwartet im Schoße meines Emailpostfachs auf. Unerwartet deshalb, weil ich mich erstens bisher mit den Arbeiten beider Kollegen eher querlesend beschäftigt hatte. Zweitens, weil der essayistische Publikationsstil ganz offensichtlich nicht zu meinem Brot- und Butter-Geschäft gehört, wie meine empirisch-analytisch geprägte Vita zeigt. Nichtsdestoweniger haben Gesellschaftstheorien seit Beginn meiner wissenschaftlichen Laufbahn Eingang in meine Forschungsarbeiten gefunden. In jüngster Zeit gilt das auch für Arbeiten des Kollegen Reckwitz; und zwar vermittelt durch meine Zusammenarbeit mit dem Ko-Autoren dieses Beitrags, Mirko Braack, der das Werk des Kollegen seit Jahren deutlich intensiver und mit größerer Begeisterung als ich studiert hatte. Vor diesem Hintergrund hatte ich seit längerem vorgehabt, mich eingehender mit der Reckwitzschen Gesellschaftstheorie zu beschäftigen. Ich dachte, das Ganze im Doppelpack mit der kontrastierenden gesellschaftstheoretischen Perspektive des Kollegen Rosa zu tun, abgerundet durch einen, wie der Klappentext des Buches verspricht, „kritischen Dialog“ der beiden über ihre gesellschaftstheoretischen Positionen, wäre unterhaltsam, effizient und meinem „Doing Sociology“ zuträglich. Schließlich sollten wir empirisch-analytisch arbeitenden Sozialforscher:innen uns in Sachen Gesellschaftstheorie ab und an auf den aktuellen Stand bringen; zumindest dachte ich bis zu meiner Lektüre der Einleitung des Buchs, dass es in der Soziologie eine solche Norm und Praxis gäbe. Also Jungfrau zum Kinde hin oder her, ich holte mir als Ko-Autoren und gesellschaftstheoretisch belesenen Sparringspartner Mirko Braack, der auch dieses Buch natürlich bereits längst gelesen und detailliert mit Notizen versehen hatte, an meine Seite und machte mich daran, nun meinerseits das Werk der Kollegen in Wochenendschichten zu lesen, mit Notizen zu versehen und über das Gelesene zu sinnieren.
Der Ko-Autor dieses Artikels kann seinerseits festhalten, dass die Möglichkeit dieses Buch zu besprechen sehr unverhofft kam. Nach schneller und begeisterter Zusage setzte ein Moment des Erschreckens ein; frisch promoviert, empirisch arbeitend, was könnte ich sagen zu diesem Buch zweier Theorieschwergewichte? Gelesen, viel markiert, Notizen gemacht und dabei viel genickt, muss ich zunächst bekennen, hier schreibt auch ein Fan, der versucht die Theorien als Hintergrund empirischer Analysen anwendbar zu machen. In einer Mischung aus Ehrfurcht, Fan sein und kritischer Lektüre hätte das von meiner Seite aus also eine kurze Besprechung werden können, aber dafür arbeiten wir hier ja als Team und wollen es den beiden dann doch nicht ganz so leicht machen.
Was hier deutlich geworden sein soll, ist Folgendes: wir schreiben über dieses Buch aus der Außenperspektive, d. h. als Nutzer- und Anwender:innen von Gesellschaftstheorie im Rahmen unserer Arbeit als empirisch-analytisch Forschende. Als solche sind wir allerdings, wie wir bei unserer Lektüre feststellen durften, auch in eine Innenperspektive hineingestolpert, weil wir nämlich offenbar Teil einer Auseinandersetzung sind, die wir hier, unsere essayistischen Freiheiten vergnüglich nutzend, als einen Schaukampf zwischen Team Gesellschaftstheorie, vertreten durch die Schwergewichte Reckwitz und Rosa, und Team Irgendwie-der-ganze-soziologische-Rest-der-Welt(!) bezeichnen, vertreten durch – wir wissen es nicht. Allerdings mündet dieser Schaukampf nach der Einleitung in zwei Runden Schattenboxen der Kollegen Reckwitz und Rosa mit sich selbst, gefolgt von einer Runde überraschend konsensualem Schaukampf der Kollegen miteinander; tapfer moderiert von Martin Bauer, Philosoph und geschäftsführender Redakteur der Zeitschrift Mittelweg 36, der sich sichtlich um Synthese und Herausarbeitung von Differenz in beiden Theoriebollwerken bemüht. Man hätte ja erwarten dürfen, um im Bild des Boxsports zu bleiben, dass Herr Bauer die Ringrichterrolle einnimmt; um Fairplay bemüht angesichts des feurigen Schlagabtauschs, den die Kontrahenten bieten. Jedoch würde das unsere Wahrnehmung des „kritischen Dialogs“ falsch wiedergeben. Derjenige, der in diesem Gespräch wirklich ackert, damit für das Publikum etwas Sehenswertes zustande kommt, ist Herr Bauer selbst.
