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Publicly Available Published by De Gruyter Oldenbourg October 21, 2020

Digitalisierung und Plattformökonomie als Herausforderungen für den Erfolg von Genossenschaften

  • Michael Kling

1 Einleitung

Das Thema „Digitalisierung" ist omnipräsent und geht selbstverständlich auch den genossenschaftlichen Sektor unmittelbar an. [1] Für viele Unternehmen dürfte sich eine erfolgreiche Digitalisierungsstrategie als Voraussetzung ihrer künftigen Profitabilität und damit ihre Überlebensfähigkeit erweisen.

Bei der Plattformökonomie handelt es sich um ein besonders erfolgreiches Modell für die Digitalisierung. Mit Apple, Alphabet (Google), Microsoft, Amazon, Facebook, Tencent und Alibaba sind gleich sieben der 10 wertvollsten Unternehmen der Welt digitale Plattformen. Kein einziges dieser Unternehmen stammt aus Europa. Aus wettbewerbsrechtlicher Sicht stellen sich in diesem Zusammenhang zahlreiche Probleme, weil die genannten Unternehmen aufgrund ihrer Marktmacht dazu in der Lage sind, sich weitgehend unabhängig von den anderen Marktakteuren, vor allem auch der Marktgegenseite, zu verhalten. Das betrifft neben den Endverbrauchern (B2C) zahlreiche Unternehmen (B2B), darunter viele kleine und mittlere Unternehmen (KMU) [2], die auf die Nutzung der digitalen Plattformen angewiesen sind.

Da mit einer strikten staatlichen Regulierung [3] der US-amerikanischen und chinesischen Plattformgiganten ebenso wenig ernsthaft zu rechnen sein dürfte wie mit einer Zerschlagung durch die zuständigen Kartellbehörden, erweist sich die Kooperation bei der Digitalisierung als Voraussetzung für eine künftige Profitabilität als ein zentrales Thema für alle europäischen Unternehmen, nicht nur für die KMU oder die Genossenschaften. Aus wettbewerbsrechtlicher Sicht wären erfolgreiche Digitalisierungsstrategien von KMU äußerst wünschenswert, da auf diese Weise durch Innovation eine Gegenmacht zu den „Großen 7" erzeugt werden könnte, die bislang fehlt. [4] Teilweise wird in der Praxis jedoch moniert, dass dem „Versprechen einer solidarischeren Plattformökonomie (...) oft politisch schwierigen Rahmenbedingungen gegenüber (stehen)". [5] Konkret vermisst man im Bereich von „sozialen Innovationen" derzeit fehlende „Freiräume mit vermindertem Risiko zum Ausprobieren". [6] Ganz ähnlich lautende Kritikpunkte kommen aus der Start-up-Szene, meist verbunden mit dem Wunsch nach einer (über die Covid-19-bedingten Änderungen hinausgehenden) Lockerung des deutschen Insolvenzrechts, die derzeit allerdings keine Aussicht auf Erfolg hat.

Zum Teil wird in der Praxis ein ganz düsteres Bild der Zukunft gezeichnet. So war in der digitalen Version der FAZ vom 21. Juli 2020 (vor der Bezahlschranke) der Titel zu lesen: „Für eine Kopie von Microsofts Cloud sind wir zehn Jahre zu spät". [7] Der Autor des besagten Artikels, der Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften Acatech, muss es wissen. Konkret führt er aus, dass es wenig aussichtsreich sei, Cloud-Infrastrukturen und digitale Technologien nachzubauen, bei denen andere Anbieter einen jahrelangen und durch Milliardeninvestitionen gestützten Vorsprung hätten. Für eine Kopie von Microsofts Azure oder Amazons AWS seien wir in Europa zehn Jahre zu spät dran. Ein europäischer, von der Wirtschaft getragener Cloud-Ansatz müsse sich deshalb auf die nächste, disruptive Generation fokussieren. Bis das gelinge, müsse man durch Containertechnologien und Standardisierung Open-Source-Lösungen finden für eine EU-Cloud-Architektur, die virtuell, föderal und dezentral ist.

