Die Beiträge zu diesem Schwerpunkt sind aus dem interdisziplinären Nachwuchs-Workshop „Human Rights and (Socio-)Legal Theory“ hervorgegangen, der von Mitarbeitenden der Humboldt Universität zu Berlin und der Universität Zürich gemeinschaftlich initiiert worden war und im Oktober 2021 an der Universität Zürich durchgeführt wurde. Zusammen mit einer für das Jahr 2023 geplanten Sonderausgabe der Zeitschrift Rechtsphilosophie – Zeitschrift für Grundlagen des Rechts (RphZ) bilden sie das Ergebnis eines gemeinsamen Nachdenkens darüber, wie dogmatisch-normative, rechtstheoretische und empirische Forschung zum Thema Grund- und Menschenrechte miteinander ins Gespräch gebracht werden können. Anliegen des Workshops war es, die bislang als defizitär ausgemachte Kommunikation zwischen diesen verschiedenen Forschungsansätzen zu den Menschenrechten zu stärken. Der – freilich ungemein herausfordernd anmutende – Ansatz der Interdisziplinarität verspricht Erkenntniserweiterung in beide Richtungen: einen Wissenstransfer von der rechtsdogmatischen und rechtstheoretischen Befassung mit den Menschenrechten zu sozialwissenschaftlichen Forschungsansätzen und zurück. Methodologisch war daher auch Ziel dieses Projektes, Interdisziplinarität nicht als leere Hülse zu verstehen, sondern über die gelegentliche Transplantation eines Gedankens in einen anderen Kontext hinaus durch die Verknüpfung bisher nicht in Verbindung stehender Forschungsstränge neue Antworten und neue Fragen zu entwickeln.
Inhaltlich bildete der folgende Fragenkomplex einen Ausgangspunkt: Wie „funktionieren“ Ansprüche auf Grund- und Menschenrechte in unterschiedlichen Kontexten, Zeiten und Orten? Wie lassen sich soziologische Theorien in der Rechtsdogmatik sowie -praxis und wie normative Diskurse in soziales Handeln umsetzen? Welchen Einfluss haben Jurist*innen und juristische Institutionen, politische Eliten, die Medien und die Zivilgesellschaft auf die Wirksamkeit dieser Diskurse? Wo liegen die Schnittstellen zwischen Rechtslehre und politischen Grund- und Menschenrechtsdiskursen? Wie zeigt sich der Universalitätsanspruch der Menschenrechte in konkreten sozialen Kontexten? Welche Rolle spielen die Menschenrechte für die Theorie aktueller gesellschaftlicher Organisationsformen?
Entstanden sind die Beiträge unter dem Eindruck der Covid-19-Pandemie, der Black Lives Matter Proteste im Anschluss an die Ermordung von George Floyd, der Anschläge von Halle und Hanau und der daran anschließenden zivilgesellschaftlichen Mobilisierung im Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus. Hinzu kommen die spürbaren Auswirkungen der Klimakrise in Form von Hitzewellen, Dürren, Bränden, Fluten und anderer extremer Wetterereignisse.
Die von André Nunes Chaib aufgeworfene Frage nach der Mobilisierung von und mit Grund- und Menschenrechten in sozialen Bewegungen, die für politische Veränderungen auf lokaler, nationaler und globaler Ebene kämpfen, stellt sich daher besonders akut. Sein Beitrag mit dem Titel „Reassessing Social Movements‘ Position and Normative Force in Constitutional Settings“ geht vor diesem Hintergrund der Frage nach, wie soziale Bewegungen das Recht taktisch und strategisch nutzen, um ihre politischen Anliegen voranzutreiben und wie sie dabei auf verschiedene verfassungs- und völkerrechtliche Normenordnungen reagieren. Er bezieht sich dabei auf bestehende empirische Forschung zu sozialen Bewegungen und rahmt diese ein in rechtstheoretische Überlegungen, die auf den Theorien von Judith Butler und Bruno Latour fußen. Dies bewegt ihn dazu, traditionelle, formalisierte Konfliktlösungsmethoden kritisch einzuschätzen und stattdessen für die Integration problemorientierter Lösungsansätze zu plädieren, um der eminenten Bedeutung von sozialen Bewegungen als Motor gesellschaftlicher Veränderungen gerecht werden zu können.
Als ebenfalls äußerst aktuell erweist sich der Beitrag von Stefano Statunato „Problematic Aspects of a Systems-Theoretical Approach to Fundamental Rights“, der sich der Überzeugungskraft des systemtheoretischen Ansatzes im Bereich der Grundrechte widmet. Im Kern seiner kritischen Überlegungen steht dabei die Wissenschaftsfreiheit, die über lange Zeit hinweg sowohl von der Rechtsdogmatik als auch von soziologisch-empirischer und rechtstheoretischer Forschung vernachlässigt wurde. Zahlreiche Ereignisse der letzten Jahre erfordern dagegen eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Wissenschaftsfreiheit und ihrer gesellschaftlichen Funktion. Die Vorgänge rund um die Central European University, die unter starkem politischem Druck und nach langem Ringen mit der Regierung von Viktor Orbán im Jahr 2018 ihren Umzug aus Budapest nach Wien bekannt gab, sind ein besonders eindrückliches Beispiel dafür, wie die Wissenschaftsfreiheit zunehmend unter Druck gerät. Um vor diesem Hintergrund vertiefter über die Wissenschaftsfreiheit nachzudenken, scheint die Systemtheorie von Niklas Luhmann zunächst ein hilfreicher Ansatzpunkt zu sein. Statunato kommt jedoch zu einem anderen Schluss. Insbesondere argumentiert er, Kategorisierungen wie ‚strukturelle Kopplung‘ oder ‚Expansionstendenzen‘ seien nicht dazu geeignet, die vielfältigen Phänomene im Bereich der Wissenschaftsfreiheit angemessen zu beschreiben.
