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BY-NC-ND 4.0 license Open Access Published by De Gruyter Oldenbourg June 4, 2019

Stigma-Management von Verkäuferinnen von Straßenzeitungen

Eine Analyse symbolischer Differenzierungen anhand von Goffman und Bourdieu

Stigma Management among Vendors of Street Papers
An Analysis of Symbolic Differentiations Based on Goffman and Bourdieu
  • Florian Buchmayr

    Florian Buchmayr, geb. 1991, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen, Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik (Socium).

    Forschungsschwerpunkte: Soziale Ungleichheiten, Migrationssoziologie, Methoden qualitativer Sozialforschung.

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Zusammenfassung

In der empirischen Forschung zu Strategien des Stigma-Managements werden Stigma-Gruppen zumeist als mehr oder weniger homogen imaginiert. Die Unterschiede zwischen Stigmatisierten und damit einhergehende Variationen des Stigma-Managements wurden bisher ausgeblendet. Aus diesem Grund erweitert die vorliegende Arbeit Erving Goffmans Stigma-Konzept durch Pierre Bourdieus Kapitaltheorie. Anhand von qualitativen Interviews mit Verkäuferinnen von Straßenzeitungen werden sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede im Umgang mit dem Stigma der Obdachlosigkeit untersucht. Als Gemeinsamkeit zeigt sich, dass alle Verkäuferinnen nur ihr individuelles Stigma managen und nicht das ihrer Gruppe. Gleichzeitig gibt es aber auch große Unterschiede in der Kapitalausstattung, die die Wahl von Strategien des Stigma-Managements beeinflussen. Personen mit höherem ökonomischem und kulturellem Kapital können sich effektiver vom Stigma distanzieren als weniger privilegierte Verkäuferinnen.

Abstract

In the literature on strategies of stigma management, stigmatized groups are imagined to be more or less homogeneous. The differences between stigmatized individuals and diverging strategies of stigma management have been ignored. For this reason, this paper extends Erving Goffman’s concept of stigma management with Pierre Bourdieu’s theory of capital. Drawing on qualitative interviews with vendors of street papers, the present article investigates both similarities and differences between them in dealing with the stigma of homelessness. What they have in common is that they only manage their individual stigma and not that of their group. At the same time, however, there are also major differences in the endowment with capital that influence the choices of stigma management strategies. Vendors with more economic and cultural capital can distance themselves more effectively from the stigma of homelessness than less privileged vendors.

Einleitung

Die Auftritte von Straßenzeitungsverkäuferinnen auf Plätzen, vor Supermärkten oder in S- und U-Bahnen gehören in vielen deutschen Städten zum Alltag. Die Verkäuferinnen dieser Zeitungen werden oftmals mit Obdachlosigkeit in Verbindung gebracht, doch nicht alle Verkäuferinnen sind tatsächlich obdachlos. Der Verkauf der Zeitungen ist in der Regel für sozial marginalisierte Personen vorgesehen (Kulke 2015: 10). Die überwiegende Mehrheit der Verkäuferinnen hat in ihrem Leben Obdachlosigkeitserfahrungen gemacht, aber nicht alle leben auf der Straße oder in Unterkünften für Obdachlose.[1] In einigen Arbeiten wurde bereits gezeigt, dass die Verkäuferinnen durch diese Tätigkeiten nicht nur in der Lage sind, ihre materielle Situation zu verbessern, sondern dadurch auch gesellschaftliche Anerkennung erfahren und ihr Selbstwertgefühl steigern können (Bono 1999; Kazig 2001; Kulke 2015; Scheufele & Schieb 2016). Doch die Tatsache, dass Verkäuferinnen auch mit Stigmatisierungen konfrontiert sind und auf diese reagieren müssen, wurde in keiner dieser Arbeiten thematisiert.

Es gibt bereits einige Arbeiten, die sich mit dem Stigma-Management von obdachlosen Personen auseinandersetzen. Vor allem ethnographische Forschungsarbeiten aus den USA beschreiben die alltägliche Bemühung, sich angesichts extrem prekärer Verhältnisse ein „normales“ Leben einzurichten (Duneier 2001; Liebow 1993; Jencks 1994). Doch der Wunsch, nach gesellschaftlich anerkannten Maßstäben zu leben, lässt sich aufgrund fehlender Ressourcen nicht realisieren. Zudem zeigt die Literatur, dass der Versuch, das Stigma der Obdachlosigkeit zu minimieren, oftmals zu einer Reproduktion des Stigmas führt, ganz gleich, ob versucht wird, sich aufgrund des Makels vor der Öffentlichkeit zu verstecken (Harter et al. 2005), den eigenen Status als Stigmatisierte zu akzeptieren (Snow & Anderson 1987), Verhaltensweisen von „Normalen“ zu kopieren (Rochelle & Kaufmann 2004) oder umgekehrt Stereotypen über Obdachlose aktiv zu bedienen (Lindemann 2007). In all diesen Untersuchungen werden Obdachlose als eine mehr oder weniger homogene Gruppe betrachtet. Systematische Unterschiede in der Wahl von Strategien des Stigma-Managements werden nicht thematisiert.

An diesem Punkt setzt die vorliegende Arbeit ein. Eine Erweiterung von Erving Goffmans (1967) Konzept des Stigma-Managements durch Pierre Bourdieus (1982, 1992) Kapitaltheorie ermöglicht es, nicht nur Strategien des Stigma-Managements herauszuarbeiten, sondern auch deren ungleiche Verteilung zu analysieren. Den eigensinnigen und kreativen Antworten auf Stigmatisierung soll ebenso Bedeutung zugemessen werden wie internen Machtverhältnissen und sozialen Ungleichheiten. Diese Differenzierungen innerhalb einer Gruppe von Stigma-Trägerinnen sollen anhand von Berliner Verkäuferinnen von Straßenzeitungen nachvollzogen werden. Gerade Verkäuferinnen von Straßenzeitungen müssen sich öffentlich stark exponieren. Der Umgang mit potentiellen Stigmatisierungen kann damit besonders gut beobachtet werden.

Zunächst soll mit Erving Goffmans Konzept des Stigma-Managements und Pierre Bourdieus Kapitaltheorie der konzeptionelle Rahmen dieser Arbeit vorgestellt werden (Kapitel 1). Im zweiten Kapitel wird das methodische Vorgehen beschrieben. Im dritten und vierten Abschnitt sollen die zentralen Ergebnisse der Arbeit vorgestellt werden. Diese bestehen zum einen in grundsätzlichen Gemeinsamkeiten des Stigma-Managements der Straßenzeitungsverkäuferinnen (Kapitel 3) und zum anderen in einer Typologie, welche die entscheidenden Unterschiede im Stigma-Management zum Ausdruck bringt (Kapitel 4). Abschließend sollen die zentralen empirischen Ergebnisse noch einmal zusammengefasst werden.

1 Konzeptioneller Rahmen

Das Stigma der Obdachlosigkeit stellt einen enormen sozialen Makel dar. In der Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ identifiziert Wilhelm Heitmeyer Obdachlosigkeit als eine von zwölf grundlegend diskriminierenden Gruppenzugehörigkeiten (Heitmeyer 2008: 18 ff.). Das Stigma der Obdachlosigkeit setzt sich aus zwei Dimensionen zusammen. Zum einen besteht es in der Unterstellung physischer Verwahrlosung. Bereits im 19. Jahrhundert kommt es zu einer fundamentalen Unterscheidung zwischen einfacher Armut, die als natürliches Ergebnis des kapitalistischen Systems akzeptiert wird, und Pauperismus, der sich in einer kriminellen und verrohenden Masse manifestiert und als physische Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung angesehen wird (Dean 1991: 174). Die zweite Dimension dieses Stigmas besteht in der Unterstellung pathologischer Konsum- und Verhaltensmuster. Obdachlose werden nicht nur einfach als Arme, sondern als „undeserving poor“, also als unwürdige Arme angesehen (Gans 1995: 36). Aufgrund vermeintlich pathologischer Konsummuster und verantwortungsloser Lebensstile werden die Obdachlosen für ihre soziale Lage selbst verantwortlich gemacht.[2] Der Makel der Obdachlosigkeit hat damit eine physische und eine kulturelle Dimension.

Um die Frage beantworten zu können, wie Akteure mit diesem Makel umgehen, soll auf Erving Goffmans (1967) Konzept des Stigma-Managements zurückgegriffen werden. Unter einem Stigma versteht Goffman eine stark diskreditierende Eigenschaft. Sie taucht dann auf, wenn es zu einer Diskrepanz kommt zwischen dem, was als normal antizipiert wird, und der aktuell vorgefundenen Identität eines Individuums (Goffman 1967: 11). Stigmata können sehr vielfältige Erscheinungsformen annehmen. Sie können offensichtlich sein oder verheimlicht werden, durch Vertrautheit größer oder kleiner werden, viele oder wenige Informationen über den Träger preisgeben, in bestimmten Lebnsbereichen disqualifizieren und in anderen nicht weiter auffallen usw. (Goffman 1967: 64). Stigmata sind nicht feststehende Substanzen, sondern situationsabhängig. Während eine bestimmte Eigenschaft eine bestimmte Kategorie von Menschen stigmatisiert, kann die gleiche Eigenschaft die Normalität einer anderen Gruppe von Menschen bestätigen (Goffman 1967: 11).[3]

Goffman konzipiert Stigmatisierte aber nicht einfach als passive Opfer, sondern als aktive und kreative Gestalter ihrer Stigmatisierungen. Es gibt zahllose Möglichkeiten, mit Stigmata umzugehen. Goffman weist allerdings auf einige Extrempole hin, innerhalb derer sich Stigma-Management im Allgemeinen bewegt. Stigmatisierte pendeln in der Regel vor allem zwischen Anpassung und Aufbegehren bzw. zwischen defensiven und offensiven Strategien. Sie können demütig die allgemeinen Vorstellungen über die Stigma-Gruppe erfüllen oder Dinge tun, die Angehörigen dieser Gruppe nicht zugetraut werden; sie können versuchen, ihr Stigma zu verstecken oder demonstrativ zur Schau zu tragen; sie können die gesellschaftlichen Normen, von denen sie als Stigmatisierte abweichen, selbst verinnerlichen und auf sich oder andere Stigmatisierte anwenden, oder sie können das Stigma in Frage stellen und positiv umwerten.

