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Licensed Unlicensed Requires Authentication Published by De Gruyter Oldenbourg October 18, 2016

Rechtsbewußtsein im wiedervereinigten Deutschland

  • Elisabeth Noelle-Neumann

Zusammenfassung

Der Aufsatz beschreibt die Verfassung sowie die Entwicklung des Rechtsbewußtseins der Bevölkerung im wiedervereinigten Deutschland. Grundlage sind die Daten aus einer repräsentativen Befragung im Frühjahr 1995 sowie die Ergebnisse aus Indikatorfragen, die seit langem immer neu gestellt werden und die so Veränderungen der Einstellungen erkennen lassen. Zwischen Ost- und Westdeutschen läßt sich ein gespaltenes Rechtsbewußtsein beobachten; Schlüsselbegriffe wie „Freiheit“ oder „Menschenrechte“ werden ganz unterschiedlich verstanden. Vor allem die Ostdeutschen setzen wenig Vertrauen in das Rechtssystem der Bundesrepublik. Lediglich ein geringer Teil von ihnen vertritt die Meinung, daß die Menschenrechte heute besser geschützt werden als in der DDR. In Ost wie West verfügen nur wenige über die notwendige Kenntnis der Grundbegriffe des demokratischen Rechtsstaats. Dabei gibt es ein ausgeprägtes Rechtsgefühl, das im Gegensatz zu einzelnen Gesetzen und einzelnen höchstrichterlichen Entscheidungen steht. Seit den späten 60er Jahren hat sich in Westdeutschland eine deutliche Veränderung des Rechtsbewußtseins der Bevölkerung vollzogen. An vier Beispielen wird die nun auch im Osten zu beobachtende Erosion von Rechtsprinzipien dokumentiert: Verlust der Anerkennung des Mehrheitsprinzips, abnehmender Rechtsgehorsam, Neigung, auf Bestrafung von „Bagatell-Straftaten“ zu verzichten, und Bereitschaft, rechtsfreie Räume zu akzeptieren.

Summary

This paper describes the population’s state of mind, as well as the development of the public’s awareness of the legal system in unified Germany. The paper is based on the findings of a representative survey that was conducted in the spring of 1995, along with the results of indicator questions that have been posed repeatedly for many years, bringing the changes in the population’s attitudes to light. It can be observed that Eastern and Western Germans have very different views on constitutional the system; their interpretations of key concepts such as „freedom“ or „human rights“ are completely different. Eastern Germans in particular have very little faith in the Federal Republic of Germany’s legal system. Only a small share of Eastern Germans believe that human rights are better safeguarded today than they were in the GDR. In both Eastern and Western Germany, only a small percentage of people are sufficiently familiar with the basic concepts upon which the democratic state is founded. At the same time, the Germans display a sense of justice that is in clear contrast to individual laws and various rulings by the Constitutional Court. Since the late 1960’s, there has been a significant change in the population’s grasp of legal principles in Western Germany. The disintegration of legal principles which can now also be observed in Eastern Germany is documented by means of four examples: the waning acceptance of the principle of majority rule, the diminishing inclination to abide by the law, the tendency not to punish „petty crimes“, and the readiness to accept „rechtsfreie Räume“, areas where laws are not enforced.

Online erschienen: 2016-10-18
Erschienen im Druck: 1995-11-1

© 1995 by Lucius & Lucius, Stuttgart

Downloaded on 26.3.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zfrs-1995-0201/html
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