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BY 4.0 license Open Access Veröffentlicht von Oldenbourg Wissenschaftsverlag 12. April 2023

Herrschaft: Wiedergewinnung einer verlorenen Kategorie der Arbeit

Dimitri Mader, Herrschaft und Handlungsfähigkeit: Elemente einer kritischen Sozialtheorie. Frankfurt am Main: Campus 2022, 424 S., br., 45,00 € Dimitri Mader, Herrschaft und Handlungsfähigkeit in der Lohnarbeit: Eine Metastudie zu betrieblichen Machtordnungen. Frankfurt am Main: Campus 2022, 420 S., br., 45,00 €

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Aus der Zeitschrift Soziologische Revue

Rezensierte Publikationen:

Dimitri Mader, Herrschaft und Handlungsfähigkeit: Elemente einer kritischen Sozialtheorie Campus: Frankfurt am Main 2022, 424 S., br., 45,00 €

Dimitri Mader, Herrschaft und Handlungsfähigkeit in der Lohnarbeit: Eine Metastudie zu betrieblichen Machtordnungen Frankfurt am Main: Campus 2022, 420 S., br., 45,00 €


In der deutschen Arbeitssoziologie treffen wir derzeit häufig auf Narrative, die widersprüchlich erscheinende Aussagen kombinieren: „Herrschaft durch Autonomie“, „Mehr Druck durch mehr Freiheit“, „Fremdsteuerung durch Selbststeuerung“ sind einige Beispiele. Ihnen zufolge hat sich in den Formen der Kontrolle in den Arbeitsorganisationen Wesentliches geändert. Dimitri Mader stellt sich nun die Frage, inwieweit es sich unter den veränderten Bedingungen noch um Herrschaft handelt oder ob sich (nur) die Formen der Herrschaft gewandelt haben. Er hat sich zur Bearbeitung dieser Frage aus der Perspektive einer „kritischen Sozialtheorie“ mit dem Begriff der „Herrschaft“ systematisch auseinandergesetzt.

Das Ergebnis seiner Beschäftigung, das auf seiner Dissertation an der Universität Jena basiert, liegt nun in zwei Publikationen vor. Die eigenständige Publikation nicht als zwei Bände, sondern als zwei Bücher macht deutlich, dass diese als eigenständige Texte gelesen werden können, wenngleich sie ihre volle Stärke in der Kombination entfalten. Im ersten Buch entwickelt er Grundlagen seiner (begrifflichen) Theorie der Herrschaft, im zweiten Buch setzt er sich auf dieser Basis mit dem Herrschaftsverständnis der Arbeitssoziologie durch eine kritische Auswertung und Lektüre vorliegender Betriebsfallstudien auseinander.

Das erste Buch: Die kritische Sozialtheorie der Herrschaft

Im ersten Buch entwickelt Mader zunächst „Elemente einer kritischen Sozialtheorie von Herrschaft und Handlungsfähigkeit“. Insbesondere poststrukturalistischen Theorien macht er den Vorwurf, den Herrschaftsbegriff aufzulösen, indem sie ihn durch Verallgemeinerung diffus werden ließen. Er lehnt sich in seiner theoretischen Arbeit an die Theorie des Critical Realism und hierbei insbesondere an den morphogenetischen Ansatz von Margaret Archer an. Bereits zuvor hat er sich darum verdient gemacht, den in Deutschland leider noch gering rezipierten Critical Realism bekannt zu machen (Lindner & Mader, 2017). Archers Ansatz kommt nach Mader vor allem das Verdienst zu, den Dualismus von Struktur und Subjekt/Handlungen überwinden zu wollen, ohne diese, wie es etwa in Praxistheorien oft geschehe, zu „konflationieren“. Archer konzipiert dieses Verhältnis vielmehr als „transformatorische Wechselwirkung“ verschiedener Kausalkräfte (S. 43–44).