Also noch einmal zum Aufbau des Buches oder, weiterhin im Bild bleibend, zum Ablauf des Events, das hier dargeboten wird: In Runde eins, der Einleitung, kämpfen die Schwergewichte Reckwitz und Rosa gemeinsam gegen einen vage definierten soziologischen, nur schattenhaft konturierten, Gegner, zu dessen Team wir offenbar irgendwie gehören müssen, weil wir als Soziolog:innen selbst keine Gesellschaftstheorie betreiben. In Wahrheit aber, und das wird in den Runden zwei und drei deutlich, ist der Schatten, gegen den beide Autoren in diesem Buch kämpfen, der jeweils eigene; und zwar nicht nur über weite Teile des Buches hinweg, sondern in der Essenz dessen, was das Buch entfaltet. So stehen beide Autoren – jeweils in ihrem eigenen Abschnitt des Buches – zunächst in einer sicheren Grundstellung, die der minutiösen Darstellung ihrer jeweils eigenen Theoriearbeit entspringt. Aus dieser Position heraus können beide einige sehenswerte Schlagkombinationen entfalten, indem sie ihre Gesellschaftsdiagnosen darstellen. Andreas Reckwitz präsentiert die Moderne als „ein Geschehen des Konflikts und des Widerstreits“ (Reckwitz, S. 71). Dabei geht es einerseits soziostrukturell um Kontingenzöffnung und -schließung und kulturell um das Allgemeine im doing generality und rationality (Reckwitz, S. 83). Andererseits geht es um die Betonung des Besonderen und das Schaffen von Werten (und deren Sammlung) in doing singularity und value (z. B. Reckwitz, S. 76–85). Abgerundet wird diese Diagnose durch das Aufeinandertreffen von Vergangenheit als Verlusterfahrung und gegenwärtige Fortschrittsorientierung. Diese erzeugen ein Spannungsfeld und markieren so das hybride Zeitregime der Moderne (Reckwitz, S. 91). Während Andreas Reckwitz sich in dieser Dreier-Kombi aus einer historischen Perspektive der Diagnose der permanenten Krise der Moderne und deren besonderen Ausprägungen in der Spätmoderne nähert, setzt die Diagnose bei Hartmut Rosa direkt zum Showdown an. Sie fokussiert die Individuen, deren Sorgen und Bedürfnisse dienen als Antriebsenergie moderner Gesellschaft, die „beständig wachsen, beschleunigen und innovieren muss, um ihre Struktur zu erhalten“ (Rosa, S. 174). Diese beständige Beschleunigung führt aber zu Desynchronisation und Entfremdung und schließlich zu einer überhitzenden Welt, die sich in entfesselten Finanzmärkten, dem Umgang mit dem Klimawandel, Demokratiekrisen und individuellen Stresssituationen ausdrückt (Rosa, S. 206–212). Aus dieser Diagnose leitet Hartmut Rosa das Kernstück seiner Analyse ab, dass die Welt, die den Individuen eben noch begreiflich und verfügbar erschien, durch die Beschleunigung bedrohlich und unverfügbar wird, und nun Angst und Krisenerfahrung die Individuen antreiben (Rosa, S. 222).
