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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter Oldenbourg October 1, 2022

Erstrebenswerte Unselbständigkeit? Die Ambivalenz der Pflegebegutachtung

Desirable Dependence? The Ambivalence of Care Needs Assessment
  • Philip Lambrix

    Philip Lambrix, geb. 1989 in Ludwigshafen am Rhein. 2008–2015 Studium der Soziologie und Europäischen Literatur in Mainz und Paris. 2015–2017 sowie seit 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Mainz. 2017–2020 Promotionsstipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. Forschungsschwerpunkte: Interaktion, Körper, Agency, Alter(n), Kindheit, Pflege/Hilfe, Praxistheorien. Publikationen: Ungeahnte Un/Fähigkeiten. Die Kehrseite körpersoziologischer Kompetenzorientierung. Österreichische Zeitschrift für Soziologie 44, 2019 (Mitherausgeber). Laufen. S. 216–221 in: J. Hasse & V. Schreiber (Hrsg.), Räume der Kindheit. Ein Glossar. Bielefeld: transcript (2019).

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Zusammenfassung

Die Soziologie der Bewertung fokussiert bislang vor allem die Perspektive der Bewertenden und konzipiert Bewertung als etwas, das Bewertende tun. Dieser Einseitigkeit stellt der Aufsatz die Ambivalenz und Perspektivität seines Forschungsgegenstands gegenüber. Er untersucht die Pflegebegutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK). Das Verfahren knüpft ein begehrtes Gut (Versicherungsleistungen) an die situative Zurschaustellung einer sozial unerwünschten Eigenschaft (Unselbständigkeit). Es trägt daher Züge einer ‚invertierten Prüfung‘: je schlechter die Bewertung, desto besser. Die Ambivalenz des Phänomens ergibt sich aus einer Differenz von Perspektiven: Was für die Begutachtete wertvoll ist, mag für eine Angehörige unpraktisch und für die Gutachterin wahr sein. Diese Komplexität fächert der Aufsatz anhand einer ethnografischen Einzelfallstudie auf und entwickelt daraus Vorschläge zur Konzeption von Bewertung.

Abstract

Valuation studies often conceptualize evaluation as conducted solely by the evaluating party and focus narrowly on their point of view. The paper confronts this one-sided approach by investigating evaluation from multiple angles, taking into account the ambivalence and complexity of evaluation processes. Specifically, the paper examines the care needs assessment commissioned by long-term care insurances in Germany. This assessment process links a desirable asset (insurance benefits) to the applicant’s display of a socially undesirable attribute (dependence). In a sense, it is an ‘inverted exam’: the worse the applicant scores, the better the result. This ambivalence arises from differing perspectives: What is valuable to the assessed person may be impractical to her relatives and true to the assessor. Drawing on an ethnographic single case study, the paper unfolds this multiplicity of perspectives and values and develops suggestions for reconceptualizing evaluation.

1 Einleitung

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich eine zunehmend vernetzte Soziologie des Wertens und Bewertens entwickelt (Lamont 2012). Empirisch beforscht wird bislang vor allem die Perspektive der Bewertenden. Studien beschäftigen sich etwa damit, wie Lehrerinnen[1] Noten geben (Kalthoff 1996, 2017), Herausgeberinnen und Gutachterinnen im Peer Review wissenschaftliche Aufsätze beurteilen (Hirschauer 2010, 2015), Finanzanalystinnen den Wert von Aktien und Unternehmen einschätzen (Beunza & Garud 2007) und Literaturkritikerinnen Bücher bewerten (Chong 2013). Die Perspektive der Bewerteten erhält dagegen weniger Aufmerksamkeit (siehe aber 2.). Besonders folgenreich ist diese Engführung, wenn die bewerteten Objekte selbst Subjekte sind. Dann bleibt offen, ob und wie sie sich zu ihrem Bewertetwerden verhalten.

