In der Handschrift Mailand, Bibl. Ambr. S.P. II. 29 (olim O. 136 sup.) befinden sich auf den ersten 32 Seiten unter dem im 9. Jahrhundert geschriebenen Horaztext (Bischoff, n. 2561) bisher unidentifizierte Predigtfragmente (CPL 706; ThLL: Serm. Mediol.; Frede/Gryson: AN Mai), die in einer Halbunziale des 6. Jh. geschrieben sind (CLA III 357). Analog zum Inhalt anderer Mailänder Palimpseste verortete der erste Editor Angelo Mai die Predigten in einem arianischen Milieu. Er druckte in seiner 1828 erschienenen Erstedition (Scriptorum veterum nova collectio e Vaticanis codicibus edita 3 [Roma, 1828], 240–247; Nachdruck PL 13:631–640) nur ca. 2/3 des erhaltenen Texts ab, wobei er die schlecht lesbaren Abschnitte des Palimpsests sowie die letzten drei Seiten – aus Zeitgründen (paginam 30, paginasque duas reliquas palimpsesti, nempe 31 et 32, praetermisi, quia discedenti mihi Mediolano tempus exscribendo defuit) – ausließ. Obwohl die Edition nur provisorischen Charakter hat und die Handschrift sehr alt ist, fanden die Fragmente abgesehen von einigen Untersuchungen zur Sprache (Hermann Rönsch, Edmund Hauler)[1] in der Forschung kaum Interesse. Dazu hat wohl auch beigetragen, dass sie in einem recht bescheidenen Latein abgefasst sind, den Namen ihres Verfassers nicht nennen und nur fragmentarisch überliefert sind.
Tatsächlich handelt es sich bei diesem „Wartetext“[2], wie sich zeigen lässt, um vorwiegend wörtliche Übersetzungen der Predigten des so genannten Pseudo-Makarios (auf Verwandtschaft des lateinischen Texts mit Pseudo-Makarios hatte punktuell schon Frithiof Rundgren anhand des Begriffs clibanus frg. 12 [PL 13:637 ≈ PG 34:628] hingewiesen, ohne jedoch das Problem weiter zu verfolgen).[3]
Der griechische Text der Predigten des Pseudo-Makarios liegt in drei Sammlungen vor:
B (I): Makarios/Symeon. Reden und Briefe. Die Sammlung I des Vaticanus Graecus 694 (B) (hg. von Heinz Berthold; GCS 19; Berlin, 1973). 2 Bände: Logoi B2–29, Logoi B30–64
H (II): Die 50 geistlichen Homilien des Makarios (hg. v. Hermann Dörries, Erich Klostermann† und Matthias Kroeger; PTS 4; Berlin, 1964)
III: Neue Homilien des Makarius/Symeon 1: Aus Typus III (hg. v. Erich Klostermann und Heinz Berthold; TU 72; Berlin, 1961)
Eine Transkription des Palimpsests anhand der im Internet verfügbaren Digitalisate (http://213.21.172.25/0b02da8280051c1a) führt zu den unten zusammengestellten vorläufigen Ergebnissen.
In der folgenden Tabelle liste ich zunächst die Seiten der aktuellen Handschrift auf, danach die bisher gültige Zählung der Texte nach Mai, der gelegentlich zusammengehörige Texte trennt und nicht zusammengehörige Texte verbindet. In der dritten Spalte führe ich die Stellenzitate der zugrunde liegenden griechischen Texte nach der Seiten- und Zeilenzählung der oben genannten Editionen B, H und III an. In der Spalte Bemerkungen zitiere ich, sofern vorhanden, die von der Handschrift gebotenen Paratexte (Incipit und Explicit). In den letzten zwei Spalten gebe ich an, wieviel Text (nach der Zeilenzählung der modernen Editionen des griechischen Texts) auf den einzelnen Blättern enthalten ist, woraus sich im allgemeinen die Position des Bifoliums im ursprünglichen Überlieferungskontext ermitteln lässt (die römischen Ziffern geben den Quaternio an, die hochgestellten Ziffern die Nummer des Bifoliums, die Buchstaben ab bezeichnen das vordere Blatt des Bifoliums, die Buchstaben cd das hintere).