Die Diagnosen beider Autoren scheinen jeweils für sich betrachtet zu sitzen, die Techniken der Theorieentwicklung sind vorbildlich dargestellt und aus einer sehr guten Deckungsarbeit heraus entwickelt – siehe die Danksagungen der Autoren am Ende des Buches an einen soziologisch breit aufgestellten Kolleg:innenkreis – , sodass sich auf den ersten Blick kaum Lücken bieten. Dennoch fällt auf, dass in Runde zwei und drei jeder nur mit dem jeweils eigenen Schatten boxt, der bekanntlich nur scheinbar zurückschlagen kann. Deshalb drängt sich besonders auf den zweiten Blick die Frage auf, wie denn beide Schatten zueinander positioniert sind und warum die Theorie und Diagnose des einen so wunderbar ohne die des anderen auskommt, wenn doch beide, so verstehen wir Kapitel eins, so wichtig für die Soziologie und die Gesellschaft sind.
Eine Antwort auf diese Frage erhofft man sich in Runde vier, dem Schlussteil des Buches. Denn hier sind die Schattenboxkämpfe beendet und beide Autoren steigen in einem freundschaftlichen Schaukampf endlich gegeneinander in den Ring – das jedenfalls wäre unsere Erwartung an den „kritischen Dialog“ gewesen. Tatsächlich aber tänzeln beide dialogisch umeinander herum und keiner holt erkennbar zum Schlag aus, nicht mal um zumindest die Deckung des jeweils anderen zu testen. Es ist auch nicht so, wie man es aus manchem Wrestling-Match kennt, dass plötzlich der große soziologische Schattengegner aus Runde eins regelwidrig den Ring stürmt, sodass beide Theoretiker sich notgedrungen als Tag-Team gegen diesen verbrüdern und am Ende siegreich sind. Um es klar und deutlich zu sagen: vom großen soziologischen Schattengegner aus Runde eins ist weit und breit in den Runden zwei, drei und vier keine Rede mehr und, so der bleibende Eindruck, den das Buch bei uns hinterlässt, kämpft jeder der beiden Herren für sich und es siegt – Achtung, Spoiler-Alarm: keiner, auch nicht die Soziologie als Disziplin.
Der Versuch, Licht in den Zuschauerraum des Boxing Events zu bringen. Oder Grüße an „Lutzifutzi“ und „Hudeldu“
Wir beide haben uns bei der Lektüre dieses Buches unabhängig voneinander gefragt, wen dieses Buch eigentlich als Leser:innen adressiert und wer hier – speziell in der Einleitung – konkret angesprochen wird, wenn davon die Rede ist, dass die Gesellschaftstheorie als zentrale Aufgabe der Soziologie nicht ernstgenommen werde (Rosa & Reckwitz, S. 10). Die Argumentation in diesem Punkt erscheint uns, wie bereits ausgeführt, wie ein Kampf ohne deutlich konturierte Gegner:innen und obendrein ohne ein klar definiertes Publikum.
So haben wir zunächst das Pferd von hinten aufgezäumt und uns auf die Suche nach dem Leser:innenkreis dieses Buches begeben; wohlwissend, dass Adressaten- und Leser:innenkreis keineswegs deckungsgleich sein müssen. Nach der Lektüre von Buchbesprechungen durch unsere Fachkolleg:innen, die zu beiden Kreisen keine Auskunft geben konnten, haben wir schließlich im Internet recherchiert. Dort sind wir auf Kunderezensionen des Buches gestoßen, die vielleicht eine indikative, wenn auch nicht statistisch repräsentative und möglicherweise zu Verkaufszwecken gar manipulierte Datenquelle bieten. Auf Basis dieser Quellen – behandeln wir diese entsprechend mit Vorsicht als anekdotische Evidenz – zeigt sich, dass das Buch zum Zeitpunkt unserer Rezension auf großen Online-Buchhandelsplattformen von Kund:innen (und/oder von eingekauften Personen, die Fake-Bewertungen vornehmen), n<50, im Durchschnitt mit beachtlichen vierkommaeins von fünf Sternen bewertet wurde. Es gibt also nicht nur innerhalb des Autor:innenteam dieser Rezension sondern auch innerhalb der breiteren Leser:innenschaft dieses Buches Fans. So finden „LutziFutzi“ und „Hudeldu“, so die Kundenpseudonyme auf dieser Plattform, das Buch „Hervorragend“ bzw. „Horizonterweiternd! Toll!“, ohne allerdings auszuführen, worin der Reiz des Buches für sie genau besteht. Eine weitaus differenziertere Kundenbewertung wurde von einem Sozialwissenschaftler geschrieben, der jedoch ebenfalls in Bezug auf die Frage, wen dieses Buch adressieren will, nach eigener Aussage im Dunklen tappt.
