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BY 4.0 license Open Access Published by Oldenbourg Wissenschaftsverlag July 21, 2023

David Joshua Schröder, Kontrollräume und Raumkontrolle: Infrastrukturelle Kontrollzentralen in Zeiten der Digitalisierung. Bielefeld: transcript 2022, 304 S., kt., 49,00 €

  • Nils Zurawski EMAIL logo
From the journal Soziologische Revue

Rezensierte Publikation:

David Joshua Schröder, Kontrollräume und Raumkontrolle: Infrastrukturelle Kontrollzentralen in Zeiten der Digitalisierung. Bielefeld: transcript 2022, 304 S., kt., 49,00 €


Kontrollräume. Man kennt sie aus Filmen, aber die wenigsten von uns waren wohl schon einmal in einem. Vollgestellt mit Bildschirmwänden und Computern, bedient von geschäftigen Menschen mit nicht näher benannten, aber dennoch wichtigen Aufgaben, erzeugen diese Bilder nicht selten eine Atmosphäre der Übersicht, der allgegenwärtigen Macht durch die Überwachung von irgendetwas außerhalb ihrer selbst. Gedanken zu diesen Räumen und ihren Anordnungen, Architekturen und Bedeutungen haben sich wahrscheinlich wenige gemacht – nicht was von dort aus überwacht wird –, sondern wie und ob die innere Beschaffenheit dieser Räume ein möglicher Spiegel ganz anderer gesellschaftlicher Verhältnisse sein kann. Dieser Verdienst gebührt David Joshua Schröder, der in seiner Dissertation eben jene Räume beschreibt und analysiert. Fokus seiner Studie sind dabei explizit die räumlichen Ausgestaltungen von Kontrollzentralen selbst, deren Veränderungen und ihre graphischen Repräsentationen. Es geht ihm im Kern weniger um die eigentlichen Tätigkeiten der Kontrolle, die von ihnen aus vollzogen werden und auch nicht um den von dort aus kontrollierten Raum. Es ist der Raum selbst, die räumlichen Anordnungen, von denen aus die Kontrolle stattfindet, die im Zentrum stehen und die der Autor als Zugang nutzt um „Perspektiven für eine weitere Beleuchtung räumlicher Sozialkontrolle in der refigurierten Moderne aufzuzeigen“ (S. 11). Damit wäre auch der zentrale theoretische Bezugspunkt benannt: die refigurierte Moderne, wie sie im Anschluss an Löw und Knoblauch (2020) von ihm als theoretischer Analysebezug beansprucht wird. Damit, so der Autor, würde es ihm erlaubt, eine Einordnung der Ergebnisse als paradigmatischem Ausdruck gesellschaftlicher Raumverhältnisse vorzunehmen, wie er in der Einleitung im Überblick über die Kapitel ausführt (S. 12–15).

Auch wenn die Einleitung einen guten Überblick über die Forschungsfrage und ihre theoretische Verortung bietet sowie die einzelnen Kapitel kurz vorstellt, wird nicht ganz klar, warum es die Kontrollräume sind, was deren speziellen Reiz ausmacht und warum gerade sie Ausdruck „gesellschaftlicher Raumverhältnisse“ sein können. Der Verweis auf den Gestaltwandel der Zentralen (S. 10) als Ausgangspunkt für die Erkundung seiner Hintergründe mag hier ein nützlicher Hinweis sein – die Kontrollräume als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen auf mikrosystemischer Ebene gewissermaßen. Eine solche Herangehensweise wäre, wenn ich sie denn als solche richtig verstanden habe, dann auch eine nachvollziehbare Herangehensweise. Die Rezension folgt diesem Verständnis der Auswahl des Sujets.

Die Analyse von Schröder erfolgt in drei theoretischen, einem methodischen sowie einem empirischen Kapitel, welches mit 150 Seiten den größten Teil des Buches ausmacht. Das abschließende Kapitel (Kap. 7) sei allerdings nicht mehr Teil der Ergebnisdarstellung, so eine Einschränkung seinerseits, sondern ein Ausblick, mit dem geschaut werden soll, inwiefern die Ergebnisse tatsächlich etwas über Veränderungen von Kontrollaktivitäten und räumlicher Sozialkontrolle schlussfolgern lasse (S. 15). Ich würde behaupten wollen, auch das ist Teil einer Ergebnisdarstellung, gemeint ist aber wohl die Darstellung der Erkenntnisse, die sich direkt aus den empirischen Daten ergeben (Kap. 6).