Goffman betont vor allem, dass Stigma-Management immer auch Informations-Management bedeutet. Es gilt, die eigene Identität kunstvoll in der Öffentlichkeit zu enthüllen. An dieser Stelle verweist das Stigma-Konzept auf seine späteren Arbeiten zum Interaktionsverhalten. Stigma-Management besteht, so wie jegliche alltägliche Identitätsarbeit, in der symbolischen Darstellung und Andeutung dieser Identität. Schauspielen ist nicht mit Täuschung gleichzusetzen. Denn jede Interaktion erfordert übertriebene Darstellungen, durch die das Gegenüber weiß, woran es ist (Goffman 1969: 6). Dieses Prinzip gilt zwar für alle Menschen, ist aber für Stigmatisierte von besonderer Bedeutung. Jede noch so kleine Handlung ist dazu verdammt, ausgiebig interpretiert zu werden und als Informationsquelle über das moralische Wesen des Stigmatisierten zu fungieren (Goffman 1967: 88).

Goffmans Stigma-Konzept brachte eine Fülle an empirischen Arbeiten zu den unterschiedlichsten Gegenständen hervor, etwa zu psychischen Erkrankungen (Corrigan 2012), körperlichen Behinderungen (Moloney et al. 2018; Taub et al. 2004), Homosexualität (Cain 1991), Kinderlosigkeit (Park 2002), ansteckenden Krankheiten (Poindexter & Shippy 2010, Siegel et al. 1998) oder ethnischen Zugehörigkeiten (Lamont et al. 2016; Gerhards & Buchmayr 2018), um nur einige Beispiele zu nennen.[4] Die Antworten auf Stigmatisierungen reichen von offensiven und proaktiven bis hin zu defensiven und reaktiven Strategien (vgl. zum Überblick Meisenbach 2010). Zu den defensiven und reaktiven Strategien gehören Verheimlichung (Cain 1991; Poindexter & Shippy 2010; Siegel et al. 1998) Selbststigmatisierung (Corrigan 2012), Akzeptanz der gesellschaftlichen Normen (Park 2002), Ablenkung vom Stigma bzw. Hervorhebung anderer Kompetenzen (Verwiebe et al. 2016; Moloney et al. 2018; Taub et al. 2004). Zu offensiven und proaktiven Strategien zählen selbstbewusste Enthüllung des Stigmas (Cain 1991; Poindexter & Shippy 2010; Siegel et al. 1998) und Angriffe auf die stigmatisierende Gesellschaft (Lamont et al. 2016; Siegel et al. 1998, Park 2002). In allen zitierten Studien finden sich in den untersuchten Stigma-Gruppen sowohl offensive als auch defensive Strategien. Doch trotz der Heterogenität an Umgangsformen wurde in diesen Arbeiten niemals der Frage nachgegangen, inwiefern die Wahl von Strategien des Stigma-Managements zwischen sozialen Gruppen variiert. Stattdessen werden Stigma-Gruppen als mehr oder weniger homogen imaginiert und interne soziale Ungleichheiten ausgeblendet. Die Kritik, dass die bisherige Stigma-Forschung zu individualistisch sei und Machtverhältnisse ausblende, ist nicht neu (vgl. dazu Link & Phelan 2001). Aber dennoch gibt es bisher keine Versuche, diese Forschungslücke zu schließen.

In der vorliegenden Arbeit soll diese konzeptionelle Leerstelle durch Pierre Bourdieus Kapitaltheorie ausgefüllt werden. Akteure setzen im Kampf um Legitimität unterschiedliche Kapitalien, insbesondere soziales, kulturelles und ökonomisches Kapital, ein (Bourdieu 1992: 49). Unterschiedliche Klassenfraktionen streben mit Hilfe dieser ungleich verteilten Kapitalsorten nach Distinktion, das heißt nach einer positiven Abhebung von anderen Akteuren. Dieser Kampf um Distinktion funktioniert vor allem anhand von Lebensstilen (Bourdieu 1982: 212). Das Ziel von Lebensstilen besteht darin, unterschiedliche Ressourcen (wie beispielsweise ökonomisches und kulturelles Kapital) in symbolisches Kapital bzw. Legitimität und Ansehen zu verwandeln (Bourdieu 1982: 281). Lebensstile sind stets expressiver Natur, da es darum geht, die eigene soziale Identität im sozialen Raum zu markieren.

Bourdieus Kapitaltheorie erlaubt es, materielle und symbolische Differenzierungen innerhalb verschiedenster Gruppierung zu konzeptualisieren. Strategien des Stigma-Managements verteilen sich, so die Arbeitshypothese, nicht gleichmäßig oder zufällig, sondern hängen von der Kapitalausstattung der jeweiligen Akteure ab. Durch diesen differenztheoretischen Blick kann zwischen mehr oder weniger legitimen und erfolgreichen Formen des Stigma-Managements differenziert werden.

Bourdieus Kapitaltheorie stellt eine wichtige Ergänzung zum Konzept des Stigma-Managements dar, da Goffmans primäre Untersuchungseinheit nicht Sozialstrukturen, sondern Interaktionsordnungen darstellen.[5] Goffman ist zwar nicht machtblind, entwickelt allerdings kein analytisches Instrumentarium, womit sich Machtverhältnisse adäquat und systematisch untersuchen ließen.[6] Das zeigt sich bereits an den sehr unterschiedlichen praxeologischen Akzentuierungen Bourdieus und Goffmans. In Bourdieus Schriften steht die Reproduktion sozialer Differenzen im Mittelpunkt, die durch somatisch und unbewusst handelnde Akteure erfolgt (Reckwitz 2004). Goffman nimmt demgegenüber viel stärker Situationen in den Blick, bei denen die Ordnung des Sozialen an ihre Grenzen gerät und Subjekte kreativ auf Widersprüche und Widerstände reagieren müssen (Hitzler 1992). In der Realität ist mit beidem zu rechnen. Deshalb sind diese unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen im Werk Bourdieus und Goffmans nicht unvereinbar, sondern als Möglichkeit zur gegenseitigen Befruchtung anzusehen[7]. Bourdieu und Goffman scheinen sich darüber hinaus auch deshalb gut zu ergänzen, weil sich beide Theoretiker für das Ziehen symbolischer Grenzen im alltäglichen Kampf um Anerkennung interessieren. Beide verpflichten sich einer streng relationalen Denkweise und betrachten positiven oder negativen Status nicht als natürliche Eigenschaft, sondern als eine soziale Beziehung (Goffman 1967: 11, Bourdieu 1996: 127). Auch Stigma und Distinktion sollten nicht als feste Eigenschaften, sondern als relationale Zuschreibungen konzipiert werden. In der Forschung wurden Stigmata und Distinktionen substantialisiert und unterschiedlichen sozialen Gruppen zugeordnet. In der Literatur zu Stigma-Management-Strategien werden vor allem gesellschaftliche Außenseiter untersucht, während Distinktionskämpfe insbesondere in gebildeten und bürgerlichen Milieus verortet werden. Das, was Untersuchungen zu Distinktionsbestrebungen von Untersuchungen über Stigma-Management trennt, scheint die Wahl des Untersuchungsgegenstandes und nicht der grundsätzliche konzeptionelle Rahmen zu sein. Bei einem Stigma handelt es sich um eine negative, bei einer Distinktion um eine positive Abweichung von einer jeweils geltenden Normalitätserwartung. Beide Phänomene können ohne das jeweils andere nicht existieren. Eine positive Klassifikation verweist immer auch auf eine negativ klassifizierte Gegenseite, ohne die eine positive Abhebung nicht möglich wäre (Neckel & Sutterlüty 2005: 415). Zudem stellen Stigmata und Distinktionen eine potentielle Möglichkeit bzw. potentielle Gefahr für alle Akteure dar. Jede Handlung kann negativ oder positiv klassifiziert werden, abhängig von den jeweils geltenden Normalitätsvorstellungen und der jeweiligen Referenzgruppe. Bestimmte Eigenschaften können Bildungsbürgerinnen in ihrem Milieu genauso zum Verhängnis werden, wie andere Eigenschaften Obdachlosen in ihrer Szene zur Distinktion verhelfen können. Alle sozialen Gruppen sind zur Distinktion fähig, und alle sozialen Gruppen sind mit der Notwendigkeit konfrontiert, Stigmata zu managen.

Sowohl Stigmata als auch Distinktionen können als Zeichen beschrieben werden, welche einen relationalen Unterschied markieren. Sie stellen implizit stets vorhandene Pole in Statuskämpfen dar. Die vorgestellte Forschungsperspektive bleibt damit auch an andere Forschungsprogramme anschlussfähig, die sich mit der Markierung relationaler symbolischer Grenzen auseinandersetzen (Lamont & Molnar 2002, Hirschauer 2014).

2 Methodisches Vorgehen

Um die subjektiven Bewältigungsmuster des Stigmas der Obdachlosigkeit angemessen abbilden zu können, wurden 19 leitfadengestützte Interviews mit 21 Verkäuferinnen (bei zwei Interviews wurden jeweils zwei Personen gleichzeitig interviewt) von Mai 2014 bis Juni 2014 durchgeführt. Die Interviews dauerten im Durchschnitt 50 Minuten.

Die Verkäuferinnen wurden an zwei Ausgabestellen der Zeitung rekrutiert. Nicht zuletzt durch die Unterstützung der Vereinsmitarbeiterinnen, die viele Verkäuferinnen schon seit langer Zeit persönlich kennen, war es nicht schwierig, gesprächsbereite Interviewpartnerinnen zu finden. Allerdings sagten auch viele Verkäuferinnen aufgrund von Zeitknappheit oder Schamgefühlen ab. Inwiefern dies zu einer Verzerrung der Ergebnisse geführt haben kann, soll am Ende der Arbeit diskutiert werden. Insgesamt wurde aber darauf geachtet, Verkäuferinnen mit möglichst unterschiedlichen Merkmalen für das Forschungsprojekt zu gewinnen.