Virtuell, föderal und dezentral – das klingt nach einer geeigneten „Spielwiese" für Genossenschaften! [8] Zumindest findet sich die Behauptung, dass Plattformgenossenschaften vor allem dort Erfolg hätten, wo sie lokal verankert seien oder ein sehr spezielles Feld bedienten. [9]

Wie gehen die Genossenschaftsunternehmen mit Sitz in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit dem Thema „Digitalisierung und Plattformökonomie" um? Welche Maßnahmen haben sie bereits ergriffen und was ist konkret geplant? Welches Innovationspotential besteht dabei speziell für Genossenschaften? Oder geht es am Ende doch bloß um eine bessere Kopie bereits existenter Geschäftsmodelle aus nichtgenossenschaftlichen Bereichen? Welche rechtlichen Grenzen gibt es für die Zusammenarbeit im genossenschaftlichen Verbund oder mit genossenschaftsfremden Dritten? Kann es die von den Pionieren der digitalen Revolution im Genossenschaftswesen gewünschten Freiräume zum Experimentieren von Rechts wegen überhaupt geben? Zu diesen und anderen Fragen sollen die Beiträge des diesjährigen Schwerpunkthefts der ZfgG Antworten liefern.

2 Tatsächlicher Befund – Was wird derzeit im Genossenschaftsbereich bezüglich der Digitalisierung unternommen?

Wenngleich dies in der Öffentlichkeit vielleicht nicht deutlich genug wahrgenommen wird, so hat es in jüngerer Zeit doch eine ganze Reihe unterschiedlicher Digitalisierungsmaßnahmen gegeben, die aus dem genossenschaftlichen Sektor herrühren.

Zunächst ist die Digitalisierung im Bereich der Genossenschaftsbanken zu nennen, die u.a. auch maßgeblich vom Genossenschaftsverband – Verband der Regionen vorangetrieben wird. Der Verband und seine Mitgliedsunternehmen verfolgen das Ziel, das Bankgeschäft der Genossenschaftsbanken konzeptionell und technisch in die digitale Welt zu transformieren und hierdurch Marktpotenzial zu festigen und auszubauen. Dabei kommt der neuen Omnikanal-Vertriebsplattform, die alle elektronischen Angebote für Kunden vernetzt und neue Möglichkeiten für Banken und Kunden eröffnet, eine wichtige Rolle zu. [10] Ein Vorstandsmitglied des Verbandes wird in diesem Zusammenhang mit dem Satz zitiert: „Wer als Bank die Digitalisierung nicht in den Griff bekommt, bekommt (...) große Probleme mit der Zukunftsfähigkeit". [11] Diese Aussage decken sich weitgehend mit weiteren Thesen aus der Praxis. Danach passen die aktuellen Geschäftsmodelle der Banken angeblich weder in die „Null-Zinswelt" noch in die digitale Plattformökonomie. [12]

Im Bereich der Wohnungsgenossenschaften hat die Digitalisierung ebenfalls längst Einzug gehalten. Wohnungen können bereits heute digital verwaltet werden. So hat beispielsweise die sächsische Wohnungsgenossenschaft Flöha und Umgebung eG mit Hilfe ihres Partners Minol sämtliche Liegenschaften (d.h. 1.300 Wohnungen) auf Funk umgerüstet. Die Verbrauchswerte werden per Funk abgelesen. Vor-Ort-Termine in den Wohnungen sind nur noch alle fünf Jahre nötig, und zwar zum Austausch der Wasserzähler. [13] Für die Mieter hat eine solche Funkausstattung erhebliche Vorteile, stellt diese doch nicht nur die Grundlage für die Digitalisierung der Energiekostenabrechnung dar, sondern ermöglicht darüber hinaus die Erbringung weiterer Dienstleistungen wie etwa unterjährige Verbrauchsinformationen oder ein laufendes Energiemonitoring. Mittelfristig sollen auch die Rauchwarnmelder in den Liegenschaften via Funk überwacht werden. [14] Zudem sollen künftig mittels fest verbauter Tablets sowohl die Kommunikation mit der Genossenschaft als auch Smart-Home-Elemente wie die Steuerung von Licht und Fenster ermöglicht werden; außerdem sollen sich die Mieter die Heizkosten anzeigen lassen können. Der Rat des Vorstandsvorsitzenden dieser Wohnungsbaugenossenschaft zum Thema Digitalisierung an seine Kollegen aus der Wohnungswirtschaft fällt pragmatisch aus: „Eigentlich ist es ganz simpel: Man muss einfach loslegen." [15] Das setzt freilich voraus, dass sich die sehr erheblichen Investitionen am Ende amortisieren werden.