Allerdings zieht Mader darüber hinaus eine Vielzahl von theoretischen Referenzen aus der deutschen und der internationalen Literatur heran, die durchaus unterschiedliche „Schubladen“ repräsentieren: Karl Marx und die Budapester Schule der Entfremdungstheorie, Uwe Schimank, die Rational-Choice-Theorien von Esser und Coleman, die Kritische Psychologie von Klaus Holzkamp, die Macht- und Herrschaftstheorien von Popitz, Frank Lovett, Steven Lukes und Philippe Pettit sowie Kritische Theorien von Hartmut Rosa und Rahel Jaeggi. Damit spannt er ein breites Panorama von Autor:innen und Ansätzen auf, an denen er sich abarbeitet. Das ist verdienstvoll und insofern kann man sein Buch auch als einen Überblick über macht- und herrschaftstheoretische Ansätze lesen.

In seiner Sozialtheorie bemüht sich Mader um begriffliche Präzisierungen und Abgrenzungen von Herrschaft. Diese bestimmt er als „dauerhafte Einschränkung der Selbstbestimmungsmöglichkeiten der einen durch die Macht der anderen“ (S. 388). Kennzeichnend für eine solche Definition ist, dass sie Herrschaft als eine soziale Beziehung versteht. Herrschaft ist dauerhaft, beruht auf einer Machtasymmetrie zwischen den Beteiligten und auf Zwang, worunter Mader die Fähigkeit der herrschenden Akteur:innen versteht, das Handeln oder Denken der Beherrschten im Zweifel auch gegen deren Willen zu beeinflussen. Wenn sich die Unterworfenen der Macht nicht ohne erheblichen Nachteil entziehen können, kann dies auf Mangel an Alternativen (exit) oder Mitbestimmungsmöglichkeiten (voice) beruhen oder darauf, dass sie innerlich an die Herrschaftsbeziehung gebunden sind. Herrschaft schränkt also die Fähigkeit ein, sich frei zu Einflüssen der Herrschenden verhalten zu können. Insoweit ist sie auch relativ unabhängig vom Wissen und Wollen der Akteur:innen (und zwar beider Seiten). Zugleich aber besteht Mader darauf, dass Herrschaft eine Beziehung von Akteur:innen ist, denen Verantwortung zugeschrieben werden kann (S. 389). So will er vermeiden, Herrschaft entproblematisierend als Struktur zu fassen, der letztlich beide – Herrschende und Beherrschte – unterworfen sind. Andererseits ist diese soziale Beziehung jedoch in gesellschaftliche Strukturen eingebettet.

Mader unterscheidet „Herrschaft“ von benachbarten Begriffen, etwa von „Autorität“, sporadischen Machtwirkungen aufgrund günstiger Konstellationen und vor allem von sozialer Ungleichheit. Diese verteile zwar Handlungsmacht ungleich, begründe aber noch nicht eine „Macht-über-Beziehung“. „Herrschaft“ ist daher auch von „struktureller Heteronomie“ zu unterscheiden, also der Einschränkung der Handlungsmacht von Akteur:innen durch Strukturen. Er merkt selbst an, dass gerade diese Abgrenzung schwierig ist, weil „in der Realität“ strukturell bedingte Herrschaft oft mit „struktureller Heteronomie“ verschränkt sei (S. 393).