Dieser Aufsatz nimmt ein (vermeintliches) Bewertungsverfahren einmal nicht ‚top down‘ von der Bewertendenseite, sondern von seiner lebensweltlichen ‚Unterseite‘ empirisch in den Blick und entdeckt dabei, dass dessen Perspektivität mit einer ausgeprägten Ambivalenz einhergeht: Es ist uneindeutig, was gut und was schlecht ist. Der Beitrag basiert auf einer ethnografischen Einzelfallstudie zur Pflegebegutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK). In diesem Verfahren ermittelt der MDK im Auftrag der Pflegeversicherung den Grad der Pflegebedürftigkeit von Antragstellerinnen. Von diesem „Pflegegrad“ hängt der Zugang zu Versicherungsleistungen ab. In dieser Hinsicht ist die Pflegebegutachtung vergleichbar mit anderen Bedürftigkeitsprüfungen, mittels derer über Ansprüche auf Sozial- oder Versicherungsleistungen entschieden wird, etwa der Feststellung eines „Grades der Behinderung“, der Begutachtung von Erwerbs- und Berufsunfähigkeit, der Asylanhörung oder der Einkommens- und Vermögensprüfung bei Arbeitslosengeld 2.[2] Operationalisiert wird die Pflegebedürftigkeit über die „Schwere der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten“ (§ 15 SGB XI) der antragstellenden Person. Je unselbständiger die Person, desto höher der Pflegegrad und desto größer der Umfang der Versicherungsleistungen. Das Verfahren konzipiert seinen Gegenstand nicht nur, aber auch als körperliche Selbständigkeit. Es setzt daher neben einer Befragung auch auf die Beobachtung des körperlichen Verhaltens der Begutachteten und baut deshalb in einen schriftlichen Kommunikationsprozess an zentraler Stelle eine Face-to-Face-Interaktion ein: den sogenannten Hausbesuch. In der Regel sind dabei drei Personen anwesend: Eine Begutachtete, eine Angehörige und eine Gutachterin.[3] Die Körperlichkeit der Pflegebegutachtung spannt also eine soziale Situation auf und koppelt damit den Zugang zu einem begehrten Gut (Versicherungsleistungen) an die situative Zurschaustellung einer sozial unerwünschten Eigenschaft (Unselbständigkeit). Diese Ambivalenz entspringt unterschiedlichen Perspektiven, die zu einem gewissen Grad durch die sozialen Positionen der drei Beteiligten im Verfahren bestimmt sind.

Diesen Spannungen spüre ich hier nach. Dabei verwende ich multiple Theoriebezüge als „sensitizing concepts“ (Blumer 1954), die den Zuschnitt des Forschungsgegenstands sowie die Interpretation des Datenmaterials anleiten und von diesem ihrerseits irritiert werden. Primär bediene ich mich interaktionssoziologischer Denkwerkzeuge, daneben aber auch der Soziologie der Bewertung und vereinzelt der Systemtheorie. Mit Goffman (1982) betrachte ich Interaktion als Gegenstand in eigenem Recht: als soziale Einheit mit einer gewissen Eigenlogik, die mit anderen sozialen Phänomenen wie beispielsweise Organisationen nur lose gekoppelt ist. Charakteristisch für Interaktionen ist zunächst, dass unter Bedingungen wechselseitiger Wahrnehmung die jeweilige sozial zugeschriebene individuelle Identität der Interaktionsteilnehmerinnen – ihr „Gesicht“ bzw. „Image“ (Goffman 1955) – verwundbar ist und daher „gepflegt“ wird. Außerdem wirken in Interaktionen gewisse Darstellungszwänge: Eigenschaften von Personen wie Selbständigkeit oder Unselbständigkeit müssen, um interaktiv relevant zu werden, erst einmal dargestellt und in Anschlusskommunikationen (Luhmann 1995: 115 f.) aufgegriffen werden. Die wichtigste Deutungsressource in und von Interaktionen ist demnach deren Sequenzialität: Die Bedeutung eines Interaktionszugs können Interaktionsteilnehmerinnen wie soziologische Beobachterinnen an der darauffolgenden Reaktion ablesen (Sacks et al. 1974: 729). Sein interaktionssoziologisches Theoriegerüst handhabt der Aufsatz aber undogmatisch und ergänzt empirisch dementsprechend die Beobachtung von Interaktion um die Analyse von Dokumenten und ethnografische Interviews mit der begutachteten Person.