An dieser Stelle möchten wir unterstreichen, dass die Publikationserfolge der Kollegen Reckwitz und Rosa, auch wenn wir sie hier aufs Korn nehmen, insofern für sich sprechen, als beide nicht nur über Gesellschaft schreiben, sondern offensichtlich zumindest Teile der Gesellschaft mit ihrem Werk zunächst über die in der Spätmoderne etablierten Buch-Märkte, dann offenbar über die Buchinhalte selbst, tatsächlich erreichen, wofür ihnen Respekt gebührt. Diese Erfolge entsprechen auch dem von Rosa formulierten Ideal, der Gesellschaft ein Deutungsangebot unterbreiten zu wollen (Rosa, S. 165 ff.), das diese offenbar – zumindest in Teilen – annimmt.
Nachdem unsere Internetrecherchen neben Amüsantem wenig Substanzielles in Bezug auf die Adressat:innen des Buches zutage gefördert haben, bemühen wir uns nun um mehr Tiefgang in Bezug auf das Publikum und gehen dabei der Frage nach, wer denn unseres Erachtens etwas von der Lektüre dieses Buches hätte. Unsere Antwort lautet: Team Soziologie, speziell die Sektion Gesellschaftstheorie-Next-Generation. Denn eine der Stärken dieses Buches liegt darin, dass die Kollegen Rosa und Reckwitz zwei höchst differenzierte und erhellende, wenn auch in ihren Vorgehensweisen und Prämissen durchaus unterschiedliche Ausführungen dazu vorlegen, wie Gesellschaftstheorie gemacht wird; d. h. welche Materialien und Techniken dabei zum Einsatz kommen und wie in den beiden Ansätzen jeweils Theorie, Empirie und der Gegenstand, die spätmoderne Gesellschaft selbst, ineinandergreifen. Hier liegt nicht nur klar der Schwerpunkt, sondern unseres Erachtens die Stärke dieses Buches. Die Autoren gewähren einen sehr weitgehenden Einblick in ihre Denk- und Arbeitsweisen. Dieser Einblick könnte für Studierende und Early Career Researchers, speziell jene, die mit dem Gedanken spielen, vielleicht selbst Gesellschaftstheorie betreiben zu wollen, nicht nur hilfreich, sondern auch erhellend sein. Nimmt man beispielsweise die Ausführungen im Kapitel von Andreas Reckwitz ernst, räumt er hier überzeugend mit der Vorstellung auf, Gesellschaftstheorie und -diagnose ließe sich durch Halbwissen, hochselektive soziologische Theorielektüre und Zeitunglesen allein aus dem Ärmel schütteln. Es braucht aus seiner Perspektive vielmehr ein Vokabular und empirisch untermauertes Wissen über die Geschichte der Moderne, um Neues, Brüche und Kontinuitäten zu identifizieren. Die Analyse bedient sich hierbei eines Werkzeugkastens (Reckwitz, S. 44) und die Theorie wird selbst zur Praxis, die als „eine Kulturtheorie, aber zugleich eine materialistische Theorie“ (Reckwitz, S. 55) auf die Welt angewendet werden kann. Hartmut Rosa, die Ansätze einer Praxistheorie übergehend (Rosa, S. 172), sucht auf etwas diffuser dargestellte Weise einen Best Account einer Gesellschaftstheorie, welcher Strukturen und Kulturen in einer Formationsanalyse verbindet, und findet dafür das Individuum (Rosa, S. 173). Statt mit einem Werkzeugkasten die Moderne auf ihre Praktiken hin abzuklopfen, beginnt die Gesellschaftstheorie Rosas damit zu fragen, welcher gesellschaftliche Zustand kritikwürdig erscheint, und dieser wird an das „Leiden der Subjekte zurückgebunden“ (Rosa: 177). Bereits hier zeichnet sich ein grundlegender Unterschied zwischen beiden ab, der dann