Für den Bereich der Warengenossenschaften formulierte der Präsident des Deutschen Raiffeisenverbands (DRV) schon zu Beginn des Jahres 2017 die Forderung nach einer Veränderung der Raiffeisen-Warengenossenschaften. [16] Ausgangspunkt dieser Überlegungen war die Digitalisierung der Produktionsprozesse auf dem Acker, im Stall und im Handelsgeschäft. Die Veränderungen in den kommenden Jahren seien „in ihrer Dynamik und in ihrem Ausmaß noch nicht abzuschätzen". [17] Der BWGV hat das „Dialogprojekt Handel 2030" ins Leben gerufen. Dieses Projekt zielt darauf ab, für den stationären Einzelhandel die Offline-Welt und die Online-Welt miteinander zu verzahnen. [18]

Die Gesundheitsmärkte sind von der Digitalisierung ebenfalls stark betroffen. Zum Jahresbeginn 2019 kündigte die Apobank die Gründung einer Plattform für Dienstleistungen und Produkte für den Gesundheitsmarkt an. [19] Dort würden neue Dienstleistungen abseits des Bankgeschäftes gebündelt. Konkret geht es um das Angebot von Dienstleistungen für die Angehörigen von Heilberufen, damit diese sich künftig stärker auf die eigentliche heilberufliche Tätigkeit fokussieren könnten. Zu diesem Zweck wurde das Kompetenzzentrum ApoHealth errichtet, das Handlungsempfehlungen und praktische Hilfestellungen für die digitale Grundausstattung einer Praxis erstellt habe. Sodann wurde von derselben Bank – gemeinsam mit der Zahnärztlichen Abrechnungsgenossenschaft – die Zahnpraxis der Zukunft GmbH gegründet. Diese neue Gesellschaft entwickelt ein Modell einer innovativen Zahnarztpraxis, die nach den neuesten Erkenntnissen der Zahnmedizin und Praxisführung organisiert ist und an den Bedürfnissen der Zahnmediziner ausgerichtet ist. Verschiedene andere Unternehmen aus dem Bereich des Apothekenwesens haben sich zu der Initiative „PRO AvO" (die Abkürzung steht für „PRO Apotheke vor Ort") zusammengeschlossen, um „in einem engen Zusammenspiel mit weiteren Teilnehmern, Verbänden und Apothekern ein Konzept zu erstellen, das den Apothekern die Möglichkeit eines gemeinsamen Standards, sei es als Marktplatz, Plattform oder nur einer speziellen Anwendung gibt". Mit dem etwas kryptischen Ausdruck der „speziellen Anwendung" seien Apps sowie eRezept-Angebote gemeint. [20]

Diese Beispiele verdeutlichen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit), dass es kaum einen Bereich der Genossenschaftspraxis gibt, in dem die Digitalisierung derzeit nicht eine herausragende Rolle spielt. Zugleich lässt sich aber auch feststellen, dass diese neuen Angebote – natürlich nicht – durchweg in der Rechtsform der Genossenschaft am Markt auftreten. Vielmehr dürfte die Gründung einer GmbH oder einer UG vielen Kooperationswilligen als der unternehmensrechtliche Königsweg erscheinen. Die Rechtsform der Genossenschaft hat jedenfalls noch Entwicklungspotential, was ihre Tauglichkeit als „Rechtsform für unternehmerische Kooperation" angeht. Digitalisierung und Plattformökonomie bieten möglicherweise auch die Chance dazu, ein etwas „verstaubtes" Image der Rechtsform der eG abzulegen. [21] Zugleich wird deutlich, dass man die erforderliche Digitalisierung nicht immer allein und aus eigener Kraft erbringen kann, sondern dass es dafür hinreichend spezialisierter Partner bedarf, die meist außerhalb des genossenschaftlichen Sektors stehen dürften. Diese Art der Kooperation ist wettbewerbsrechtlich nicht verboten, denn die Privilegierung mittelständischer Unternehmen gemäß § 3 GWB knüpft nicht an die Rechtsform der Genossenschaft an, sondern an die Stellung als kleines oder mittleres Unternehmen, also an die relative Größe gegenüber anderen Akteuren auf demselben sachlichen und geographischen Markt (dazu sogleich).