Wenn man sich dem Gegenstand theoretisch auf diese Weise sensibilisiert nähert, stellen sich Fragen an die Fallanalyse: (Wie) kann sich die Begutachtete als unselbständig darstellen und trotzdem ihr Gesicht wahren? Welchen der widerstreitenden Wertbezüge eignet sich die Begutachtete an? Welche Rolle spielt ihre Angehörige und wie bewegt sich die Gutachterin in diesem verminten Gelände? Diesen gehe ich nach und dabei wie folgt vor: Zunächst skizziere ich den Stand der Forschung zur Perspektive der Bewerteten in der Soziologie der Bewertung (2.). Nachdem ich das Verfahren der Pflegebegutachtung und den pflegewissenschaftlichen Diskurs darüber vorgestellt habe (3.), erläutere ich die Forschungsstrategie der ethnografischen Einzelfallstudie und beschreibe den Fall, der diesem Aufsatz zugrunde liegt (4.). Dann fächere ich die Perspektiven der Beteiligten auf. Zunächst zeichne ich nach, wie aus der Perspektive der Angehörigen der „falsche Stolz“ der Begutachteten droht, die Begutachtung zu sabotieren (5.). In der Interaktionsanalyse des eigentlichen Begutachtungsgeschehens zeige ich dann, wie statt der interaktionssoziologisch erwartbaren – und von der Angehörigen befürchteten – Pflege des Selbständigen-Images Techniken der Darstellung von Unselbständigkeit zum Einsatz kommen (6.). Das nächste Kapitel nähert sich interaktionsanalytisch und über die Analyse des Gutachtens und anderer Dokumente der Perspektive des MDK (7.). In der Reaktion der Begutachteten auf das Ergebnis wird sichtbar, wie ihre Deutung der Begutachtung von der typischen Perspektive der Begutachteten abweicht (8.). Das Schlusskapitel stellt die Perspektiven einander gegenüber, arbeitet die unterschiedlichen ‚Werte‘ der Pflegebegutachtung heraus, bettet die Begutachtungssituation in ihren Kontext als Hilfsbedürftigkeitsprüfung ein und macht der Bewertungssoziologie Vorschläge zur Konzeption von Bewertungen (9.). Wie sich zeigen wird, erzeugt die Perspektivendifferenz sogar Dissens darüber, ob überhaupt, und wenn ja, welche Art von Wert zur Disposition steht: Was für die eine wünschenswert ist, mag für die andere unpraktisch und für die Dritte wahr sein. Dieser Befund wirft wiederum Fragen zur Agency von Bewertungen auf: Wer oder was macht die Pflegebegutachtung zu einer Bewertung?

2 Die Reaktivität, Perspektivität und Ambivalenz von Bewertungen

Die Soziologie der (Be-)Wertung untersucht zum einen, wie der soziale oder ökonomische Wert von Personen, Praktiken oder Objekten entsteht. Beispielsweise am Fall von Theorien (Lamont 1987) oder Kunstwerken (Beckert & Rössel 2004) zeigt sie, wie Akteurinnen Entitäten im relationalen Zusammenspiel mit Märkten und sozialen Feldern Wert verleihen. Neben solchen Prozessen des Wertens, widmet sie sich Prozessen des Bewertens, in denen der Wert von Entitäten nicht geschaffen, sondern ermittelt wird (vgl. Vatin 2013). Der Schwerpunkt liegt dabei auf „formalisierten Bewertungspraktiken“ (Krüger & Reinhart 2016: 488) in Bildung, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur (Nicolae et al. 2018: 8 ff.). Meier et al. (2016: 315) modellieren solche Bewertungsverfahren als Konstellationen, die neben Regeln und technologischen Infrastrukturen drei „Positionen“ enthalten: Bewertetes, Bewertendes und Publikum. Die Soziologie der Bewertung fokussiert bisher die Perspektive der Bewertenden. Dieser Aufsatz beleuchtet dagegen die Perspektive der Bewerteten. Er kann dabei auf Vorarbeiten in der Wissenschafts- und Hochschulforschung zurückgreifen. Diese hat begonnen, die Effekte von Bewertungen auf ihre Gegenstände zu erforschen, und fängt dabei teilweise die Perspektive der Bewerteten ein. Zentraler Befund ist die „Reaktivität“ (Espeland & Sauder 2007) der Bewertung: Metrische Indikatoren wie der Impact Factor oder der h-Index verändern nicht nur das Publikationsverhalten der Wissenschaftlerinnen (Butler 2003), sondern sogar die Praktiken der Wissensproduktion selbst (Müller & de Rijcke 2017). Ein zweites wichtiges Ergebnis ist, dass es Reibungen gibt zwischen den „Bewertungsregimen“ (Fochler et al. 2016; vgl. Boltanski & Thévenot 1999), die die Bewertungsverfahren implizieren, und den Maßstäben, die die Bewerteten selbst an ihre wissenschaftliche Arbeit anlegen. Andere Qualitätskriterien als die Anzahl der Publikationen oder Zitationen treten in den Hintergrund (Butler 2003; Müller & de Rijke 2017). Wie Interviewstudien zeigen, resultiert daraus eine gewisse Ambivalenz. Obwohl Wissenschaftlerinnen ihre Forschung strategisch an den quantifizierenden Bewertungen ausrichten (Acker & Webber 2017: 547) oder diese sogar identitär besetzen, beklagen sie den Verlust alternativer akademischer Werte (Knights & Clarke 2015: 249).