auch das gemeinsame Gespräch durchzieht. Denn Gesellschaftstheorie mit Hartmut Rosa ruft zur Therapie, soll die „Angst zum Verschwinden bring[en]“ (Rosa, S. 237), zielt auf eine „Konzeption des gelingenden Lebens“ (Rosa, S. 248) und generiert „utopische Horizonte für die Gestaltung der Zukunft“ (Rosa, S. 178). Diesem normativen Wissenschaftsverständnis folgt Andreas Reckwitz hingegen nicht, hier sind „wissenschaftliche Analyse und politische Intervention zwei verschiedene Dinge“ (Reckwitz, S. 142), und einig darüber werden sich beide bis zum Schluss nicht. Es wäre spannend gewesen, wären die beiden Ansätze im „Kritischen Dialog“ offen aufeinandergeprallt. Der Ring war bereitet, um zumindest diese Differenzen offensiver auszutragen, aber außer einem vorsichtigen Abtasten, wenn überhaupt, verharren die beiden Autoren leider in ihrer Grundstellung. Da kann sich Martin Bauer als Moderator des Gesprächs noch so sehr bemühen; der vielversprechende Moment, in dem diese gegensätzlichen Vorstellungen von Wissenschaft aufeinandertreffen, zieht vorbei, und Rosa und Reckwitz clinchen nicht, sondern perlen mit ihren jeweiligen Positionen schlicht aneinander ab.
Wer ist in der Krise? Die Spätmoderne Gesellschaft oder die Gesellschaftstheorie der Spätmoderne selbst? Oder wer sich gegenständliche Antworten in Bezug auf den Titel erhofft, könnte enttäuscht sein
Fraglich ist für uns, ob der Buchtitel „Spätmoderne in der Krise“ mit Blick auf die Buchinhalte und die in der Einleitung formulierten Absichten der Autoren (jenseits naheliegender möglicher Ziele des Verlags einen Kassenschlager auf den Markt zu bringen), nämlich „die Motivation, die Gesellschaftstheorie und damit auch die Theorie der Moderne als zentrale Aufgabe der Soziologie stark zu machen“ (Reckwitz & Rosa, S. 10) klug gewählt wurde. Denn dieses Buch bietet wenig neue Einsichten in die Gesellschaftsdiagnosen der Kollegen Reckwitz und Rosa – in dieser Hinsicht fällt es praktisch gezwungenermaßen hinter die weiter ausgearbeiteten Werke beider Autoren zurück. Es bietet somit aber auch keine konkreten Antworten auf aktuell drängende Probleme spätmoderner Gesellschaften, die seit Jahrzehnten von einem Krisenmodus in den nächsten taumeln. In den Worten der Online-Buchplattform-Kundenbewertung von wolfgang mit kleinem w: „Wer sich gegenständliche Antworten im Bezug auf den Titel erhofft, könnte enttäuscht sein“ oder, etwas platter formuliert in den Worten einer Online-Buchplattform-Kundenbewertung ohne Kunden-Pseudonym „kommt über Oberflächliches nicht hinaus“.
Auch die Diagnose, die in der Einleitung des Buches entfaltet wird, ist also eher die einer Krise der spätmodernen Gesellschaftstheorie als die einer Krise der Spätmoderne. Allerdings wäre gerade hier spannend gewesen zu sehen, wie der Werkzeugkasten aus der Analyse von Praktiken und Artefakten, den Andreas Reckwitz so geordnet und überzeugend hinstellt, oder die adaptive Stabilisierung und Herstellung von Resonanz, die Hartmut Rosa vorschlägt, konkret wird. Denn so entsteht an einigen Stellen der Eindruck, die beiden Autoren würden vor allem eine „Überforderungsdiagnose“ (Nassehi, 2021, S. 16) spätmoderner Individuen an der Gesellschaft und sich selbst stellen, ohne diese Überforderung konkret zu machen.