3 Rechtliche Analyse – Die genossenschaftliche Kooperation zwischen (vermeintlicher oder tatsächlicher) Privilegierung und Rechtszwang

3.1 Genossenschaften als Normadressaten i.S.d. Kartellrechts

Nahezu jede Form der unternehmerischen Kooperation kann in das Blickfeld der Kartellbehörden geraten, denn werbende Unternehmen, die auf dem relevanten Markt als Anbieter oder Nachfrager auftreten, sind Normadressaten dieses Rechtsgebiets. Das bedeutet, dass sie sich an die in Art. 101 AEUV und § 1 GWB geregelten Kartellverbote und an die Missbrauchsverbote des Art. 102 AEUV bzw. der § 19 ff. GWB halten müssen (letztere gelten allerdings nur für marktmächtige Unternehmen mit einem Marktanteil von 40% oder mehr).

In diesem Beitrag liegt der Fokus auf den Kartellverboten, die zweiseitige Maßnahmen (Vereinbarungen und abgestimmte Verhaltensweisen), d.h. potentiell wettbewerbsbeschränkende kooperative Maßnahmen, betreffen. Der Grund für diese Verbote liegt in dem Selbständigkeitspostulat des Kartellrechts, das besagt, dass jedes Unternehmen selbständig zu bestimmen hat, welche Politik es auf dem kartellrechtlich relevanten Markt zu betreiben gedenkt. [22] Dieses Selbständigkeitspostulat steht jeder unmittelbaren oder mittelbaren Fühlungnahme zwischen den Unternehmen mit dem Zweck oder der Folge entgegen, das Marktverhalten des Mitbewerbers zu beeinflussen oder den Mitbewerber über künftiges eigenes Verhalten ins Bild zu setzen, das man selbst an den Tag zu legen entschlossen ist oder in Erwägung zieht. [23] Vereinfacht gesagt gilt der Grundsatz: Wenn Du es allein machen kannst, dann mache es auch allein und suche Dir keinen Partner unter den Konkurrenten auf demselben geographischen und sachlichen Markt. Umgekehrt gilt aber auch das Diktum von Friedrich Wilhelm Raiffeisen: Was einer allein nicht schafft, das schaffen viele. Das Kartellrecht steht dieser Denkweise nicht entgegen. Allerdings bezieht sich diese „Privilegierung" der Zusammenarbeit nicht einzig und allein auf Genossenschaften, sondern sie grundsätzlich für KMU. Deshalb ist zwar der weitverbreitete Begriff des „Genossenschaftsprivilegs" letztlich verfehlt, [24] nicht aber die Idee der zulässigen Kooperation von KMU untereinander (und ggf. sogar mit einem „Großen"), die von diesem Begriff naturgemäß erfasst wird.

Zwischenfazit: Genossenschaften sind Unternehmen und damit Normadressaten des Kartellrechts. Dass sie „anders" sind als viele andere Unternehmen der Privatwirtschaft führt zu keiner „Generalamnestie" i.S.v. Bereichsausnahmen von den geltenden wettbewerbsrechtlichen Bestimmungen. Soweit in (Internet-)Publikationen vereinzelt der Eindruck erweckt wird, dass jede Form der Zusammenarbeit von Genossenschaften ohne weitere rechtliche Analyse zulässig sei oder sein solle, wäre dem zu widersprechen; die (nicht unumstrittene) Praxis des Bundeskartellamtes aus den letzten Jahren (z.B. im Milchsektor [25] und bei einer Zweirad-Einkaufs-Genossenschaft [26]) belegt insoweit ohnehin das Gegenteil.