Sechs Personen waren zum Zeitpunkt der Interviews obdachlos, sieben lebten in Notunterkünften oder Wohnheimen für Obdachlose, und die restlichen acht Personen besaßen eine eigene Wohnung. Die sozialen Hintergründe der Befragten sind durchmischt und reichen von zerrütteten bis hin zu bürgerlichen und wohlhabenden Familienverhältnissen. Sechs Personen haben keine abgeschlossene Ausbildung oder Berufserfahrung, Acht Personen waren zumindest zeitweilig in den Arbeitsmarkt integriert. Die restlichen sieben Personen sind bis zu ihrer Obdachlosigkeit durchgehend einer Vollzeitbeschäftigung nachgegangen. 17 Personen sind männlich und vier weiblich. Die Verkäuferinnen sind zwischen 20 und 70 Jahre alt und haben ein durchschnittliches Alter von 40 Jahren.

Der verwendete Interviewleitfaden bestand aus vier zentralen Themenkomplexen: 1) Stigmatisierungserfahrungen und Gefühle, abweichend kategorisiert zu werden, 2) Reaktionen auf stigmatisierende Kategorisierungen, 3) Lebensstile und Prinzipien der Lebensführung, 4) sozialer Hintergrund und Ausstattung an kulturellem und ökonomischen Kapital.

Diese vier Themenkomplexe stellten eine grobe Struktur in der Interviewsituation dar. Die tatsächliche Reihenfolge der Fragen ergab sich aus dem individuellen Gesprächsverlauf, da den Interviewten die Möglichkeit gegeben wurde, eigene Schwerpunkte zu setzen.

Um interne Abgrenzungskämpfe und symbolische Differenzierungen zu erfassen, wurde in allen Fragedimensionen nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten zu anderen Verkäuferinnen gefragt. Durch erste Erkenntnisse darüber, welche symbolischen Marker im Feld als relevant erachtet werden, wurden die einzelnen Elemente des Leitfadens im Zuge der Feldforschung erweitert. In dieser Hinsicht folgte das methodische Vorgehen den Grundsätzen der Grounded Theory (Strauss 1994), da Datenerhebung und Datenauswertung weitgehend parallel stattfanden, um die Kompatibilität der verwendeten analytischen Konzepte mit dem Forschungsfeld sicherzustellen. Auch der konzeptionelle Rahmen der Arbeit entwickelte sich im iterativen Austausch mit den ersten empirischen Ergebnissen.

Die Auswertung der Interviews folgte zwei separaten Logiken. Zunächst sollte fallübergreifend nach kollektiv geteilten, impliziten Wissensbeständen und Überzeugungen im Feld der Straßenzeitungsverkäuferinnen geforscht werden (siehe dazu Ergebnisse in Abschnitt 3). Die Interviews wurden dafür zunächst offen kodiert. Das bedeutet, dass die gebildeten Kategorien noch sehr stark der Sprache der Interviewten verhaftet blieben, um das empirische Material möglichst genau zu dokumentieren. Die gebildeten Kodes wurden schließlich abstrahiert und zu Kernkategorien zusammengefasst (Strauss 1994: 94 ff.). Bei der Bildung von Kodes wurde auch auf Theorien aus der Forschungsliteratur zurückgegriffen, sofern sich diese für die Interpretation des Materials und die Entwicklung von Kategorien als hilfreich erwiesen.

In einem zweiten Arbeitsschritt standen die systematischen Unterschiede im Stigma-Management zwischen Personen mit unterschiedlicher Kapitalausstattung im Zentrum (vgl. die Ergebnisse in Abschnitt 4). Für dieses konkrete Forschungsinteresse erfolgte ein deduktiveres Vorgehen in Form einer thematischen Kodierung (Flick 2009: 318 ff.). Das bedeutet, dass vorab festgelegte Gruppen systematisch miteinander verglichen werden sollen, da davon ausgegangen wird, dass sich deren Sichtweisen systematisch voneinander unterscheiden. In der vorliegenden Arbeit steht der Vergleich von Gruppen mit unterschiedlicher Ausstattung an ökonomischem und kulturellem Kapital im Zentrum. Die einzelnen Fälle wurden zunächst einzeln zusammengefasst, danach anhand zentraler Themenfelder (beispielsweise Verkaufsstil oder Lebensführung) miteinander verglichen und schließlich zu Typen zusammengefasst.

3 Allgemeine Charakteristika des Stigma-Managements

Alle Interviewten teilen gewisse Wahrnehmungen und Einstellungen, die auf bestimmte Besonderheiten des Feldes der Straßenzeitungsverkäuferinnen verweisen. Zum einen haben alle Interviewten ein grundlegendes Gespür und Bewusstsein dafür, dass es ein potentielles Stigma gibt und dass auf dieses reagiert werden muss (siehe Abschnitt 3.1). Zum anderen teilen sie ähnliche Einstellungen zur herrschenden symbolischen Ordnung. Die Stigmatisierung durch die Mehrheitsgesellschaft wird nicht grundsätzlich, sondern nur für sich selbst in Frage gestellt. Negative Klassifikationen von Obdachlosen bzw. Straßenzeitungsverkäuferinnen werden geteilt (siehe Abschnitt 3.2).

3.1 Stigma-Management als Balanceakt

Unter den Verkäuferinnen findet sich ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Wichtigkeit, den öffentlichen Eindruck zu kontrollieren. Bereits sehr kleine Zeichen können im Fall von (vermeintlich) Obdachlosen als große Beweise der Devianz der jeweiligen Personen umgedeutet werden. So kann beispielsweise jedes körperliche Zeichen der Verkäuferinnen zum Ausgangspunkt weitreichender Deutungen über die vermeintlichen Stigma-Trägerinnen werden. Stigmatisierte müssen deshalb besonders darauf achten, sich gekonnt zu inszenieren (Goffman 1967: 88). Das Stigma der Obdachlosigkeit besteht zu einem großen Teil in der Unterstellung physischer Verwahrlosung. Aus diesem Grund ist es für die Verkäuferinnen wichtig, ihre körperliche Erscheinung zu kontrollieren. Es dürfen keine missverständlichen Botschaften ausgesendet werden. Das Stigma der Obdachlosigkeit greift nicht erst, wenn eine Person keine eigene Wohnung besitzt, sondern vor allem durch ein bestimmtes Aussehen und Auftreten. Verkäuferinnen versuchen deshalb, in der Öffentlichkeit nicht „zu obdachlos“ zu wirken. Doch sie streben auch immer an, nicht „zu wenig obdachlos“ zu erscheinen. Es gilt, sich vom Klischee des Obdachlosen abzuheben, aber stets moderat.

Nina: Also, dass die Leute auch ein gewisses Maß an Dreck und Slum sehen wollen (…) Nicht nur, was so Waschen betrifft, sondern auch sowas, dass Leute sagen: „Der hat doch zu gute Schuhe, um obdachlos zu sein!“ oder „Der hat es gar nicht nötig, so wie der aussieht!“ Ein gewisses Misstrauen irgendwie immer da ist. (…) Umgekehrt ist es aber auch so, dass Leute sehr skeptisch sind, wenn Leute lange Haare haben und nen Bart oder halt irgendwie dreckige Sachen anhat, ist er auch schon wieder abgestempelt, also dass er halt zu obdachlos aussieht. (1047–1076)

Obdachlosigkeit wird von Nina nicht binär klassifiziert, sondern graduell quantifiziert. Es besteht die Gefahr, „zu wenig“ oder „zu stark“ obdachlos zu erscheinen. Der Auftritt als Verkäuferin von Obdachlosenzeitungen stellt dadurch einen komplexen Balanceakt dar. Verkäuferinnen können sich in der Öffentlichkeit nicht einfach radikal vom Stigma der Obdachlosigkeit distanzieren, indem sie möglichst viele Normalitäts-Symbole adaptieren. Stigma-Trägerinnen müssen auch bestimmte Erwartungen erfüllen, die die Gesellschaft an sie als Stigmatisierte heranträgt. Zu viel Normalität wird ihnen nicht zugestanden. Stigma-Management wird damit zu einem Drahtseilakt. In den Interviews wird oftmals hervorgehoben, dass es auf das richtige Verhältnis zwischen Normalität und Stigma ankommt. Es wird ein Mittelmaß aus diesen beiden Extremen beschworen. So hat Franzi beispielsweise das Gefühl, dass sie keine Zeitungen verkauft, wenn sie zu gut angezogen ist, aber auch nicht, wenn sie zu schlecht angezogen ist.

Franzi: Wenn ich ordentlich angezogen bin, krieg ich gar nichts und wenn ich stinke, krieg ich halt auch nichts, ich muss halt irgendwie so wie jetzt und dann krieg ich halt was. (Interview Franzi & Günther: 328–331)

Auch Igor muss sich intensiv mit diesem Akt des Balancierens auseinandersetzen. Da er auf sein Äußeres achtet, wird er von vielen seiner Mitstreiterinnen als arrogant und blasiert beschrieben. Er trägt ein Polo-Shirt, hat blonde Strähnen und redet in einem nasalen Ton. Dieses Verhalten ist nicht ungewöhnlich, aber es erscheint für Verkäuferinnen von Straßenzeitungen eher als außergewöhnlich. Eitelkeiten werden dieser Gruppe nicht vollends zugestanden. Igor ist sich dieser Gefahr bewusst. In seiner Freizeit trägt er eine Sonnenbrille am Hemdkragen. Doch wenn er Zeitungen verkauft, vermeidet er diesen Auftritt und steckt die Sonnenbrille in seine Hosentasche.

Igor: Also, man muss schon gucken, dass man nicht das Goldarmband um hat oder zu gut aussieht. Deshalb mache ich die Brille auch immer da hin – das ist keine tolle Brille – aber Sonnenbrille sieht immer so aus, als ob man immer ein bisschen Geld hat, irgendwie sieht man gerade so aus, als ob man gerade ein bisschen Urlaub hat oder irgendwie so. (…) Irgendwann hab ich das gelernt, auffällig zu sein zwar, aber auf der anderen Seite auch … also auffällig unauffällig. (Interview Igor: 403–413)

Igor hat Angst, dass die Sonnenbrille ein Bild von ihm nach außen vermittelt, das nicht kongruent ist mit seiner Rolle als Straßenzeitungsverkäufer. Er möchte zwar gut aussehen, aber gleichzeitig auch immer „unauffällig“ bleiben.