Kritischer Maßstab der Herrschaftsanalyse ist zunächst die Einschränkung selbstbestimmter Handlungsfähigkeit der Beherrschten. Diese müsse in einer empirischen Handlungssituationsanalyse identifiziert werden, die nach den Möglichkeiten und Zwängen und dem subjektiven Verhalten diesen gegenüber fragt. Hier gelingt es Mader wiederum, sehr differenziert die verschiedenen Dimensionen (Machtbasis, Bezogenheit der Macht, signifikante Asymmetrie, äußere/innere Zwänge, Fehlen von Exit- und Voice-Optionen, Maß der Verantwortlichkeit, Bedürfnis der Unterworfenen nach Ordnungs- und Erwartungssicherheit, Regelhaftigkeit u. v. a. m.) zu entfalten. Weiterer kritischer Maßstab der Herrschaftsanalyse ist das Leiden an der eingeschränkten Handlungsfähigkeit. Damit wendet er sich der subjektiven Seite zu, die Herrschaftskritik schwierig macht, wenn die Unterworfenen unter der Herrschaft nicht (zu) leiden (glauben). Auch hier beeindruckt wieder Maders Differenzierungsfähigkeit. Er unterscheidet zwischen einerseits äußeren Einschränkungen von Handlungsfähigkeit, wie repressive oder anomische Kontexte, Willkürherrschaft und Situationen mit widersprüchlichen Handlungsanforderungen, andererseits der Unterminierung der subjekt-intrinsischen Voraussetzungen von Handlungsfähigkeit. Hier greift er insbesondere auf Entfremdungstheorien und Holzkamps Kritische Psychologie mit Konzepten wie Selbstfeindschaft und innere Bestimmungslosigkeit zurück. Auch wenn viel dafürspreche, dass Herrschaft mit der Folge eingeschränkter Handlungsfähigkeit auch zu Leiden führe, sei dies immer eine empirisch offene Frage.

Das erste Buch von Dimitri Mader ist eine hochreflektierte Auseinandersetzung mit den Dimensionen des Herrschaftsbegriffs und den darin enthaltenen theoretischen und politischen Implikationen. Das Buch fordert vom Lesenden hohe Konzentration und ist leider nicht frei von Redundanzen, die dadurch zustande kommen, dass der Autor gleiche oder ähnliche Gegenstände immer wieder aus verschiedenen theoretischen Perspektiven beleuchtet. Eine Reihe gut verständlicher Schaubilder verdeutlicht dem Lesenden allerdings die Struktur seiner Argumentation. Gleichwohl bleibt der Eindruck, dass der Text kürzer und dadurch auch zugespitzter hätte werden können.

Auch wenn die Absicht des Autors nachvollziehbar ist, den Herrschaftsbegriff nicht von einer Beziehung verantwortlicher Akteur:innen zu lösen, bleibt doch die Frage, ob nicht Einschränkungen von Handlungsfähigkeit, die sich aus Strukturzwängen ergeben, stärker konzeptionell zu profilieren wären. Bei Mader sind sie der Kategorie „strukturelle Heteronomie“ zugeschlagen, die aber relativ blass bleibt.

Auch wenn Mader vermerkt, dass beim „Akteur:in“-Begriff kollektive Akteur:innen mitgemeint seien, scheinen doch eher einzelne Akteur:innen vor Augen zu stehen (A und B) und zwar in einer dyadischen Beziehung. Die Figur der Dritten wird eher peripher und letztlich im Sinne struktureller Bedingungen eingeführt (S. 389), nicht als systematische herrschaftsstiftende Akteur:infigur – wie etwa bei Popitz. Auch die etwas uneinheitliche Verwendung des „Identitäts“-Begriffs fiel dem Rezensenten auf. Doch insgesamt erhalten die Leser:innen dieser umfangreichen Arbeit eine Fülle von Anregungen und auch Klärungen in der Beschäftigung mit einem zentralen Begriff der Soziologie. Das Buch ist sicherlich einer der zentralen Beiträge der letzten Zeit zum Thema.

Das zweite Buch: Metastudie zur Herrschaft in der Lohnarbeit

Das zweite Buch setzt sich nun gegenstandsbezogen mit der Frage auseinander, inwieweit man in der gegenwärtigen Arbeitswelt vor dem Hintergrund verbreiteter Diagnosen der Arbeitssoziologie, dass klassische – etwa tayloristische – Formen von Herrschaft und Kontrolle zugunsten von indirekter Steuerung, Vermarktlichung und Subjektivierung der Arbeit in den Hintergrund gerückt sind, (noch) von Herrschaft sprechen kann. Insbesondere die von Mader als „paradox“ bezeichnete Diagnose der „Selbstbeherrschung“ will er kritisch hinterfragen.