Sué González Hauck greift mit ihrem Beitrag „Weiße Deutungshoheit statt Objektivität“ einen wesentlichen Aspekt der Rolle heraus, die Grund- und Menschenrechte für ein liberal-demokratisches gesellschaftliches Organisationsmodell haben: die Gewährleistung der Gleichheit vor dem Recht. Dieser formale Gleichheitsanspruch muss in der Praxis auch eingelöst werden. Dabei ergibt sich aus eigener Anschauung oder Erzählung bei Vielen der Verdacht oder die Gewissheit, dass es stattdessen ein strukturelles Ungleichgewicht gibt bei der Frage, wem in der juristischen Praxis tatsächlich Gehör geschenkt wird und wem nicht – man könnte diesen Umstand strukturellen oder institutionellen Rassismus nennen. Eine breit geführte und ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus auch in der Rechtswissenschaft kommt allerdings erst in den letzten Jahren langsam in Gang. In ihrem Beitrag greift González Hauck einen Aspekt juristischer Argumentationspraxis heraus, der besonders stark für die fehlende Aufarbeitung von strukturellem Rassismus in der Rechtspraxis verantwortlich ist. Sie beginnt dabei mit bestehenden sozialepistemologischen Kritiken an dem Ideal von Objektivität als Neutralität und verknüpft diese mit Literaturbeständen aus der kritischen Weißseinsforschung. Diese dienen als Folie, vor deren Hintergrund die Argumentationsfigur des ‚objektiven Dritten‘ in anderem Licht erscheint.
Die Beiträge dieses Schwerpunkts lassen somit interdisziplinäre Verbindungen spezifisch an der Schnittstelle verschiedener rechts- und sozialwissenschaftlicher Ansätze entstehen. Sie inspirieren dazu, den Fragen nachzugehen, was Rechtsforschung überhaupt ausmacht und wie rechtswissenschaftliche Erkenntnis gewonnen werden kann. Erkenntnisgewinn in den Rechtswissenschaften jedenfalls ist spezifisch auch in der Art und Weise zu sehen, wie Fragen (neu) gestellt werden und wie sich Methoden der Kritik fortentwickeln. In diesem Sinne ist es auch das Ziel dieses Schwerpunkts, im interdisziplinären Nachdenken über das Recht zu immer neuen Fragen anzuregen – besseren Fragen, die im Sinne Sundhya Pahujas (2021: 67) weniger darüber Aufschluss geben, was getan werden soll, sondern vielmehr darüber, wie wir unseren Forschungsgegenstand besser verstehen.
Danksagung
Dieses Projekt war während langer Zeit im Entstehen begriffen. Unvorhergesehene Ereignisse im Rahmen der Covid-19-Pandemie haben zu vielfachen Verschiebungen geführt. Umso glücklicher sind die Herausgeberinnen nun, diese Schwerpunkt-Ausgabe zu einem gelungenen Abschluss bringen zu können. An dieser Stelle ist daher all jenen Personen und Institutionen zu danken, die die Veröffentlichung der vorliegenden Schwerpunkte-Ausgabe ermöglicht haben.
Besonderer Dank gilt den Autor*innen. Ohne ihren großen Einsatz, ihr Engagement und ihre Resilienz in dieser unsicheren Zeit würde die vorliegende Publikation nicht existieren. Ein großer Dank gilt zudem unseren engagierten Unterstützern und Mitwirkenden Dr. Christian Boulanger und Prof. Dr. Matthias Mahlmann, welche dieses Projekt mit ihren Nachwuchsforschenden zusammen ins Leben gerufen haben. Weiter ist Prof. Dr. Marietta Auer sowie Prof. Dr. Christoph Möllers für Ihre Unterstützung zu danken. Dank gebührt auch dem Joint Seed Money Fund der Universität Zürich und der Humboldt Universität zu Berlin, dem Graduate Campus der Universität Zürich sowie dem Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie in Frankfurt am Main, ohne deren Unterstützung dieses Projekt nicht möglich gewesen wäre. Letztlich ist auch herzlich den Gutachter*innen zu danken, deren kompetente Arbeit diese Publikation zu dem gemacht haben, was sie ist.
Oktober 2022
Nicole Nickerson, Sué González Hauck, Anne Kühler
Literatur
Pahuja, Sundhya (2021) Methodology: Writing about how we do research, S. 66–70 in R. Deplano & N. Tsagourias (Hrsg.), Research Methods in International Law: A Handbook. Cheltenham (UK) & Northampton (MA, USA): Edward Elgar.Search in Google Scholar
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