Die drei theoretischen Kapitel teilen sich auf in eines, in dem der sozialtheoretische und gesellschaftsdiagnostischen Rahmen umrissen wird, eine kenntnisreiche Diskussion des Forschungsstandes sowie eines zum verwendeten Begriffswerkzeug.

Im ersten der drei (Kap. 2) wird vor allem auf den verwendeten Raumbegriff eingegangen und die Rahmung von Kontrollzentren als örtliche Ausformung infrastruktureller Raumkontrolle. Raumkontrolle wird hier zu Recht als eine Ausformung der sozialen Kontrolle verstanden. Dass letztere ein in der Soziologie veralteter Begriff sei (S. 27), kann ich so nicht folgen, auch wenn die Beschreibung sehr eingängig ist, wobei ich seiner umgangssprachlichen Übersetzung des „Menschen auf Linie bringen“ für arg verkürzt halte, für das, was im Zusammenhang mit den auch von ihm festgestellten Normungs- und Formationsprozessen sozialer Gruppen, Gemeinschaften und Gesellschaften dahingehend passiert. Dem Wunsch nach einem (fehlenden) definitorischen Kern versucht Schröder selbst nachzuhelfen, indem er versucht mit weiteren Konzepten und Begriffen diesen Begriff für sich handhabbar zu machen. Das ist gut und hilft zum Verständnis seiner Anwendung auf die Raumkontrolle und das zu findende Feld der Kontrollzentralen. Als Kritik an dem Begriff selbst überzeugt es nicht – was dann auch nicht wichtig ist, denn letztlich geht es ihm um die Räume als Kontrollzentralen und ihre Funktion als örtliche Ausformungen infrastruktureller Raumkontrolle (S. 29).

Außerdem wird in dem Kapitel der Begriff der refigurierten Moderne eingeführt und seine Bedeutung für die vorliegenden Untersuchung deutlich gemacht. Dabei bleibt jedoch das Konzept unscharf, überlagert von Anleihen an andere Konzepte (Castells, Appadurai) erklärt der Autor die Ausformungen und es stellt sich durchaus die Frage, worin konkret die Unterschiede zu einer Netzwerkgesellschaft (Castells) oder den scapes von Appadurai bestehen, denn im Kern bezieht sich die refigurierten Moderne auf eben jene auch dort so oder ähnlich beschriebene „globale, vernetzte und translokale Sphären“ (S. 33). Schröder gibt allerdings auch zu bedenken, dass das Konzept selbst empirisch noch wenig ausgeleuchtet sei (S. 33) und die Ergebnisse seiner Arbeit ein Versuch seien, das diagnostische Potenzial dieser Rahmung zu befragen.

Kapitel 3 ist eine sehr ausführliche Diskussion des Forschungsstandes, die einen weiten Bogen spannt – von den Surveillance Studies und der Kriminologie, über die Sicherheitsforschung, STS, Medien- und Kulturwissenschaft bis hin zu Workplace oder Urban Studies und der Geographie. Die aufgeführten Erkenntnisse bringt der Autor in einer Synthese zusammen, um daran die Forschungslücken und seine eigene Forschungsfrage zu konturieren. Eine dieser Fragen ist, ob man überhaupt von einem Feld der Kontrollzentralen sprechen kann, welches eine eigene Feldlogik besitzen würde (S. 71). Die empirische Feldforschung soll so ein Teil dieser Überprüfung darstellen. Dritter Teil der theoretischen Hintergründe ist in Kapitel 4 das von ihm entwickelte Begriffswerkzeug. Um in der Untersuchung und Analyse keine Verwirrung aufkommen lassen zu wollen, schlägt er hier ein umfassendes Begriffswerkzeug vor, welches einerseits sehr akribisch unterschiedliche Dimensionen, Bezüge und Perspektiven berücksichtigt, unter denen Raum betrachtet werden kann; andererseits müssen die Leser:innen hier sehr aufmerksam sein, denn bisweilen sind die Unterscheidungen der einzelnen Kategorien sehr fein. Da dieses Begriffswerkzeug in Kapitel 6 zum Einsatz kommt und erweitert wird, hat es hier nicht nur illustrativen Charakter, sondern ist elementar zum Verstehen der Analyse. Das relative kurze Methodenkapitel (Kap. 5) beschreibt kurz und prägnant sein methodisches Vorgehen, nachvollziehbar, da es sich aber nicht um eine Arbeit über Methoden handelt, auch hinreichend.