Wenn wir uns also auf „das Experiment ein[ließen], die Welt mittels Theorie zu erschließen“ (Reckwitz, S. 147), was auch empirisch Arbeitenden weniger schwerfällt als hier unterstellt, bleibt die Diagnose und damit die angebotene Leistungsfähigkeit der Gesellschaftstheorie dennoch an entscheidenden Stellen unbestimmt. Es ist unterhaltsam und nachvollziehbar, darüber zu lesen, wie die individuelle Wut gerade dort groß wird, wo die Technik in den eigenen vier Wänden versagt (oder der Laptop sich beim Schreiben einer Buchbesprechung aufhängt) und die „verfügbar gemachte Welt [...] sich auf eine rätselhafte Weise zu entziehen [scheint]“ (Rosa, S. 220). Jedoch stellt sich die Frage, ob sich hier nicht weggeduckt wird vor der Arbeit an den größeren Krisen im Zuge der Digitalisierung? Wenn Hartmut Rosa ein Therapieangebot anstrebt, ist der Moment an dem angesetzt werden sollte, vielleicht weniger die Anekdote über Technikversagen als das Wegbrechen solidarischer Bezüge auf Grund der Selbst- und Fremdoptimierung durch Digitalität (Mau, 2017, S. 275). Die Frage wäre dann, wie erleben die Individuen einen Alltag schwindender Solidarität mit anderen und wie wird dieser Zustand durch die und in der Gesellschaftstheorie adressiert? Denn gesellschaftliche Entwicklung erscheint „als eine Mischung aus Segen und Fluch, deren Fluchgehalt stetig steigt, während die Segnungen immer weiter auseinanderliegen“ (Bauman, 2017, S. 38). Unsere Hoffnung wäre, dass Gesellschaftstheorie sich hier einmischt, indem sie diese Punkte konkret benennt und einordnet, anstatt nur Werkzeugkästen hinzustellen bzw. eine Therapieempfehlung auszusprechen. Genauso ließe sich fragen, was es für eine Gesellschaft und die Bezüge der Individuen heißt, wenn staatliche Grenzziehung und Ein- und Ausschluss sowie mehr oder weniger sichtbare Grenzen (Mau, 2021) dafür sorgen, dass die einen Weltreichweitenvergrößerung erfahren und Singularisierung vorantreiben können, die anderen aber von dieser Resonanzerfahrung ausgeschlossen sind? Auf diese und andere Fragen, die Solidarität und Zusammenhalt berühren und Krisenerfahrung bedeuten, sollte eine Gesellschaftstheorie, die im Allgemeinen so überzeugend antritt, dann auch im Speziellen Antworten bieten, wenn sie leistungsfähig ist. Es wäre zudem auch erhellend zu sehen, wie die moralische Landkarte von Hartmut Rosa (S. 181) hier auf den Verzicht von Emphase eines Andreas Reckwitz (Reckwitz & Rosa, S. 307) trifft.
Die hier deutlich werdende Unbestimmtheit dessen, was uns die Autoren eigentlich sagen wollen, macht das Buch aus unserer Sicht leider weniger anschlussfähig an die uns bekannten und in der Soziologie zweifelsohne höchst kontrovers geführten Grundsatzdebatten. Auch für den vermutlichen Großteil der Leser:innenschaft, eine nicht soziologisch ausgebildete Feuilleton-lesende und -liebende intellektuelle Gruppierung innerhalb der neuen Mittelklasse, dürften diese nur vage skizzierten Kontroversen wenig aufschlussreich oder anschlussfähig sein.
Und stimmt die Diagnose der Kollegen von der Geringschätzung der Gesellschaftstheorie innerhalb des Fachs? Oder liegt es vielleicht in der Natur der Sache, dass sich Vertreter:innen jeglicher soziologischer Subdisziplin und Strömung (die Autor:innen natürlich eingeschlossen) tendenziell als zentral für das Fach und gleichzeitig von den anderen zu wenig wertgeschätzt wahrnehmen? Und wäre hier nicht etwas mehr Anerkennung auf Augenhöhe von allen Seiten wünschenswert und vorauszusetzen, damit wir unsere verletzlichen Egos mal kurz auf eine Zigarettenlänge in die Pause schicken können und uns in einem hell ausgeleuchteten Ring wirklich problembezogen und konkret in einen freundschaftlichen Kampf um das bessere Argument begeben können?