Die Beantwortung seiner Fragestellung bedarf einer empirischen Untersuchung. Statt einer eigenen empirischen Studie, die eine Einschränkung auf einen kleinen Ausschnitt der Arbeitswelt impliziert hätte, hat er sich mit den Befunden einer Vielzahl (ca. 20) empirischer Studien in Form einer „Metastudie“ auseinandergesetzt. Zwar ist es irreführend, wenn er sein Vorgehen als eine mit der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse durchgeführte Sekundäranalyse (S. 55–56) bezeichnet, da er, wie er selbst festhält, nicht das empirische Material der Studien einer Reinterpretation unterzogen, sondern die vorliegenden Publikationen entlang seiner Fragestellungen und des im ersten Buch entwickelten Kategoriengerüsts ausgewertet hat. Aber wie er diese Vielzahl von Studien in sehr systematischer Weise für seine Fragestellungen aufbereitet hat, ist beeindruckend, weil so ein Panorama der gegenwärtigen Arbeitswelt entsteht, das nicht nur ermöglicht, seine Fragestellung zu beantworten, sondern auch als Überblick über den Stand der betriebsorientierten Arbeitssoziologie taugt, der auch in der Lehre nützlich sein kann.

Mit der Strukturierung des von ihm gebildeten „Samples“ von empirischen Betriebsfallstudien will er die Varianz von sechs verschiedenartigen Erwerbsarbeitsfeldern erfassen. Hierbei hat er das Klassenschema (nach Autorität und Qualifikationen im Arbeitsprozess) von Erik O. Wright (2000), ergänzt um die Dimension der „Arbeitslogik“ im Anschluss an Daniel Oesch (2006) zugrunde gelegt. Auf dieser Basis wählte er für seine Metastudie für die untere Hierarchiestufe die „Einfacharbeit“ in der Industrie (technische), die „Low-Quality“-Callcenter (organisatorische) und die einfachen personenbezogenen und gewährleistenden Dienstleistungen (interpersonelle Arbeitslogik) aus. Für Fachkräfte ohne Weisungsbefugnisse mit interpersoneller Arbeitslogik steht die stationäre (Alten-)Pflege, für Hochqualifizierte ohne Weisungsbefugnisse mit technischer Arbeitslogik die Software-Expert:innen in der IT-Industrie und für Hochqualifizierte mit Weisungsbefugnissen und organisatorischer Arbeitslogik die Führungskräfte im unteren und mittleren Management. Für jedes dieser Erwerbsarbeitsfelder hat er mehrere einschlägige Studien herangezogen, die hier aufzulisten nicht der Raum ist. Sie decken insgesamt den Zeitraum etwa der 1990er und der 2000er Jahre ab. Das hat den Vorteil, die in dieser Zeit besonders stark vertretenen Thesen der Vermarktlichung und Subjektivierung der Arbeit auf ihre Herrschaftsimplikationen untersuchen zu können. Allerdings vermag vor diesem Hintergrund nicht ganz zu überzeugen, dass er die „mittleren Klassenlagen“, die, wie er selbst einräumt, gerade die wesentliche Referenz für die Zeitdiagnosen der deutschen Arbeitssoziologie bilden, nur in geringem Maße einbezieht, um „ein bewusstes Korrektiv zur gängigen Schwerpunktsetzung“ (S. 54) vorzunehmen. Auch stellt sich an einigen Stellen die Frage, wie aktuell einige dieser teilweise zwei Jahrzehnte alten Befunde noch sind.