Die Diskussion der Ergebnisse in Kapitel 6 sind das Herzstück der Arbeit. Angelegt ist es zum Teil als chronologischer Gang durch die Veränderungen der Kontrollräume, ähnlich einer Kulturgeschichte des Kontrollraums, was es aber dann doch nicht ist, auch wenn hier und da der (durchaus positive) Eindruck entstehen kann. Und auch das wäre eine echte Leistung. Schröders Ziel aber ist es zum einen eine phänomenologische Eingrenzung der Raumform Kontrollzentrale vorzunehmen sowie der Versuch einer Rekonstruktion der Geschichte ihrer Entwicklung bis in die 1970er Jahre (S. 111). Andererseits möchte er die Strukturmerkmale des Feldes herausarbeiten um so Idealtypen von Kontrollräumen zu unterscheiden.

Die dann folgende Analyse ist erhellend, innovativ, im besten Sinne eine sociological imagination und gleichzeitig verwirrend, wenn man nicht aufpasst. Die Verwirrung entsteht durch die verschiedenen Kategorisierungen, mit denen er das Feld und die Idealtypen in ihren Anordnungen, Typen, Dimensionen, historischen Entwicklungen und infrastrukturellen Bedingungen zu beschreiben versucht. So gibt es idealtypische Schemata für die Arrangements innerhalb der Kontrollzentralen (Abb. 14, S. 136), Idealtypen von Kontrollzentralen (Tab. 2, S. 141) sowie Beispiele für die von Kontrollzentralen behandelten Raumfiguren (Tab. 3, S. 144). Das sowie die mit „Kameraschwenk“ betitelten Beispielexkurse, haben das Potenzial zu verwirren, oder andersherum: Als Leser:in muss man enorm aufmerksam sein hier nicht den Faden zu verlieren. Eine, auch grafische, Zusammenführung der Bezüge der einzelnen Kategorien und ihrer Beispiele hätte hier geholfen. Andererseits sind die vielen Illustrationen, Fotos und Grafiken sehr hilfreich um die Argumente nachzuvollziehen. Leider sind diese, wohl der Kostenbegrenzung der Publikation geschuldet, oft sehr klein, was schade, aber nicht dem Autor anzulasten ist. Es ist diese Visualität, mit der die historische Evolution der Kontrollräume plastisch und die Forschungsidee nach den Räumen der Kontrolle anschaulich nachvollziehbar wird. Die Ausweitung der Analyse bis hin zur Smart City, also zu Smartifizierung von Lebenswelten und auch des Raumes (hier in all seinen Ausdeutungen), ist konsequent und macht diese Arbeit dann anschlussfähig und sehr relevant für andere Felder der Analyse, nicht nur aber u. a. die Forschung zu Überwachung oder einer Raumsoziologie digitaler Welten. Schröders Erkenntnis, dass die Kontrollzentralen und mit ihr die kontrollierten Räume eine flexible Anpassung erfahren, die Kontrolle selbst flexibel wird, anpassungsfähig (S. 265), vielleicht sogar als etwas, das man in den Surveillance Studies unter ambient surveillance versteht, ist dabei wichtig und im Zusammenhang mit diesem speziellen Feld eine Dimension, die man für weitere Forschung ausbauen kann. Eine Richtung dafür gibt der Autor schon selbst vor, nämlich die Stadtforschung bzw. die Betrachtung von Kontrolle in der Stadt, die mit der Digitalisierung eine Form der „unsichtbaren“ Lenkung erfährt, die integriert in das Leben der Stadt (und seiner Bewohner:innen) mehr ist als nur die Überprüfung von Infrastruktur, sondern Teil einer organischen Beschaffenheit urbaner Lebenswelten. Sich diesem Organismus über die zentralen, ihre räumlichen, materiell-physischen und evolutionären Wandlungen zu nähern, erscheint mir eine kluge, wenn auch nicht sofort naheliegende Entscheidung gewesen zu sein. Ob sich damit das Konzept der refigurierten Moderne weiter schärfen lässt, bleibt abzuwarten, das erscheint am Ende der Lektüre jedoch auch nicht mehr so zentral, wie es die Exposition vermuten ließ. Das aber schmälert die Arbeit in keinem Fall, sie bietet mit der Erkundung eines neuen Feldes reichlich Material und Ideen, an welche man anschließen kann und im Zuge einer Forschung, die sich mit Raum und Kontrolle beschäftigt, auch sollte.

Online erschienen: 2023-07-21
Erschienen im Druck: 2023-07-31

© 2023 Nils Zurawski, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 30.9.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/srsr-2023-2028/html
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