Dazu ganz kurz: wir beobachten in unserem Teilgebiet der Soziologie durchaus Tendenzen, dass manche Kolleg:innen mit und ohne Tenure mit ihren Daten und Modellen in einem weitgehend theorie- und manchmal vielleicht auch sinnfreien Raum operieren; d. h. die (gesellschafts-)theoretischen Grundlagen ihres Tuns offenbar nicht ausreichend durchdrungen haben. Fraglich ist aber, ob es denn zwingend der Durchdringung der Theorien der beiden Kollegen bedarf oder ob nicht ein anderer Baukasten zielführend wäre. Schließlich zeigt Reckwitz selbst auf, in welch beachtlichen Umfang er sich der Arbeiten anderer in seinem „doing Gesellschaftstheorie“ bedient. Besonders pikant ist in dieser Hinsicht, dass das gemeinsame Buch der Kollegen Reckwitz und Rosa unseres Erachtens selbst nahelegt, die beiden Herren hätten sich gegenseitig nicht sonderlich intensiv mit den Prämissen und Thesen des jeweils anderen beschäftigt. Zumindest hat es nicht wirklich für ein gemeinsames Werk gereicht, sondern nur für eine gemeinsame Einleitung, deren Kernthese im Buchverlauf nicht weitergeführt wird. Stattdessen kocht jeder in seinem eigenen Buchabschnitt, über dem er als Alleinautor prangt, sein eigenes Süppchen. Es mutet vor diesem Hintergrund geradezu traurig an, dass wir alle in der Einleitung dazu aufgefordert werden, die Arbeiten der Autoren, die schließlich Kernaufgabe der Soziologie sind, ernster zu nehmen, obwohl beide ohneeinander offenbar prima klarkommen. Möglicherweise treffen wir hier aber auch auf ein besonders anschauliches Beispiel eines Desynchronisationseffektes?
Unsere Position können wir hier ganz klar benennen: Natürlich ist die Gesellschaftstheorie zentral für das Fach und ebenso für die nicht-soziologische Öffentlichkeit. Innerhalb des Fachs liefert sie, wenn sie nach den Regeln guter wissenschaftlicher Praxis betrieben wird, den Kontext für die Verortung von Theorien mittlerer Reichweite und daraus abgeleitet konkreter empirischer Untersuchungen zu spezialisierten Frage- und Problemstellungen. Sie liefert auch, wie unser eigenes bisheriges Oeuvre deutlich zeigt, Impulse für die Forschung, indem ihre zentralen Grundannahmen und Thesen empirisch auf den Prüfstand gestellt werden. Diese Ergebnisse wiederum sollten aber, entgegen der Position, die die Kollegen in diesem Buch einnehmen, die Theorieentwicklung informieren und Fehlstellungen aufzeigen. Der Öffentlichkeit liefert die Gesellschaftstheorie dann im besten Fall empirisch untermauerte, ausreichend differenzierte, gleichwohl vereinfachende und überprüfbare Beschreibungen und Diagnosen zum Zustand der Gesellschaft. Wir denken, im Gegensatz zum Tenor des Buches, dass diese Punkte innerhalb des Fachs weniger strittig sind, als die Autoren behaupten und nicht allein das Denken einer kleinen marginalisierten Elite prägen.
Deutlich kontroverser ist natürlich die Frage, ob konkret vorhandene Gesellschaftstheorien der Spätmoderne all dies tatsächlich zu leisten vermögen, und hier überzeugt selbst den Fan im Autor:innen Team – leider – mehr das Wissen um die Leistungsfähigkeit der Autoren im Allgemeinen als die Leistungsfähigkeit der vorgestellten Gesellschaftstheorien des Buches im Besonderen. Man kann sich auch durchaus fruchtbar darüber streiten, welches die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis sein mögen, die wir hier einfordern (siehe dazu die Positionen von Grunow, 2018; Mau & Villa, 2018; Nassehi, 2018). Eines von mehreren Kriterien, anhand derer man die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaftstheorie unseres Erachtens beurteilen kann, ist das Verhältnis von Theorie und Empirie, das wir im nächsten Abschnitt unter die Lupe nehmen.