Auch das Ablehnen von Sachspenden stellt eine heikle Angelegenheit dar. Einige Verkäuferinnen wollen keine derartigen Zuwendungen, trauen sich aber auch nicht, sie abzulehnen. Diese Verweigerung könnte den Anschein von Undankbarkeit entstehen lassen. So erzählt beispielsweise Leo davon, dass er Spenden immer freundlich und dankbar entgegen nimmt, aber heimlich entsorgt.

Leo: Nur, ich hab das immer aus Freundlichkeit gemacht dem Anderen gegenüber. Das ist so auch mit den Klamotten. Wenn mir zum Beispiel ein alter Herr seine Klamotten schenkt, die kann ich nicht anziehen so. Also, weil das keine Baumwoll-Sachen sind und so, und was will ich mit Anzughosen oder so? Dann nehme ich die zwar an, aber tu die dann auch entsorgen. (…) Ich spiel den Leuten den glücklichen Penner vor. (Interview Leo: 412–419)

Auch wenn es normal ist, einen gewissen Geschmack zu haben und nicht alle Kleidungsstücke bedingungslos anziehen zu wollen, wird Obdachlosen das Wählerisch-Sein nicht zugestanden. Leo muss sich den Rollenerwartungen an Straßenzeitungsverkäuferinnen fügen. Er spielt seiner Umwelt deshalb „den glücklichen Penner“ vor, indem er gezielt Demut, Genügsamkeit und Dankbarkeit nach außen repräsentiert.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das körperliche Auftreten in Interaktionen eine zentrale Rolle im Feld der Straßenzeitungsverkäuferinnen spielt. Sie müssen sich gleichzeitig als normal und als nicht zu normal darstellen, da Normalität Stigma-Trägerinnen nur begrenzt zugestanden wird. Die Verkäuferinnen scheinen es hier mit einem ganz bestimmten Rahmen (Goffman 1977) zu tun haben. Dieses Konzept beschreibt jene Sinngrenzen, die den Interaktionen jeweils zu Grunde liegen. Nur durch das Kennen des Rahmens kann überhaupt angemessen gehandelt werden. Alle Verkäuferinnen sind sich dieses Rahmens bewusst und wissen, dass sie bestimmte Erwartungen zu erfüllen haben. Alle Interviewten erkennen zudem die Wichtigkeit gezielter Darstellungen an. Bestimmte Zeichen können schnell zu ihrem Nachteil gedeutet werden und bestimmte Verhaltensweisen werden Straßenzeitungsverkäuferinnen nicht gestattet. Deshalb gilt es, den Eindruck in der Öffentlichkeit zu kontrollieren.

3.2 Interne Differenzierung

Unter Verkäuferinnen von Obdachlosenzeitungen überwiegen individualistische Strategien des Stigma-Managements gegenüber kollektivistischen Strategien. Die Verkäuferinnen differenzieren sich gegenseitig danach, wie sehr das Stigma jeweils zuzutreffen scheint. Bereits Goffman weist interne Stigma-Nuancierung als eine gängige Strategie des Stigma-Managements auf, welche die herrschende symbolische Ordnung nicht in Frage stellt, sondern lediglich die persönliche Stellung innerhalb dieser herrschenden symbolischen Ordnung (Goffman 1967: 15 f.). Es wird kaum in der „Wir-Form“ über das Stigma gesprochen, sondern stets in individualisierter Form. Symptomatisch zeigt sich dies in „zwar-aber-Formulierungen“. Sie gestehen zwar bestimmte negative Attribute ein, machen aber darauf aufmerksam, dass Andere noch weitaus negativere Eigenschaften aufweisen. So gibt Daniel zwar zu, dass er selbst auch zu jenen Verkäuferinnen gehört, die obdachlos sind, aber er sei im Gegensatz anderen Obdachlosen dazu in der Lage, sich zu pflegen.

Daniel: Auch wenn ich auf der Straße lebe, sagen wirs mal so, denke ich dran, mich zu pflegen zum Beispiel. Die machen das nicht oder machen es nur wenig (Interview Daniel: 334–337)

Auch Franzi und Günther betonen, dass sie zwar sehr viel Alkohol trinken, sich aber im Gegensatz zu anderen Abhängigen noch unter Kontrolle haben. Sie grenzen sich von jenen Verkäuferinnen ab, die während der Arbeit trinken und in stark alkoholisiertem Zustand Leute ansprechen. Franzi und Günther achten im Gegensatz zu diesen Personen immer darauf, am „Schnorrplatz“ keinen Alkohol zu trinken und Arbeit und Freizeit somit strikt voneinander zu trennen.

Franzi: Die Leute wissen, dass wir kein Bier trinken und die Leute wissen, dass, wenn wir trinken, dann nicht am Schnorrplatz! Also die finden es gut. Also die Leute, die wissen, wir setzen uns um die Ecke. Aber wir trinken das nicht am Schnorrplatz!! (Interview Franziska und Günther: 431–435)

Die interviewten Straßenzeitungsverkäuferinnen heben auch oftmals ihre Verkaufstätigkeit positiv hervor. Ihnen ist es wichtig zu zeigen, dass sie aktiv sind und sich selbst versorgen. Sie sprechen dabei aber stets nur von sich selbst und nicht von den Tugenden der ganzen Gruppe der Straßenzeitungsverkäuferinnen.

Jan: Mir ist es schon wichtig, nicht auf der faulen Haut zu sitzen. Hilfe zur Selbsthilfe ist da mein Satz. (Interview Jan: 428–429)

Aufgrund dieses Stellenwerts der Verkaufstätigkeit grenzen sich viele Verkäuferinnen von Obdachlosen und sozial Bedürftigen ab, die keine Zeitungen verkaufen. Aber auch hier werten sie nicht die Gruppe der Verkäuferinnen auf, sondern heben ihre persönliche Leistung gegenüber Nicht-Verkäuferinnen hervor. Das Besuchen von Suppenküchen oder Bahnhofsmissionen wird kategorisch abgelehnt. Direkt gegenüber der Ausgabestelle der Zeitungen befindet sich zwar eine Bahnhofsmission. Trotz der räumlichen Nähe könnte die symbolische Entfernung zwischen diesen beiden Örtlichkeiten bzw. Einrichtungen kaum größer sein. Personen, die Zeitungen verkaufen, besuchen nicht die Bahnhofsmission und Besucherinnen der Bahnhofsmission verkaufen keine Zeitungen. An der Bahnhofsmission tummeln sich tatsächlich viele, die allgemeinen Klischees über Obdachlose sehr stark entsprechen: Zerlumpte Kleidung, schmutzig, stinkend oder teilweise betrunken. Viele Obdachlose schlafen hier tagsüber mitsamt ihren eingetüteten Habseligkeiten. Entlang des S-Bahnbogens riecht es stark nach Urin. Zu den Stoßzeiten steht vor dem Eingang der Mission eine lange Schlange, die Stimmung ist oft gereizt. Immer wieder kommt es zu kleineren handgreiflichen Auseinandersetzungen. Für die Verkäuferinnen stellen die Besucherinnen der Bahnhofsmission die „wahren Obdachlosen“ dar. So betont beispielsweise Aya, dass sie nicht zur Bahnhofsmission geht, sondern sich durch den Verkauf von Zeitungen ihr eigenes Essen leisten kann. Die Besucherinnern der Bahnhofsmission seien hingegen aufgrund ihres desolaten Zustands gar nicht in der Lage, Zeitungen zu verkaufen.

Aya: Ich geh nicht an der Bahnhofsmission essen, weil ich verkauf ja Zeitungen, sprich, ich kann mir mein eigenes Essen kaufen. Warum muss ich den Leuten, die gar nichts zu essen haben, weil die nicht mal ne Zeitung kriegen, weil denen keiner eine Zeitung abkauft, weil sie stinken nach Scheiße und nach Pisse … (Interview Aya & Bernd: 851–857)

Vereinsmitarbeiterinnen der Straßenzeitung haben schon oft versucht, die Besucherinnen der Bahnhofsmission davon zu überzeugen, auch Zeitungen zu verkaufen. Doch sie scheuen sich gerade aufgrund ihrer Obdachlosigkeit davor, in der Öffentlichkeit aufzutreten. Obdachlose, die keine Zeitungen verkaufen, wurden nicht systematisch interviewt, sondern „nur“ in kleinen informellen Gesprächen zu ihrer Entscheidung befragt. Dennoch scheint es hier zu einer Form von Stigma-Management durch Selbststigmatisierung zu kommen. Sie akzeptieren und internalisieren negative Klassifikationen und bestätigen diese durch ihre Scham. Diese Internalisierungen negativer Klassifikationen lassen sich durch Neckels Konzept sozialer Scham (Neckel 1991) und Bourdieus Konzept symbolischer Gewalt (Bourdieu 2005: 69 ff.) einordnen. Gesellschaftlich unterprivilegierte soziale Stellungen übersetzen sich in Gefühle der Scham und Praxen der Selbstexklusion. Im Feld der Straßenzeitungsverkäuferinnen werden sie durch die Akzeptanz ihrer Minderwertigkeit zu den „wahren“ Obdachlosen degradiert. Damit zeigt sich, dass die Verkäuferinnen nicht mit der herrschenden Sicht der Dinge brechen. Die Stigmatisierung von Obdachlosen wird grundsätzlich anerkannt. Gesellschaftliche Werte der Aktivität und Unabhängigkeit sind in diesem Feld ähnlich verbreitet wie in der restlichen Gesellschaft. Straßenzeitungsverkäuferinnen managen nur ihr eigenes Stigma, nicht das ihrer Gruppe. Anstatt ihre in-group aufzuwerten, versuchen sie, ihre eigene Stellung innerhalb dieser zu verbessern bzw. sich selbst der out-group der „Normalen“ zuzuordnen (Tajfel & Turner 1986: 19).