Das Schema für die Analyse der herangezogenen Studien ist komplex und schließt an die theoretischen Überlegungen in Buch 1 an. Es sieht hier vereinfacht eine Handlungssituationsanalyse der Beschäftigten vor, in der auf Arbeits-, Beschäftigungs- und berufliche Situation abgestellt wird. Fokussiert wird zum einen auf die Strukturierung der Arbeitssituation durch Macht und Herrschaft, durch Kontroll- und Einsatzformen von Arbeit und betriebspolitische Rahmungen, zum anderen auf die Handlungsmacht und Handlungsfähigkeit der Beschäftigten und ihre eigensinnigen Umgangsweisen mit den Arbeitsanforderungen. Nach einer kurzen, aber prägnanten Skizze von vorliegenden Erkenntnissen über sozialstrukturelle Entwicklungslinien von Lohnarbeit allgemein (Berufsstruktur, Einkommensverteilung und Beschäftigungsformen) stellt er die Erkenntnisse der herangezogenen Studien jeweils für ein Erwerbsarbeitsfeld vor, deren Reichhaltigkeit hier nur in allzu dürren Stichworten angedeutet werden kann:

Die Einfacharbeit in der Industrie belegt die Fortexistenz tayloristischer Arbeitsregime mit technisch fundierten Kontrollformen und eingeschränkter Handlungsfähigkeit der Beschäftigten. Bei der Arbeit in „Low-Quality“-Callcentern tritt eine aufgrund des Kundenkontaktes unvermeidliche Unbestimmtheit im Arbeitsprozess hinzu, die eine nicht anerkannte Selbsttätigkeit der Beschäftigten erfordert. In den einfachen Dienstleistungen dominiert eine oft willkürliche persönliche Kontrolle unmittelbarer Vorgesetzter, die aber hierarchisch vermitteltem Marktdruck unterliegen und die Beschäftigten auf der untersten Ebene starker Konkurrenz untereinander aussetzen. Die Fachkräfte in der stationären (Alten)pflege müssen restriktiven Zeit- und Budgetvorgaben folgen, auf der anderen Seite erfordert die Arbeit hohe intrinsische Motivation und ist aufgrund des interaktiven Charakters nur begrenzt standardisier- und planbar. Bei den hochqualifizierten Expert:innen in der IT-Industrie konfligiert Gestaltungsfreiheit bei der Arbeitsausführung mit geringem Einfluss auf die Rahmenbedingungen der Arbeit. Ähnliches gilt für die Führungskräfte im unteren und mittleren Management, die sich eines vergleichsweise großen Dispositionsspielraums und individueller Verhandlungsmacht erfreuen, doch in flacheren Hierarchien den über Kennziffern vermittelten Marktdruck unmittelbarer in ihrem Zuständigkeitsbereich umsetzen müssen.

Im Schlusskapitel resümiert DimitriMader, dass betriebliche Herrschaft als soziales Verhältnis fortbesteht und man auch nicht von einem Umschlagen der Herrschaft in Selbstbeherrschung sprechen könne. Zum einen wird in den unteren Klassenlagen deutlich, dass Thesen der Subjektivierung von Arbeit eine begrenzte Reichweite haben und dass sich Vermarktlichungstendenzen hier eher herrschaftsverstärkend auswirken. Zum anderen kann man aber auch von einem Formwandel der Herrschaft sprechen. Mader spricht von einem Bedeutungsverlust normativer Erwartungsstrukturen zugunsten von Konstellationen der Macht und Handlungszwängen als Basis von Herrschaft. Vermarktlichungsentwicklungen beinhalten keine Minderung von Herrschaft, sondern führen – abhängig von der Klassenposition – zu neuen Kombinationen. Subjektivierung wird in bestimmten Bereichen aktiviert und ermöglicht, dies aber zur Bewältigung heteronomer Zwecke. Dadurch wird die subjektive Handlungsfähigkeit der Arbeitenden größer, der aber kein entsprechender Einfluss auf Rahmenbedingungen der Arbeit korrespondiert. Das gilt insbesondere für die mittleren und höheren Klassenlagen. Gerade in diesen Erwerbsarbeitsfeldern lassen sich widersprüchliche Arbeitsanforderungen feststellen: zwischen tayloristischer Strukturierung und unbestimmten situativen Anforderungen bzw. zwischen Effizienz und Qualität (Callcenter), zwischen Orientierungen auf gute Arbeit (Pflege, IT-Expert:innen, aber auch teilweise einfache Dienstleistungen) und ökonomischen Vorgaben der Kosten- und Zeiteffizienz, zwischen großer Verantwortung und zu geringen Entscheidungsspielräumen (Führungskräfte). Diese sind die Grundlage häufig diagnostizierter paradoxer Implikationen des Formwandels von Herrschaft. Leiderfahrungen aufgrund einer Beschneidung von Handlungsfähigkeit treten zurück zugunsten von Frustrations- und Stresserleben aufgrund widersprüchlicher Arbeitsanforderungen, aus denen eine Selbstinstrumentalisierung der Arbeitenden und die Verlagerung der Widersprüche ins Subjekt resultieren. Insgesamt beantwortet Mader also seine grundlegende Fragestellung so, dass er auf der einen Seite Diagnosen der auf Subjektivierung der Arbeit abhebenden Arbeitssoziologie für bestimmte Erwerbsarbeitsfelder folgt, insbesondere auch das Auftreten praxeologischer oder paradoxer Widersprüche, dass hieraus aber auf der anderen Seite kein Rückgang des Herrschaftscharakters betrieblicher Arbeit, sondern ein Formwandel von Herrschaft resultiert.