Zum Verhältnis von Gesellschaftstheorie und Empirie
Zum Verhältnis von Theorie und Empirie nehmen die Autoren des Buches durchaus Stellung und legen hier sozusagen einen Best Account vor, an dem sie sich auch selbst messen lassen müssen. Zurecht weisen beide auf die Bedeutung von Gesellschaftstheorie für die empirische Forschung hin, die einerseits in der Kontextualisierung der empirischen Forschung selbst liegt und andererseits in der Genese empirischer Forschungsprogramme, die zentrale Aussagen von Gesellschaftstheorien auf den Prüfstand stellen (siehe dazu speziell die Ausführungen von Reckwitz, S. 39 f.). Und hier sehen wir, dass beide Autoren zunächst überzeugend versuchen Theorie und Empirie zusammenzudenken und dazu auch noch prominente Unterstützung durch ein Max Horkheimer-Zitat einholen (Rosa, S. 165 f.) – und wie könnten wir als in Frankfurt arbeitende Kolleg:innen da nicht erstmal nicken?
Natürlich bieten diese Ausführungen auch Ansatzpunkte für eine Auseinandersetzung innerhalb der Soziologie zur gegenseitigen Positionierung von Theorie und Empirie. Eine solche Auseinandersetzung setzt allerdings erstens voraus, dass sich die breitere Fachöffentlichkeit der Lektüre dieses Buches stellt, was paradoxerweise der Ausgangsthese der Autoren, die Soziologie nähme die Gesellschaftstheorie nicht ernst (Reckwitz & Rosa, S. 10), entgegensteht. Zweitens positionieren sich die Autoren Reckwitz und Rosa selbst eher unglücklich, was das Verhältnis von Theorie und Empirie angeht, wenn sie äußern, Gesellschaftstheorie wäre „postempiristisch“ (Reckwitz, S. 42) und ließe sich empirisch nicht widerlegen (Reckwitz, S. 43), mehr noch könne die Praxistheorie „unabhängig von der Empirie ein bestimmtes Bild des Sozialen zeichne[n]“ (Reckwitz, S. 66). Für den Best Account von Hartmut Rosa braucht es zwar die „Grundlage aller zur Verfügung stehenden Ressourcen“ (Rosa, S. 166), was neben statistischen Daten im gleichen Atemzug auch das Kino umfasse. Jedoch sei Gesellschaftstheorie dann ein „diskursive[r] Realitätstest“ der sich gerade keinen methodischen Designs unterwerfe (Rosa, S. 168). Beides ist unseres Erachtens eine Rhetorik der Schwarzweißmalerei. Sicherlich lässt sich eine komplexe Gesellschaftstheorie nicht ohne weiteres durch einzelne empirische Befunde ins Wanken bringen. Allerdings kann Empirie sehr wohl konkrete theoretische Fehlannahmen aufdecken und somit Theorien verbessern, zuweilen die Brücke schlagen, um zwei Theorien miteinander ins Gespräch zu bringen, und schließlich Gesellschaften vor fehlerhaften Diagnosen schützen. Und in Letzteren wurzelt u.E. die gesunde Skepsis mit der empirisch arbeitende Soziolog:innen die Gesellschaftstheorien betrachten. Somit steht zuletzt die Frage im Raum, wie sich Gesellschaftstheoretiker zu jener Empirie verhalten, die sich nicht im Einklang mit ihrer Theorie befindet, und ob sie über diese nicht zu leichtfertig hinweggehen. Ob die, die empirischen Widerspruch vorbringen, am Ende den Eindruck einer Resonanzerfahrung hatten (Kumkar & Schimank, 2021; Reckwitz, 2021), scheint uns jedenfalls fraglich.
Um es abschließend auf den Punkt zu bringen, Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa bieten mit ihrem gemeinsamen Buch einen gelungenen Überblick über ihre jeweiligen Theorien und ihre Ansätze zur Gesellschaftstheorie und sie bieten eine ansprechende Diskussion über das Verhältnis von empirischer Sozialforschung zu Gesellschaftstheorie. In Fragen der Leistungsfähigkeit der Gesellschaftstheorie, die sie im Untertitel versprechen, und auch in der Frage für und gegen wen sie hier streiten, bleiben sie jedoch mindestens uneindeutig.
Literatur
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