4 Typen des Stigma-Managements

Die Gruppe der Straßenzeitungsverkäuferinnen ist sehr heterogen. Manche sind obdachlos und vom Zeitungsverkauf existentiell abhängig. Andere bekommen Hartz IV, haben eine eigene Wohnung und wollen sich durch das Verkaufen sporadisch etwas dazuverdienen. Auch die sozialen Hintergründe und Lebensbedingungen vor der Obdachlosigkeit unterscheiden sich zwischen den Verkäuferinnen stark. Es gibt Interviewte, die in sehr prekären und zerrütteten Familienverhältnissen aufgewachsen sind, aber auch solche, die ganz „normale“ Bildungs- und Berufsbiographien vorzuweisen haben. Aufgrund dieser starken sozialen und materiellen Ungleichheiten variieren Lebensstile, Verkaufsstile sowie Strategien des Stigma-Managements zwischen den Verkäuferinnen. Diese systematischen Unterschiede sollen im Folgenden anhand von drei Typen zusammengefasst werden: Stigma-Umdeutung, Stigma-Ignoranz und Stigma-Distanzierung.

4.1 Stigma-Umdeutung – Die Konstruktion von Normalität

Bei Vertreterinnen des Typs der Stigma-Umdeutung handelt es sich um jene Verkäuferinnen mit der niedrigsten Ausstattung an ökonomischem und kulturellem Kapital unter den Befragten. Sie kommen aus zerrütteten familiären Verhältnissen und haben oftmals bereits als Jugendliche Erfahrungen mit häuslicher Gewalt oder Drogen gemacht. Alle Verkäuferinnen dieses Typs sind obdachlos, einige von ihnen sind zur Zeit der Feldforschung auch alkohol- oder drogenabhängig. Sie sind unter den Befragten am stärksten mit Stigmatisierungen konfrontiert.

Ihr Stigma-Management zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie ihre Lebensumstände positiv umzudeuten versuchen. Sie versuchen sich zwar auch, wie alle anderen Verkäuferinnen, von Stereotypen über Obdachlose abzugrenzen (siehe dazu Abschnitt 3.), doch ihre sozialen Lebensumstände werden beschönigt. So romantisiert beispielsweise Franzi ihre Unabhängigkeit in der Obdachlosigkeit. Sie und andere Angehörige dieses Typs wollten zwar niemals obdachlos werden, haben sich aber mit ihrer Situation arrangiert. Franzi erzählt davon, dass sie auf der Straße ihr Leben selbstbestimmt und in Freiheit ausleben kann.

Franzi: Hier bin ich für mich, hier habe ich meine Freiheit. Hier kann ich machen, was ich will oder das, was ich denke, das richtig ist. Muss auf keinen achten und alles und muss auf mich keiner achten und so … Wir achten auf uns und das war es. (Interview Franzi und Günther: 613–617)

Werte wie Freiheit, Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit nehmen einen großen Stellenwert ein. Aus diesen Grund werden auch öffentliche Einrichtungen wie Suppenküchen oder Notübernachtungen abgelehnt. Dort würden Obdachlose oftmals bevormundet, und es ist den Verkäuferinnen wichtiger, unabhängig zu sein, als zumindest ab und zu Übernachtungsmöglichkeiten in Anspruch nehmen zu können. Sie deuten Lebensumstände, die gemeinhin als mangelhaft angesehen werden, positiv um. David lebt beispielsweise in einem selbst aufgebauten Zeltlager in einem Wald außerhalb Berlins. Dieses Provisorium sieht er als sein eigenes Reich an, wo ihm niemand etwas vorschreiben oder befehlen kann.

David: Aber wie gesagt – für mich zählt vor allem, dass ich Abends mein warmes Essen habe, mir keine Sorgen mache, dass ich nass werde und meine Tür bzw. mein Zelt zumachen kann und dann war’s das. Hauptsache, ich hab meine Ruhe, das sind dann meine eigenen vier Wände. Da kann mich keiner rausschmeißen, da kann keiner sagen: „Jetzt geh!“ (Interview David: 618–625)

Trotz sehr prekärer Lebensumstände interpretiert er sein Zelt als seine „eigenen vier Wände“. Auch andere Werte wie Ruhe, Freiheit und Bescheidenheit kompensieren für fehlende bürgerliche Habseligkeiten. In Anbetracht fehlender materieller Ressourcen deuten Vertreterinnen dieses Typs ihre Lebenssituationen um und stilisieren immaterielle Werte. Nina beschreibt ihre Lebensumstände zwar als beschwerlich, doch mit der richtigen Lebenseinstellung sei es dennoch möglich, diesen etwas abgewinnen zu können.

Nina: (…) dass es im Buddhismus heißt, dass Leben Leiden heißt, aber es dennoch darum geht, jedem Tag etwas abgewinnen zu können. Und wenn ich jetzt einfach nur der Scheiße etwas abgewinne musste, hab ich dennoch dem Tag etwas abgewinnen können. (Interview Nina: 660–666)

Diese Ergebnisse decken sich mit anderen Forschungsarbeiten über das Selbstbild unterprivilegierter sozialer Gruppen. So beschreibt Bourdieu (1982) die Tendenz von Angehörigen der Unterschicht, ihre eingeschränkten Konsummöglichkeiten als selbstgewählt zu betrachten als „amor fati“, also als „Liebe zum Schicksal“ (ebd.: 285 ff.). Lamont (2000) zeigt, dass Angehörige der Unterschicht moralische Werte nutzen, um sich von ökonomisch privilegierteren Schichten abzugrenzen.

Vom Stigma-Management im engeren Sinne durch das Konstruieren positiver Selbstbilder lässt sich das konkrete Konsum- und Freizeitverhalten unterscheiden. Dieses zeichnet sich bei diesem Typus dadurch aus, dass es kaum Freizeit gibt. Die Arbeit dominiert. Der Alltag wird stark durch die eigene ökonomische Not strukturiert. Die Befriedigung unmittelbarer Bedürfnisse steht im Mittelpunkt. Sie müssen Tag für Tag Geld erwirtschaften, um das physische Überleben sicherstellen zu können. Sie beginnen fast jeden Tag vollkommen ohne Geld. Für den Ankauf der Zeitungen benötigen die Verkäuferinnen 60 Cent pro Exemplar, welche sie dann für einen Preis von 1,50 Euro verkaufen können. Angehörigen dieses Typs fällt es schwer, dieses Geld am Anfang des Tages aufzubringen, da sie in der Regel für den nächsten Tag nicht vorplanen. Die 60 Cent müssen sie sich dann am Beginn ihres Arbeitstages ausleihen. Sie arbeiten jeden Tag für eine bestimmte Summe, die sie bis zum Ende des Tages wieder ausgegeben haben. Die Notwendigkeit, ständig arbeiten zu müssen, dominiert das Leben dieses Typus. Vor allem Personen, die drogenabhängig sind, beschreiben ihr Leben als einzige große Sisyphos-Arbeit. So besteht das Leben auch für Nina, die drogenabhängig ist, aus einem Teufelskreis aus „Geld-Machen“ und Drogen nehmen. In jeder freien Minute ihres Lebens verkauft sie Zeitungen, um sich ihre Drogensucht zu finanzieren.

Nina: Aber ich habe eigentlich nicht sehr viel Freizeit. Naja jetzt … aber wenn ich denn Freizeit habe, dann geh ich mit meinem Freund herum und wir chillen ein bisschen so. Aber … sonst besteht das Leben wirklich aus Geld-Machen (…) so funktioniert das Leben eines Junkies. Geld machen für Drogen, Drogen nehmen, Geld machen für Drogen. (Interview Nina: 972–980)

Bedingt durch ihre größere materielle Not unterscheiden sich die Angehörigen dieses Typs auch durch einen spezifischen Verkaufsstil von ihren Kolleginnen. Sie wollen nicht wirklich Obdachlosenzeitungen verkaufen, sondern hoffen auf kleinere Geld- und Sachspenden. Die Zeitung wird eher symbolisch eingesetzt. Das zeigt sich zumeist auch daran, dass beim Verkaufen oftmals nur eine einzige Zeitung vorhanden ist. Wenn Kundinnen von Franzi und Günther, anstatt zu spenden, nach der Zeitung fragen, machen die beiden höflich darauf aufmerksam, dass es sich hierbei um ihre letzte Zeitung handele, sie diese ungern verkaufen würden und sich sehr über eine kleine Spende freuen würden.

In den Interviews wurden alle Verkäuferinnen danach gefragt, wie viele Zeitungen sie pro Tag verkaufen. Angehörige dieses Typus haben meist darauf aufmerksam gemacht, dass diese Frage irrelevant sei. So machte Olaf darauf aufmerksam, dass die Anzahl von verkauften Zeitungen nicht von Bedeutung sei, da es vor allem darum gehe, Geld- und Sachspenden zu erwirtschaften. Die Zeitung hat Olaf meist nur unter den Arm geklemmt, während er Passanten direkt nach einem kleinen Geldbetrag fragt.

Interviewer: Wie viele Zeitungen verkaufst Du eigentlich am Tag? Also, wenn Du so acht Stunden arbeitest oder so?

Olaf: Aber die verkauf ich doch gar nicht, die hab ich doch immer nur dabei, Manchmal benutz ich die Zeitung auch gar nicht, sondern ich frag gleich nach 20, 30 Cent. Weil ich hab sie … ich halt sie auch in der Hand. (Interview Olaf: 856–859)

Die Zeitungen sind für die Verkäuferinnen dennoch von enormer Bedeutung. Sie werden mitgetragen und vorgezeigt, da sie dazu in der Lage sind, ihre öffentlichen Auftritte zu legitimieren. Viele betonen, dass es für sie leichter ist, nach Spenden zu fragen, ohne mit vollkommen leeren Händen dazustehen. Die Straßenzeitung wird mitgeführt, um die Illusion zu erzeugen, etwas bieten zu können. Im Vergleich zu ihren Mitstreiterinnen verdienen sie am wenigsten und geben sich auch mit sehr kleinen Beträgen zufrieden.