Seiten | Bezeichnung nach Mai | Text | Bemerkungen | Zeilen im Druck (ca.) | Position im ursprünglichen Codex |
1–2 | Frg. 4 | H15,8–10 (pp. 132–133, ll. 121–144) | Expl omilia XXVIII inc omilia XXVIIII | 23 | V2ab |
3–4 | Frg. 5 + 6 | H15,52–53 (p. 157, ll. 746–762) + H16,1 (p. 157–158, ll. 2–10) | Expl omilia XXXIII inc XXXIIII | 24 | VII2cd |
5–6 | Frg. 7 | H1,11–12 (pp. 12–13, ll. 244–273) | 29 | IV3cd | |
7–8 | Frg. 8 | B54,2,7–3,5 (p. 153, l. 27 – p. 155, l. 1) | 33 | III4cd Fortsetzung von pp. 9–10 | |
9–10 | Frg. 9 (a) | B54,2,4–7 (p. 152, l. 28 – p. 153, l. 27) | 28 | III4ab Wird fortgesetzt auf pp. 7–8 | |
11–12 | Frg. 9 (b) | H1,6–8 (pp. 7–9, ll. 141–182; gekürzt) | 41 | IV3ab | |
13–14 | Frg. 10 | H15,43 (p. 152, ll. 602–605); 29 (p. 144, ll. 405–412); 43 (p. 152, ll. 606–612); 22 (p. 140, ll. 311–313); 43–44 (pp. 152–153, ll. 612–623) | Zwei Einschübe aus früheren Stellen derselben Predigt | 30 | VII2ab |
15–16 | Frg. 11 | H15,19–21 (pp. 138–140, ll. 257–291) | 34 | V2cd | |
17–18 | Frg. 12 | H17,6–8 (pp. 170–171, ll. 86–116) | 34 | VIII2ab | |
19–20 | Frg. 13 (a) | B61,1,4–9 (p. 199, l. 9 – p. 201, l. 4) | 33 | II4cd Fortsetzung von pp. 29–30. Wird fortgesetzt auf pp. 21–22 | |
21–22 | Frg. 13 (b) | 26 | II3cd Fortsetzung von pp. 19–20 | ||
23–24 | Frg. 13 (c) | III 16,2–3 (p. 80, l. 16 – p. 82, l. 1; gekürzt) | 46 | I2cd | |
25–26 | Frg. 1 | De verbo substantiali (unidentifiziert) + III 21,1 (p. 106, ll. 4–14) | Expl de verbo substantiali incipit sermo III | ??? + 10 | I2ab |
27–28 | Frg. 2 | B10,3,1–5 (p. 137, l. 31 – p. 138, l. 29) + B61,1,1–4 (p. 198, l. 2 – p. 199, l. 9) | 35 | II3ab Wird fortgesetzt auf pp. 29–30 | |
29–30 | Frg. 2 + 3 (cetera desunt) | Expl sermo V incipit VI | 36 | II4ab Fortsetzung von pp. 27–28. Wird fortgesetzt auf pp. 19–20 | |
31–32 | (deest) | B18,7,2–3 (p. 207, II. 11–29) + B5,1–2,1 (p. 75, ll. 2–9) | Expl incipit alia omilia | 27 | VIII2cd |
Keine einzige Predigt ist vollständig erhalten; den längsten zusammenhängenden Abschnitt bilden die Seiten 27–30+19–22. Die Zusammenstellung weist Übereinstimmungen mit jeder der drei Sammlungen (B, H und III) auf, dürfte also einer von ihnen unabhängigen Sammlung angehören, die mindestens 34 als omilia, sermo oder mit eigenem Titel (de verbo substantiali) bezeichnete Texteinheiten umfasste.
Da die erhaltenen griechischen Handschriften erst ein halbes Jahrtausend später einsetzen, stellt der lateinische Palimpsest das bei weitem älteste erhaltene Dokument der Pseudo-Makarios-Tradition dar. Er ist somit nicht nur ein wertvoller Zeuge für die Rezeption des Pseudo-Makarios im Westen, sondern wird auch zur Korrektur des griechischen Texts beitragen.
Eine kritische Edition, die die oben genannten provisorischen kodikologischen Ergebnisse vertiefen und Fragen zu Sprache, Übersetzungstechnik und literaturgeschichtlichem Hintergrund beleuchten wird, ist in Vorbereitung.
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