Die begrenzte Reichweite der Subjektivierungsdiagnosen so deutlich zu unterstreichen, ist sicher verdienstvoll, dürfte aber auch von den meisten Vertreter:innen dieser Diagnosen nicht ernsthaft bestritten werden. Hier ist in der Arbeitssoziologie oft eher ein Hang zur Verallgemeinerung der Erkenntnisse in „Leitbranchen“ (früher Taylorismus-, später Subjektivierungs-Paradigma) am Werke. Aber für die notwendige Differenzierung leistet Maders Arbeit einen wertvollen Beitrag. Auch zeigt er zu Recht auf, dass vergrößerte Selbsttätigkeitsspielräume und -anforderungen keineswegs als Überwindung oder Bedeutungsverlust von Herrschaft in der Arbeit verstanden werden können. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob eine solche Konsequenz überhaupt von vielen Arbeitssoziolog:innen gezogen wird. Tatsächlich aber wird der Herrschaftscharakter betrieblicher Arbeit und kapitalistischer Gesellschaft oftmals (der Rezensent bezieht sich hier selbstkritisch ein) entweder implizit vorausgesetzt und deshalb nur selten thematisiert oder vorschnell auf das Wirken des Marktes verlagert und in Sachzwänge transformiert. Dass diese weder Herrschaftsfreiheit oder reine Umwandlung in „Selbstbeherrschung“ bedeuten, weil sie immer in Organisationen und in Herrschaftsstrukturen übersetzt werden, das zu betonen ist sicherlich sehr wertvoll. Weil er dies sehr differenziert, theoretisch fundiert und empirisch breit ausgearbeitet hat, hat Mader mit dieser Arbeit eine Studie vorgelegt, die die Arbeitssoziologie breit rezipieren sollte.

Es kann bei einer derartigen Breite und Tiefe der Untersuchung nicht ausbleiben, dass auch auf einige Schwachstellen der Bücher hinzuweisen ist: Die bereits im ersten Buch erkennbare Unterbestimmtheit der Kategorie der strukturellen Heteronomie wirkt sich im zweiten Buch insofern aus, als betriebliche Herrschaft an einer Herrschaftsbeziehung von Akteur:innen festgemacht wird, der gegenüber Markt- und Strukturzwänge zu Rahmenbedingungen werden. Es stellt sich die Frage, wer genau denn herrscht: der einzelne Kapitalist oder das Kapital (die Kapitalistenklasse). Die im ersten Buch vorgenommene grundsätzlich berechtigte Unterscheidung zwischen Herrschaft als Sozialbeziehung und sozialer Ungleichheit wirft die Frage auf, ob und wie intersektionale Ungleichheits- als Herrschaftsbeziehungen zu verstehen sind. Wie und wodurch werden Geschlechter- zu Herrschaftsbeziehungen und was wäre hier genau als Beziehung zu verstehen? Wer genau herrscht wie, wenn zum Beispiel eine Organisation Männer gegenüber Frauen bei der Karriere bevorzugt?