4.2 Stigma-Ignoranz – Stilisierung der eigenen Normalität

Die Vertreterinnen dieses Typs stehen in starkem Kontrast zum Typus der Umdeutung. Während Letztere aus vergleichsweise zerrütteten sozialen Verhältnissen kommen, haben Angehörige des Typs der Stigma-Ignoranz zumeist eine relativ normale Bildungs- und Erwerbsbiographie hinter sich. Im Feld der Straßenzeitungsverkäuferinnen sind sie mit dem größten kulturellem und ökonomischen Kapital ausgestattet. Sie haben einen Schulabschluss, Berufsausbildungen, waren viele Jahre arbeitstätig und haben ein „normales“ Leben geführt, bevor sie durch einschneidende Erlebnisse wie Erkrankungen oder Arbeitslosigkeit aus der Bahn geworfen wurden und Obdachlosigkeitserfahrungen gemacht haben. Diese Erlebnisse liegen oftmals bereits viele Jahre zurück, und mittlerweile haben alle Vertreterinnen dieses Typs wieder eine eigene Wohnung und beziehen Hartz IV. Sie beschreiben das Verkaufen der Straßenzeitungen nicht als materielle Notwendigkeit, sondern als Zuverdienst.

Während Angehörige des Typs der Stigma-Umdeutung ihre prekären sozialen Lebensbedingungen positiv umwerten, zeigt sich der Typ der Stigma-Ignoranz von potentiellen Stigmatisierungen unberührt. Die Vertreterinnen dieses Typs nehmen zwar Stigmata in ihrer Kollegenschaft wahr, fühlen sich aber nicht selbst von diesen betroffen. Die Verkäuferinnen geben sich in Interviews zumeist sehr gelassen, cool und locker. Sie sind vom Stigma der Obdachlosigkeit so weit entfernt, dass sie gar keine Notwendigkeit dafür sehen, sich zum Stigma verhalten zu müssen. Das zeigt sich bei Martin, der sich weigert, die Frage nach negativen Erfahrungen überhaupt als eine für ihn relevante Frage zu akzeptieren. Er sieht sich überhaupt nicht mit einem bestimmten Stigma konfrontiert und auch von seiner Kundschaft würde der Makel der Obdachlosigkeit überhaupt nicht diskutiert.

Interviewer: Stört dich das, mit Vorurteilen gegenüber Obdachlosen konfrontiert zu werden?

Martin: Nö, da fühle ich mich damit nicht konfrontiert.

Interviewer: Warum?

Martin: Ich mache mir darüber nicht so Gedanken. (…) Obdachlosigkeit wird da eigentlich gar nicht so thematisiert von der Kundschaft. (Interview Martin: 279–293)

Die Vertreterinnen dieses Typs geben sich bewusst cool. Emotionale Geschichten über vergangene Obdachlosigkeitserfahrungen oder über den Alltag als Straßenzeitungsverkäuferin sind von ihnen niemals zu hören. Ihr Stigma-Management besteht darin, sich demonstrativ gelassen und vom Stigma unberührt zu zeigen. Richard versucht, sich nicht mit aller Kraft vom Stigma der Obdachlosigkeit zu distanzieren, sondern mit Lockerheit, Selbstbewusstsein und Coolness. Wenn er beim Verkaufen negative Erfahrungen macht, bleibt er gelassen und nimmt es mit Humor.

Richard: Vor Jahren hat einer zu mir gesagt: „Halts Maul!“ Nicht? Als ich dann bei ihm war, hab ich gesagt: „Entschuldigung, ich heiße nicht Maul!“ (Lacht). (Interview Richard: 405–407)

Zudem beginnt Richard seine Verkaufstätigkeit oftmals mit dem Spruch: „So, jetzt machen wir mal wieder ein bisschen Krach!“ Auch damit distanziert er sich ironisch vom Klischee des nervigen und herumbrüllenden Straßenzeitungsverkäufers. Er macht klar, dass er das Stigma in Bezug auf sich selbst nicht ernst zu nehmen braucht.

Beim Verkaufen der Zeitungen sind sie mit Abstand am erfolgreichsten. Sie verkaufen mit großer Lockerheit, Humor und Eloquenz. Sie fühlen sich ihren Mitstreiterinnen in dieser Angelegenheit überlegen und betrachten diese paternalistisch als nicht ernst zu nehmende Konkurrenz. Auch Richard hält nur Verkäuferinnen, die mit ihm „auf einer Stufe stehen“ für Konkurrentinnen.

Richard: Als Konkurrenz bezeichne ich Leute, die zumindest mit mir auf einer Stufe stehen, nicht? Die was ihr Produkt verkaufen wollen, die Höflichkeitsformen beherrschen, das ist alles, was dazugehört. Das andere sind für mich nur Mitstreiter, die machen können, was sie wollen. (Interview Richard: 169–174)

Ihr gepflegtes, lockeres und eloquentes Auftreten signalisiert eine große Distanz zum Stigma der Obdachlosigkeit. Dadurch zeigt sich, dass Bedürftigkeit für die Mehrzahl der Passantinnen nicht das entscheidende Kriterium darstellt, um Verkäuferinnen Zeitungen abzukaufen. Für dieses Phänomen hat Emil auch eine Erklärung: Es gehe den Kundinnen nicht darum, wer das Geld am dringendsten braucht, sondern wer damit am vernünftigsten umzugehen verspricht. Wie bereits beschrieben, besteht das Stigma der Obdachlosigkeit auch in der Unterstellung pathologischer Konsummuster. Das Signalisieren eines verantwortungsvollen Lebensstils ist für Verkäuferinnen von Straßenzeitungen von großer Bedeutung und gelingt den Vertreterinnen des Typs der Stigma-Ignoranz besonders gut.

Emil: Füttere kein Pferd, das du nicht reiten kannst. Der Spruch trifft das so ungefähr. Also die Leute, die wirklich ganz, ganz, ganz extrem weit unten sind (…), die haben größere Schwierigkeiten, Geld zusammenzukriegen, weil man denen Leuten dann ansieht, Alkohol oder Drogen, da fragt man sich gar nicht mehr, warum die so weit … also die tun nichts Gutes mit dem Geld. Bei mir mit meinem Auftreten, mit meinem Aussehen, wo ich mich doch immer ein wenig abhebe, schon auch nicht zu gut auszusehen! Aber immer so: „Mensch, Sie sehen ja gar nicht obdachlos aus!“ Ja? (Interview Emil: 1153–1166)

Da niemand leichtfertig Geld ausgibt, ist es wichtig, dass Spendenempfängerinnen sich als eine gute Investition darstellen. Vertreterinnen des Typs der Stigma-Ignoranz wird am ehesten zugetraut, verantwortungsvoll mit Geld umgehen zu können.

Auch das Konsum- und Freizeitverhalten von Vertreterinnen der Stigma-Ignoranz unterscheidet sich diametral von dem Typus der Stigma-Umwertung. Während diese sich den ganzen Tag um ihre materielle Reproduktion bemühen müssen, betonen Angehörige des Typs der Stigma-Ignoranz, dass sie in ihrer Freizeit ganz normalen Hobbies nachgehen und in Kinos, Konzerte und Restaurants gehen, sich mit Freunden treffen und hie und da auch kleine Urlaube innerhalb Deutschlands machen. Das Geld, das sie durch den Verkauf von Straßenzeitungen erwirtschaften, nutzen sie, um sich diese kleinen Annehmlichkeiten leisten zu können. Für Timo besteht das Leben aus mehr als aus bloßem Überleben, und es ist ihm wichtig, sich auch mal etwas gönnen zu können.

Timo: Weil für mich Leben nicht nur aus Essen und Trinken und Schlafen besteht, sondern auch mal aus Kino und auch ne Freundin einladen, Essen zu gehen, ins Kino zu gehen und das ist dann viel Geld für den ALG II-Empfänger. Und das verdiene ich mir darüber. (Interview Timo: 27–32)

Ein weiterer großer Unterschied zum Typus der Stigma-Umdeutung besteht im Verkaufsstil. Während Vertreterinnen des Typs der Stigma-Umdeutung die Zeitungen als Symbole einsetzen, stellen diese für den Typus der Stigma-Ignoranz ökonomische Waren dar. Sie wollen ihre Verkaufstätigkeit als ökonomische Arbeit bzw. als Dienstleistung verstanden wissen. Der Verkaufsprozess wird in ökonomischen Termini gefasst, während der symbolische Einsatz der Zeitung als eine Form des Bettelns stark abgelehnt wird.

Paul: Die Zeitung wird meistens, meiner Ansicht nach, zu 80 Prozent missbraucht, um zu betteln. Und das wirst Du schon daran merken, wenn bei den meisten, die eine Zeitung anbieten, bald der Satz kommt ‚oder eine kleine Spende‘. Der Grundgedanke dieser Zeitung war ja eigentlich, dass sie etwas leisten und dafür eine Gegenleistung bekommen, in Geld. (…) Das Hauptgeschäft von denen ist das Betteln, nicht die Zeitung. (Interview Paul: 73–92)

Wenn Vertreterinnen des Typs der Stigma-Ignoranz von Passantinnen Spenden bekommen, werden diese zumeist abgelehnt. Manchmal werden die Spendengelder zwar auch akzeptiert, aber den Spenderinnen wird dennoch ungefragt eine Zeitung in die Hand gedrückt. Während der Typ der Stigma-Umwertung durch die Straßenzeitung die Illusion erzeugen will, etwas bieten zu können, will der Typ der Stigma-Ignoranz die Illusion erzeugen, dass es sich um eine normale Transaktion handle. So beschreibt auch Paul, dass er Geld nicht aus sozialen Gründen bekommen möchte, sondern damit seine Arbeit honoriert werde.

Paul: Ich möchte nicht das Gefühl, dass der Kunde da zu mir kommt aus sozialen Gründen. Und wenn einer die Zeitung nicht haben will, geb ich sie trotzdem. Ich brauch das für mich selber als Selbstwertgefühl. Er sagt, ich will sie nicht haben, Geld kriegst Du aber. Da sag ich ‚Nein, ich mach das nicht. Das ist mein Beitrag. Und das wird auch honoriert. (Interview Paul: 405–413)

Während der Typus der Stigma-Umdeutung beim Verkaufen der Zeitung über die eigene ökonomische Situation redet, sprechen die Angehörigen der Stigma-Ignoranz nur über die Zeitung. Von Verkäuferinnen, die ihre eigene materielle Situation beim Verkaufen hervorheben, grenzen sie sich ab.