3.2 Kartellrechtliche Grenzen der Kooperation

§ 3 GWB sieht eine besondere Freistellung vom Kartellverbot für sog. Mittelstandskartelle vor. Dabei handelt es sich um Kooperationen von KMU, die den Zweck haben, wirtschaftliche Vorgänge durch zwischenbetriebliche Zusammenarbeit zu rationalisieren. [27] Die Vorschrift erfasst jede Art der betrieblichen Zusammenarbeit zwischen miteinander im Wettbewerb stehenden KMU. Der Zweck dieser Regelung besteht darin, die Wettbewerbsfähigkeit von KMU gegenüber großen Konkurrenten zu verbessern. [28] Sie wird daher auch für eine Vielzahl von Genossenschaften praktisch. Die Vorschrift verlangt, dass es sich um „miteinander im Wettbewerb stehende" Unternehmen handelt. [29] Der Gesetzgeber bringt dadurch zum Ausdruck, dass nur sog. horizontale Kooperationen erfasst werden sollen. Zulässig sind danach u.a. gemeinsame Beschaffungs- oder Vertriebseinrichtungen und Vereinbarungen über die Koordination von Aufträgen sowie die Koordination im Bereich von Forschung und Entwicklung.

Die einzelnen Voraussetzungen sind in § 3 Nr. 1 und § 3 Nr. 2 GWB geregelt. Zunächst darf keine „wesentliche Beeinträchtigung" des Wettbewerbs i.S. des § 3 Nr. 1 GWB gegeben sein. Wann diese Voraussetzungen gegeben sind, ist eine Frage des Einzelfalls. Hierzu sind quantitative Kriterien wie der Marktanteil der betroffenen Unternehmen, die Markttransparenz und etwaige Marktzutrittsschranken, aber auch qualitative Kriterien der Wettbewerbsbeschränkung heranzuziehen. [30] Die Wesentlichkeit ergibt sich aus einem Zusammenspiel dieser Kriterien. In quantitativer Hinsicht ist die kritische Grenze i.d.R. erreicht, wenn das Kartell einen Marktanteil von 10 bis 15% besitzt. [31] Hinsichtlich der auf die Freiheit des Wettbewerbs gerichtete Zwecksetzung des GWB sollte ferner untersucht werden, wie die Marktstruktur konkret aussieht und welche Unternehmen auf der Bieterseite stehen.

Gemäß § 3 Nr. 2 GWB muss das Kartell ferner dazu dienen, die Wettbewerbsfähigkeit der kleinen und mittleren Unternehmen zu verbessern. Eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen liegt nach Auffassung des BKartA [32] unter anderem in den Fällen einer rationelleren Gestaltung der Einkaufs- oder Vertriebsorganisation vor. Obwohl der Wortlaut des Gesetzes das nicht ausdrücklich vorsieht, können sich nach h.M. an einer Rationalisierungsvereinbarung auch „Großunternehmen" beteiligen, [33] wenn das für die Förderung der Leistungsfähigkeit der kleinen und mittleren Unternehmen erforderlich ist und auf diesen Zweck begrenzt wird. [34] Das kommt in Betracht, wenn der Zweck einer Kooperation von KMU ohne die Teilnahme großer Unternehmen nicht oder nicht mit derselben Wirksamkeit erreicht werden kann, wenn etwa ein oder mehrere Klein- oder Mittelbetriebe durch die Vereinbarung mit einem Großunternehmen verbesserte Bezugs- oder Vertriebsmöglichkeiten erhalten. [35] In diesen Fällen ist allerdings ein besonderes Augenmerk auf die Prüfung zu richten, ob eine wesentliche Beeinträchtigung des Wettbewerbs auf dem Markt vorliegt. Die Beteiligung von Großunternehmen ist insbesondere dann verboten, wenn mit ihr darüberhinausgehende Wettbewerbsbeschränkungen verbunden sind, welche die Marktverhältnisse in nicht unerheblichem Umfang zu Gunsten des beteiligten Großunternehmens beeinflussen. [36]