Wenn es auch einerseits im Hinblick auf sein Erkenntnisinteresse – betriebliche Herrschaftsformen – absolut angemessen ist, sich auf Betriebsfallstudien zu stützen, so ist es doch andererseits auch gerade der hierfür häufig unsensiblen Anlage arbeitssoziologischer Fallstudien geschuldet, dass Dimensionen wie Geschlecht, ethnische und kulturelle Zurechnungen usw. auch in Maders Analysen kaum eine Rolle spielen, obgleich sie für die Durchsetzung und die Form von Herrschaft im Betrieb – auch durch Spaltungen, In-Konkurrenz-Setzungen, Auf- und Abwertungen von Beschäftigtengruppen oder eingeschränkte Rechte – offenbar eine erhebliche Relevanz haben. Aber leider benennt Mader diese Leerstelle nicht angemessen. Ebenso folgt er auch der dominanten Tendenz der Arbeitssoziologie, den Lebenszusammenhang nicht konzeptionell einzubeziehen. Immerhin stellt er an verschiedenen Stellen fest, dass (fehlende) Möglichkeiten, die Erwerbsarbeit mit anderen persönlichen Bedürfnissen und Anliegen zu vereinbaren, die Handlungsfähigkeit der Beschäftigten beeinflussen (zum Beispiel S. 325). Und „ob bestimmte Anforderungen als Belastung oder als Herausforderung erlebt werden“, hänge „entscheidend davon ab, wie die Subjekte sie in den Gesamtkontext ihrer Identität und ihrer Lebenspraxis einordnen“ (S. 321–322). Hier wäre Maders Herrschaftskonzept durch eine Integration der Theorie betrieblicher mit gesellschaftlicher Herrschaft und Ungleichheit weiter auszuarbeiten, was Mader selbst im Abschlusskapitel als weitere Forschungsperspektive anspricht.

Schließlich könnte man sich auch wünschen, dass eine betriebliche Herrschaftsanalyse auch Widerstandspotenziale einbezieht, die nicht der Logik von exit, voice und Arbeitsautonomie folgen, sondern eher passiver, verdeckter sind, aber gleichwohl effektiv sein können, wie sie früher unter Stichworten wie Leistungszurückhaltung, Sabotage, Dienst nach Vorschrift, Absentismus auch Gegenstand von Untersuchungen zum „industriellen Konflikt“ waren, aber der gegenwärtigen Arbeitssoziologie insgesamt entglitten sind. Diese Wünsche formulieren jedoch keine Kritik an dieser herausragenden Publikation, sondern sie richten sich erwartungsvoll an die weitere wissenschaftliche Arbeit ihres Autors.

Literatur

Lindner, U. & Mader, D. (Hrsg.). (2017). Critical Realism meets Kritische Sozialtheorie. Transcript.10.1515/9783839427255Suche in Google Scholar

Oesch, D. (2006). Redrawing the Class Map. Stratifications and Institutions in Britain, Germany, Sweden and Switzerland. Palgrave MacMillan.10.1057/9780230504592Suche in Google Scholar

Popitz, H. (1992). Phänomene der Macht. Mohr.Suche in Google Scholar

Wright, E. O. (2000). Class Counts. Cambridge UP.10.1017/CBO9780511488917Suche in Google Scholar

Online erschienen: 2023-04-12
Erschienen im Druck: 2023-05-31

© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Heruntergeladen am 11.12.2023 von https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/srsr-2023-2001/html?lang=de
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