Timo: Ich bin nicht breit besoffen in den Bahnen, jammere nicht, dass ich eine kranke Oma und ein kaputtes Bein habe, weil das ist ja völlig variabel austauschbar. Das wollen die Leute auch nicht hören. Ich stell die Zeitung vor (Interview Timo 72–76)

Ihr Stil des Verkaufens ist nicht zuletzt dadurch legitimer als jener der anderen Verkäuferinnen, weil sie frei von existentiellen Nöten Zeitungen verkaufen. Sie strahlen große Lockerheit aus und verfügen zudem über Umgangsformen wie Unaufdringlichkeit, höfliche Distanz und Charme, die nicht Teil des Habitus der anderen Verkäuferinnen ist. Sie haben das gewisse Etwas. Sie fragen nicht direkt nach Geld, sondern können beeindruckende Performances darbieten. Sie erzählen eloquent von den Artikeln der Zeitung, rezitieren Gedichte, machen Witze und gehen individuell auf die Passantinnen ein.

Paul: Natürlich, aber ich mach das anders. Ich habe ein ganzes Programm wie ein Alleinunterhalter und das Anbieten der Zeitung kommt ganz zum Schluss. Zum Beispiel bei Dir mit dem Bart hätt ich dann nen Spruch drauf, oder bei einem so, beim andern so. Ich stell mich jeweils auf die Person ein, die ich gerade sehe. Und da mach ich einen Spruch oder ein schönes Gedicht, dann hab ich meistens viel Gelächter dabei, da wird viel gelacht (Interview Paul: 393–401)

Der Typus der Stigma-Ignoranz verfügt über relativ privilegierte Instrumente des Stigma-Managements. Sein ökonomisches Kapital ermöglicht ihm Lockerheit und eine Distanz zu existentiellen Nöten. Sein kulturelles Kapital kann er in Form von Eloquenz und Charisma im Feld der Straßenzeitungen verwerten.

4.3 Stigma-Distanzierung – Einfach nur normal sein wollen

Die Praktiken dieses Typs bewegen sich zwischen den beiden Polen der Stigma-Umwertung und der Stigma-Ignoranz. Das betrifft zunächst ihre sozialen Hintergründe: Angehörige dieses Typs kommen aus sehr einfachen Verhältnissen, jedoch nicht aus derart zerrütteten Familienverhältnissen wie Angehörige des Typs der Stigma-Umwertung. Gleichzeitig waren sie aber nie so stark gesellschaftlich integriert wie Vertreterinnen des Typs der Stigma-Ignoranz. Zum Zeitpunkt der Interviews waren sie zwar nicht obdachlos, besaßen aber auch keine eigene Wohnung, sondern lebten zumeist in Notunterkünften oder Wohnheimen für Obdachlose.

Ihr Stigma-Management zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich vom Stigma der Obdachlosigkeit durch aktives Streben nach Normalität zu distanzieren versuchen. Es finden sich bei allen Verkäuferinnen Abgrenzungen vom Stigma der Obdachlosigkeit (dazu Kapitel 3). Aber nur bei diesem Typus wird die radikale und eifrige Distanzierung vom Stigma der Obdachlosigkeit zur zentralen Lebensaufgabe. Sie zeigen mehr Normalitäts-Ansprüche als der Typ der Stigma-Umdeutung, allerdings können sie sich nicht derart leichtfüßig als normal stilisieren wie der Typ der Stigma-Ignoranz. Sie müssen um ihre Normalität kämpfen und zeigen, dass sie aktiv und bemüht sind, sich anzupassen. Sie suchen rastlos nach Wohnungen und Jobs, gehen sorgsam mit ihrem Geld um und versuchen sogar, Teile ihrer erwirtschafteten Profite für die Zukunft zu sparen.

Stefan: Ich bringe jeden Tag X[8] Euro aufs Sparbuch, davon gehen X Euro an meinen Sohn, die ich dann einmal im Monat weggebe. Im Monat sind das dann X Euro, die ich abgebe, und dann habe ich halt noch jeden Tag X Euro, die ich behalte, wenn mal irgendwas ansteht, was ich brauche. Damit ich auch eine Rücklage habe. Nur weil ich auf der Straße bin, kann ich trotzdem sparen. (Interview Stefan: 73–81)

Während der Typus der Stigma-Umdeutung nur solange arbeitet, bis jenes Geld erwirtschaftet wurde, welches zur physischen Reproduktion benötigt wird, und der Typus der Stigma-Ignoranz nur sporadisch für einen kleinen Dazuverdienst arbeitet, verkauft der Typus der Stigma-Distanzierung sehr regelmäßig Zeitungen. Er betont, dass er einen strikt durchorganisierten Tagesablauf hat. Stephan arbeitet jeden Tag zu den gleichen Zeiten und achtet darauf, früh schlafen zu gehen, um am nächsten Tag ausgeruht die Arbeit in Angriff nehmen zu können.

Stefan: Ich lebe nicht in den Tag hinein. Ich gehe jeden Tag arbeiten. Erstmal sieben Stunden am Stück. Dann mache ich Pause zu Mittag und danach gehe ich nochmals weiter arbeiten zwei oder drei Stunden. Danach ist Feierabend. Dann ist Freizeit angesagt. (…) So … und danach geht man auch schon früh pennen, weil man morgen um 6:00 Uhr aufstehen muss. Dann guckt man, dass man abends früh pennen kann, damit man fit ist. (Interview Stefan: 90–100)

Beim Verkaufen der Zeitungen sind sie nicht derart erfolgreich wie der Typus der Stigma-Ignoranz. Während dieser das Verkaufen zum Teil sehr selbstbewusst als einfache Angelegenheit beschreibt, betonen Vertreterinnen der Stigma-Distanzierung die Notwendigkeit, viel und hart zu arbeiten, um genug Geld zu verdienen.

Viele Angehörige dieses Typs waren früher drogenabhängig. Mittlerweile distanzieren sie sich sehr stark von Drogen, trennen sich von früheren Freunden oder begeben sich freiwillig in ärztliche Obhut. So versuchte beispielsweise Aya durch die Teilnahme an einem Methadon-Programm, sich wieder schrittweise von ihrer Sucht zu entwöhnen.

Aya: Bevor ich mich wieder in die Gefahr gebracht habe, dass ich rückfällig werde, bin ich zum Arzt gegangen und hab mir Methadon verschreiben lassen. So. Fertig. (Interview Aya & Bernd: 550–553)

Tab. 1:

Typen des Stigma-Managements

Stigma-Umwertung

Stigma-Distanzierung

Stigma-Ignoranz

Materielle Situation

Obdachlos (kein Hartz IV)

Wohnen in Obdachlosenheimen (z. T. Hartz IV)

Eigene Wohnung (beziehen Hartz IV)

Soziale Herkunft

Ungeordnete Familienverhältnisse

Einfache Familienverhältnisse

Einfache bis bürgerliche Familienverhältnisse

Berufserfahrung

Keine Ausbildung oder Berufserfahrung

Teilweise Integration in den Arbeitsmarkt

„Normale“ Bildungs- und Arbeitsbiographie

Maxime

„Im Schlechten Gutes finden“

„Hauptsache wieder normal sein“

„Das Stigma berührt mich nicht“

Herstellung von Normalität

Umdeutung der eigenen sozialen Lage

Emsiges Streben nach oben

Selbstverständliche Gewissheit normal zu sein

Prinzipien der Lebensführung

Keine Freizeit;

Freiheit, Integrität, Authentizität

Strebsamkeit, Orientierung nach oben

Stilisierung „normalen“ Alltags

Instrumente des Stigma-Managements

Umdeutung der eigenen Situation

Strebsames Bemühen, Imitation von Normalität

Lockerheit, Charisma, Coolness, Witz

Verkaufsstil

Symbolischer Einsatz der Zeitung

Pragmatischer Einsatz der Zeitung

Ökonomischer Einsatz der Zeitung

Ökonomischer Erfolg

Niedrig

Mittelmäßig

Sehr gut

Nicht Freiheit, sondern Normalität wird als das wichtigste Gut im Leben erachtet. Sie denken viel an die Zukunft und träumen von einer klassischen bürgerlichen Kleinfamilie. So betont auch Bernd, dass der Verkauf der Straßenzeitung nur eine vorübergehende Funktion hat. Er möchte eines Tages wieder ein ganz normales Leben führen und keinesfalls bis zum Ende seines Lebens Zeitungen verkaufen.

Bernd: Also erstmal für die Zukunft meine eigenen vier Wände. Und dann irgendwann eine Frau, mit der eine Familie gründen kann so, weißte? Und vielleicht mal irgendwie irgendwas machen, wo ich wenigstens irgendwas verdienen kann, weißte? Nicht irgendwie auf dem [Name der Obdachlosenzeitung – Anm. d. Verf.] hängen, sondern irgendwas Anderes (Interview Aya & Bernd: 1201–1207)

Auch in Bezug auf das Verkaufsverhalten bewegt sich dieser Typus zwischen der rein symbolischen und der rein ökonomischen Verwendung der Zeitung. Er schlägt einen pragmatischen Mittelweg ein und lehnt zwar den offen symbolischen Gebrauch der Zeitungen ab, er lehnt aber auch Spenden nicht kategorisch ab.

Die Verkäuferinnen legen großen Wert auf ein ordentliches und professionelles Auftreten. Doch im Gegensatz zu Vertreterinnen des Typs der Stigma-Ignoranz glauben sie nicht daran, dass die Straßenzeitung eine ganz normale Ware darstellt. Sie haben das Gefühl, dass das Interesse an den Zeitungen überschaubar ist und erklären Spenden damit insgeheim zu ihrem pragmatischen Hauptziel. Aus diesem Grund erwähnt Jan beim Verkaufen subtil, dass er sich auch für Spenden interessiert.

Jan: Und sehr viele interessiert auch nicht so die Zeitung, die geben eher eine Spende, 50 Cent oder einen Euro. Deshalb lege ich auch noch den kurzen Satz dazu, dass ich mich über eine kleine Spende auch freuen würde. (Interview Jan: 206–210)

Nach Erhalt des Geldes geben diese Verkäuferinnen nicht automatisch Wechselgeld oder eine Zeitung aus, sondern warten einen kurzen Moment, ob danach gefragt wird oder fragen selbst kurz, ob auch eine Zeitung ausgegeben werden soll. Wenn das bejaht wird, bedienen sie diese Wünsche ohne Weiteres. Sie geben eine ihrer Zeitungen ab und wechseln gegebenenfalls Geld.