Sind die genannten Voraussetzungen gegeben, dann gelten kraft gesetzlicher Anordnung die Freistellungsvoraussetzungen des § 2 Abs. 1 GWB als erfüllt. Das bedeutet, dass Mittelstandskartelle quasi automatisch vom Kartellverbot des § 1 GWB freigestellt sind, ohne dass es einer besonderen kartellbehördlichen Freistellungsentscheidung bedürfte. Damit fügt sich § 3 GWB in das zum 1. Mai 2004 von der Europäischen Kommission etablierte System der Legalausnahme ein. Sollten die Voraussetzungen des § 3 GWB nicht erfüllt sein, muss subsidiär die Frage einer Freistellung nach § 2 Abs. 1, 2 GWB i.V.m. Art. 101 Abs. 3 AEUV im Einzelfall im Wege der Selbstbegutachtung durch die betroffenen Unternehmen selbst (bzw. durch von ihnen beauftragte spezialisierte Rechtsanwälte) geprüft werden. Diese Freistellung gelingt vereinfacht gesagt dann, wenn die Vorteile des Kartells dessen Nachteile objektiv überwiegen. Die Feststellung hat im Einzelfall an Hand der in Art. 101 Abs. 3 AEUV geregelten, vier kumulativ zu erfüllenden Kriterien zu erfolgen; auch insoweit gilt das Prinzip der Selbstbegutachtung, was angesichts der diskretionären Spielräume in der genannten Vorschrift kritikwürdig ist (ursprünglich, d.h. ab 1957, war die Vorschrift zu Recht allein für die Anwendung durch die zuständige Kartellbehörde gedacht).

3.3 Kartellrecht und Innovation

Auch jede innovationsgeleitete Wirtschaftstätigkeit unterliegt – dem kartellrechtlichen Universalitätsprinzip folgend – dem o.g. Rechtsrahmen. Das Kartellrecht bewertet die Innovation allerdings als grundsätzlich positiv, etwa im Bereich der F&E-Kooperationen sowie im Bereich des Technologietransfers. Dort wurden auf europäischer Ebene spezielle rechtssichere Freiräume durch sog. Gruppenfreistellungsverordnungen und die zugehörigen Leitlinien der Europäischen Kommission geschaffen, die auch für Mittelstandskooperationen gelten. [37] Im Bereich der vertikalen Kooperation gilt die Vertikal-GVO, die derzeit überarbeitet und bis 2022 an das digitale Zeitalter angepasst wird. Es ist allerdings nicht zu erwarten und wäre auch nicht zu begrüßen, wenn deren zentrale Verbotsregeln (z.B. das Verbot der vertikalen Preisbindung in Art. 4 Abs. 1 lit. a Vertikal-GVO) ausschließlich zugunsten von Genossenschaften oder von KMU gelockert würden. Solche Regeln sind nämlich für den Wettbewerb elementar und letztlich unverzichtbar. Von daher war einer früheren Forderung [38] des Spitzenverbands der mittelständischen Wirtschaft nach der Freigabe von Preisvereinbarungen und Gebietsabsprachen innerhalb von Verbundgruppen [39] zu widersprechen, denn der Ausschluss des Preiswettbewerbs dient grundsätzlich weder dem Wettbewerb noch den Interessen der Verbraucher. [40] Nichts anderes kann für Quotenabsprachen gelten, [41] die ebenfalls zu den Erscheinungsformen der besonders wettbewerbsfeindlichen Hardcorekartelle zählen.

4 Schluss

Die gegenwärtige Praxis belegt eindrucksvoll, dass das Thema „Digitalisierung und Plattformökonomie" bei den Genossenschaften „angekommen" ist. Es bietet beachtliche Chancen, um die verschiedenen betroffenen Sektoren zukunftsfähig zu machen. [42] Zugleich ist klargeworden, dass Genossenschaften ggf. mit anderen Unternehmen kooperieren müssen; das betrifft dann ggf. Dienstleister, die selbst nicht in der Rechtsform der Genossenschaft organisiert sind. Der rechtliche Rahmen für die Kooperation ist günstig, weil das Kartellrecht für den Mittelstand insgesamt – und eben nicht nur Genossenschaften – ein Bedürfnis nach Kooperation anerkennt. Für KMU ist im Einzelfall sogar die Kooperation mit „Großunternehmen" zulässig. Von daher sollten die geltenden wettbewerbsrechtlichen Bestimmungen einer verstärkten Kooperation von Genossenschaften im Rahmen einer fortschreitenden Digitalisierung nicht entgegenstehen. Dies gilt vor allem auch für innovative Kooperationsformen.


Tel.: 06421 / 28-23093


Published Online: 2020-10-21
Published in Print: 2020-09-25

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 4.12.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zfgg-2020-0011/html
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