Die Wissenschafts- und Hochschulforschung liefert wichtige Einblicke in die Perspektivität, Reaktivität und Ambivalenz von Bewertungen. Die vorliegende Studie schließt an diesen Forschungsstand an und ergänzt ihn, indem sie Wissen über ein Bewertungsphänomen in einem anderen gesellschaftlichen Praxisfeld produziert: dem Gesundheits- bzw. Pflegewesen. Die Pflegebegutachtung unterscheidet sich in mehreren Hinsichten von Wissenschaftsevaluationen und ist daher ein für die Bewertungssoziologie instruktiver Fall. Erstens arbeitet die Pflegebegutachtung anders als Publikationsmetriken nicht mit beiläufig abgeschöpften ‚prozessproduzierten Daten‘, sondern findet in Kopräsenz statt. Die Bewertung verdichtet sich in der Situation der Begutachtung, in der die ansonsten eher abstrakten „Positionen“ (Meier et al. 2016) in Form von Personen mit ihren Körpern aufeinandertreffen. Zweitens ist die Ambivalenz der Pflegebegutachtung deutlich ausgeprägter als die der Wissenschaftsevaluation. In der akademischen Welt kann die Quantität der Publikationen zwar in einen Zielkonflikt mit deren Qualität geraten, gilt aber nicht per se als etwas Schlechtes. Die Pflegebegutachtung ‚belohnt‘ dagegen eine gesellschaftlich devaluierte Eigenschaft: Unselbständigkeit. Drittens macht die vorliegende Studie anhand der Pflegebegutachtung darauf aufmerksam, dass Dissens in einem multiperspektivischen Verfahren sogar die Frage betreffen kann, ob überhaupt eine Bewertung stattfindet.

3 Die Pflegebegutachtung und ihre Erforschung

Die Pflegebegutachtung findet statt, wenn Versicherte Leistungen der Pflegeversicherung beantragen. Bedingung für den Leistungsbezug ist „Pflegebedürftigkeit“. Definiert sind Pflegebedürftige als Personen, die „gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen.“ (§ 14 SGB XI) Mit der Feststellung dieser Eigenschaft beauftragt die Versicherung einen der 15 Medizinischen Dienste der Krankenkassen. Die Begutachtung erfolgt in der Regel im Hausbesuch. Eine Gutachterin des MDK besucht die Antragstellerin bei sich zu Hause. Sie befragt diese und füllt auf der Basis ihrer Auskünfte einen standardisierten Fragebogen aus, das sogenannte Begutachtungsinstrument. Neben der Befragung stützt sich die Gutachterin beim Ausfüllen des Fragebogens aber auch auf ihre eigenen Beobachtungen und lässt sich Tätigkeiten zeigen. Den Items des Fragebogens sind Punktwerte zugeordnet. Je unselbständiger eine Person auf einer vierstufigen Skala ist, desto mehr Punkte erzielt sie.[4] Auf Basis der errechneten Gesamtpunktzahl wird dann ein Pflegegrad von 1 bis 5 vergeben, von dem die Höhe der Versicherungsleistungen abhängt.

Bislang ist die Pflegebegutachtung soziologisch nahezu unerforscht. Ratgeber- und Lehrbuchliteratur, journalistische Berichterstattung sowie Pflege- und Gesundheitswissenschaften dominieren den Diskurs. Letztere beschäftigen sich im Rahmen der Entwicklung, Erprobung und Evaluation des Begutachtungsinstruments primär mit der Validität, Reliabilität sowie Praktikabilität des Messinstruments aus „Anwendersicht“ (Kimmel et al. 2015: 11). Zentrale Frage ist, wie Pflegebedürftigkeit so operationalisiert werden kann, dass das Instrument die tatsächlichen Pflegebedarfe abbildet (siehe exemplarisch: Cappell 1997; Wingenfeld 1998). Die Perspektiven der Begutachteten und Angehörigen finden dabei nur Berücksichtigung in Form von Fremdeinschätzungen der Gutachterinnen und Vertreterinnen der Betroffenenverbände sowie Zufriedenheitsumfragen. Letztere ergeben, dass 2018 mehr als 80 % der Begutachteten „die Angemessenheit des Pflegegrads ‚voll und ganz‘ bzw. ‚eher‘ gegeben“ (Krupp & Hielscher 2019: 45) fanden.