Alles in allem zeichnen sich Vertreterinnen dieses Typs durch außergewöhnliche Strebsamkeit und eine starke Orientierung nach oben aus. Während der Typus der Stigma-Umdeutung kein Problem damit hat, als obdachlos identifiziert zu werden und der Typus der Stigma-Ignoranz sich als normal wahrnimmt, streben Angehörige des Typus der Stigma-Distanzierung sehr emsig nach Normalität. Sie versuchen sich auch als normal darzustellen, doch die Distanzierung vom Stigma erfolgt nicht so selbstverständlich und locker wie für den Typus der Stigma-Ignoranz, sondern muss hart erarbeitet werden.

In Tabelle 1 werden die vorgestellten Unterschiede zwischen den drei Typen in unterschiedlichen Dimensionen noch einmal prägnant zusammengefasst.

5 Fazit

Das Ziel der vorliegenden Arbeit war es, Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Stigma-Management von Verkäuferinnen von Straßenzeitungen zu erforschen. Auf der Basis von 21 Interviews mit Verkäuferinnen von Straßenzeitungen in Berlin konnten zunächst einige Ähnlichkeiten in der Wahrnehmung des Stigmas sowie der Reaktion darauf festgestellt werden. Gesellschaftliche Standards, Werte und Normen finden im Feld der Straßenzeitungsverkäuferinnen weite Verbreitung. Das zeigt sich vor allem daran, dass Stigmatisierte auch andere Mitstreiterinnen stigmatisieren. Dieser Sachverhalt stellt keine Selbstverständlichkeit dar. Immerhin wäre für ein Milieu, das sich am Rand der Gesellschaft befindet, auch ein Angriff auf die symbolische Ordnung denkbar.

Zudem stellt Stigma-Management für alle Verkäuferinnen gleichermaßen einen prekären Drahtseilakt dar. An dieser Stelle erweist sich Goffmans (1969) Theater-Metapher als besonders sinnvoll. Verkäuferinnen dürfen sich niemals zu stark vom Stigma distanzieren, sondern müssen stets auch einkalkulieren, was von ihnen als Stigma-Trägerinnen erwartet wird. Verkäuferinnen von Straßenzeitungen dürfen – ganz gleich, ob sie obdachlos sind oder nicht – nicht als zu obdachlos, aber auch nicht als zu wenig obdachlos erscheinen. Das Stigma der Obdachlosigkeit kann nicht radikal abgelehnt, sondern muss auch bis zu einem gewissen Grad bedient werden.

Daran zeigt sich der relationale Charakter von Stigmata. Sie haben keine Substanz, sondern müssen als kontextabhängige Zuschreibungen verstanden werden. Bestimmte Eigenschaften und Handlungsweisen werden von dem einem Typus erwartet und sind bei einem anderen Typus verpönt (Goffman 1967: 11). Es ist nicht per se schlimm, eine Sonnenbrille zu tragen oder neue Schuhe zu besitzen. Doch für Straßenzeitungsverkäuferinnen kann genau das problematisiert werden.[9] Sie müssen stets beachten, dass sie keine normalen Dinge tun, wenn diese nicht mit ihrer Rolle als Stigma-Trägerin – in diesem Fall der Rolle der Straßenzeitungsverkäuferin – kongruent sind. Der lockere und humorvolle Umgang des Typs der Stigma-Ignoranz erlaubt immerhin die Andeutung von Rollendistanz, das heißt eines spielerischen Umgangs mit Rollenerwartungen, durch die Subjekte subtil andeuten können, dass sie mehr sind, als in ihrer Rolle vorgesehen ist (Goffman 1973: 120).

Während soziale Ungleichheiten innerhalb von Stigma-Gruppen bisher kaum thematisiert wurden, hat die vorliegende Arbeit versucht, diese systematisch zu analysieren. Dafür wurde auf Pierre Bourdieus Kapitaltheorie (1982, 1992) Bezug genommen. Es hat sich gezeigt, dass Verkäuferinnen mit einer privilegierteren sozialen Herkunft sowie einer höheren Ausstattung an kulturellem und ökonomischem Kapital auch effektivere und legitimere Formen des Stigma-Managements zur Verfügung stehen. Um diese Unterschiede zu verdeutlichen, wurden drei Typen gebildet. Angehörige des Typus der Stigma-Umwertung leben unter den prekärsten Umständen. Sie kommen aus zerrütteten familiären Verhältnissen, sind obdachlos und besitzen kaum gesellschaftlich anerkanntes kulturelles Kapital. Sie versuchen aus ihrer Not eine Tugend zu machen, indem sie ihre prekären Lebensumstände positiv umdeuten.

Die Vertreterinnen des Typs der Stigma-Distanzierung zeichnen sich innerhalb des Feldes durch prätentiöse Praktiken aus. Sie grenzen sich nach unten ab und orientieren sich nach oben. Sie versuchen verzweifelt, Normalität zu erlangen und streben emsig und ambitioniert nach Verbesserung.

Der Typus der Stigma-Ignoranz hingegen muss sich nicht mühevoll vom Stigma distanzieren, sondern kann sich von diesem unberührt zeigen. Vertreterinnen dieses Typs können gelassen ihre Normalität stilisieren. Sie gehen „normalen“ Freizeitaktivitäten nach und haben von allen Verkäuferinnen das meiste ökonomische Kapital. Gerade diese Distanz ermöglicht ihnen ein lockeres, selbstsicheres und legitimes Auftreten. Sie sind eloquent und charismatisch und zeichnen sich unter den interviewten Straßenzeitungsverkäuferinnen durch den größten Erfolg aus. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie nach außen einen verantwortungsvollen Lebensstil verkörpern können.

Der zentrale Unterschied zwischen Stigma-Ignoranz und Stigma-Distanzierung ist jener zwischen Stilisierung (relativer) Normalität und dem Streben nach (relativer) Normalität. Das ist ein feiner, aber folgenschwerer Unterschied. Denn gerade in der Fähigkeit, sich als normal präsentieren zu können, zeigen sich symbolische Hierarchien. Wer nach etwas streben muss, macht immer wieder klar, dass er genau das, was er unbedingt sein möchte, nicht sein kann. An dieser Stelle lassen sich die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit gut mit Bourdieus Beschreibungen über die Prätentionen des Kleinbürgertums verbinden (Bourdieu 1982: 500 ff.).

Im Bürgertum gilt das gesellschaftlich Gewöhnliche, Massenhafte und Durchschnittliche als profan. In Stigma-Gruppen hingegen kann Normalität zur Distinktion gereichen und wird deshalb emsig angestrebt (Stigma-Distanzierung) oder gekonnt stilisiert (Stigma-Ignoranz).

Neben Bourdieus Kapitaltheorie stellt auch sein Distinktions-Konzept eine wichtige Erweiterung für die Erforschung stigmatisierter Gruppen dar. Stigmatisierte versuchen nicht nur, negative Aspekte ihrer sozialen Identität zu managen, sondern auch positive Aspekte hervorzuheben. Dafür grenzen sie sich – so wie andere soziale Gruppen auch – von bestimmten in-groups oder out-groups ab und streben nach positiver Abhebung.[10] Stigma und Distinktion gilt es stets zusammen zu denken, da sie Extrempole jeglicher Statuskämpfe darstellen. Es kann allerdings nicht davon ausgegangen werden, dass unterschiedliche Kapitalausstattungen in allen Feldern Auswirkungen auf die Legitimität des Stigma-Managements haben. Zukünftige Forschung müsste deshalb klären, unter welchen Bedingungen sich gesellschaftliches Kapital in Stigma-Gruppen in Legitimität konvertieren lässt.

Es ist vorstellbar, dass neben der Kapitalausstattung auch andere Aspekte einen Einfluss auf das Stigma-Management im Feld der Straßenzeitungsverkäuferinnen haben. Da allerdings keine biographischen Interviews durchgeführt wurden und die erhobenen Daten über den persönlichen Werdegang meistens nicht lückenlos sind, kann darüber nur spekuliert werden, welche Auswirkungen beispielsweise Drogenerfahrungen, psychische Erkrankungen oder Schicksalsschläge auf das Stigma-Management der Befragten haben. Auch soziales Kapital in Form von Familie und Freundschaftsnetzwerken wurde aus der Analyse ausgeklammert.

Zudem ist es wichtig zu beachten, dass die vorliegende Arbeit keine Analyse der internen Differenzierung zwischen Obdachlosen darstellt, sondern durch die Untersuchung von Straßenzeitungsverkäuferinnen auf eine sehr spezielle Gruppe fokussiert ist. Es stellt keine Selbstverständlichkeit dar, sich als obdachlose Person derart in der Öffentlichkeit zu exponieren, wie es durch das Verkaufen von Straßenzeitungen der Fall ist. Aus diesem Grund müsste eine vollständige Analyse des Umgangs mit dem Stigma der Obdachlosigkeit auch Nicht-Verkäuferinnen mit einbeziehen.

Aber auch bei der Rekrutierung von Interviewpartnerinnen unter den Verkäuferinnen können gewisse Verzerrungen aufgetreten sein. Es ist davon auszugehen, dass sich vor allem Verkäuferinnen mit großen Schamgefühlen seltener interviewen ließen und dadurch unterrepräsentiert sind.

About the author

Florian Buchmayr

Florian Buchmayr, geb. 1991, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen, Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik (Socium).

Forschungsschwerpunkte: Soziale Ungleichheiten, Migrationssoziologie, Methoden qualitativer Sozialforschung.

Literatur

Becker, H. S., 1973: Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. Frankfurt am Main: Fischer.Search in Google Scholar

Bono, M.L., 1999: Straßenzeitungen. Ein Ratgeber. Freiburg im Breisgau: Lambertus.Search in Google Scholar

Bourdieu, P., 1982: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.Search in Google Scholar

Bourdieu, P., 1989: Social Space and Symbolic Power. Sociological Theory 7: 14–25.10.2307/202060Search in Google Scholar

Bourdieu, P., 1992: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik & Kultur 1. Hamburg: VSA.Search in Google Scholar

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Published Online: 2019-06-04
Published in Print: 2019-05-27

© 2019 Florian Buchmayr, published by De Gruyter

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Downloaded on 26.3.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zfsoz-2019-0011/html
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