Die Pflege- und Gesundheitswissenschaften evaluieren die Pflegebegutachtung also als mehr oder weniger exakte und objektive Messung. Nur im Falle mangelnder Objektivität wird ihre soziale Dimension beleuchtet. So werden statistisch auffällige Verzerrungen in der Verteilung der Begutachtungsergebnisse „sozialen Parametern“ (Schmucker 2011) wie ökonomischen Interessen der Pflegeversicherungen oder soziodemografischen Merkmalen der Versicherten (Pritzkuleit & Erben 2001; Simon 2004) zugeschrieben. Simon (2004: 218) argumentiert grundsätzlicher, dass es sich bei den Begutachtungsergebnissen nicht um wissenschaftliche Daten handele, „sondern vor allem um Ergebnisse eines sozialen Interaktionsprozesses“. In diesen flössen „Vorannahmen, Werthaltungen, Rollenerwartungen, Deutungsmuster von Gutachtern [ein], aber auch Werthaltungen und Interaktionskompetenz der Begutachteten bzw. ihrer gegebenenfalls anwesenden Angehörigen.“ (Simon 2004: 223) Diese Studien begreifen die Begutachtung als soziales Phänomen, das die statistischen Befunde als eine Art unabhängige Variable erklären soll. Der „Interaktionsprozess“ selbst bleibt eine Black Box. Weder Interviews mit Begutachteten und Angehörigen, noch Beobachtungen der Begutachtungsinteraktion liegen vor. Die pflege- und gesundheitswissenschaftliche Forschung zur Pflegebegutachtung zielt im Wesentlichen auf das Begutachtungsinstrument, also den Fragebogen, nicht auf die Begutachtungspraxis.

Lediglich Quart (2010) legt eine sozial- und kulturwissenschaftlich informierte Ethnografie der Begutachtungspraxis vor. Sie löst sich von dem ‚methodologischen‘ Bias der Pflegewissenschaften und untersucht die Begutachtungspraxis als soziomateriellen Aushandlungsprozess. Diesen betrachtet sie jedoch anders als die vorliegende Studie nicht unter dem Gesichtspunkt der Bewertung, sondern fragt angelehnt an die Science Studies, wie in ihm Zahlen produziert werden. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass unterschiedliche Arten der Klassifizierung zum Einsatz kommen. Eine quantifizierende Klassifizierung, die Pflegebedürftigkeit anhand von Merkmalsausprägungen errechne, stehe einer intuitiven, auf inkorporiertem Erfahrungswissen beruhenden Klassifizierung gegenüber (Quart 2010: 159 ff.). Neben den Begutachtungsgesprächen fokussiert Quart vor allem die Perspektive der Gutachterinnen. Interviews und ethnografische Gespräche mit ihnen bieten wertvolle Einblicke in den Arbeitsalltag des MDK, auf denen die vorliegende Studie aufbauen kann. Die Perspektiven von Begutachteten und Angehörigen bleiben allerdings weiterhin unterbeleuchtet.

4 Forschungsstrategie und Fall

Dieser Aufsatz hat zwei Ziele: empirisches Wissen über einen kaum beforschten Gegenstand zu produzieren und die Theoriebildung in der Soziologie der Bewertung anzuregen. Dazu setzt er auf die Detailanalyse einer einzigen Begutachtungssituation. Die Einzelfallstudie ist ein etabliertes Format der qualitativen Sozialforschung (Brüsemeister 2008: 55 ff.; Gomm et al. 2000) und erfüllt die beiden Zwecke. Sie dient zum einen dazu, „unbeschriebene Phänomene […] zu beschreiben und so erst einer eventuell beginnenden sozialwissenschaftlichen Debatte zugänglich zu machen“ (Hering & Schmidt 2014: 530; vgl. Brüsemeister 2008: 56, 97). Als eine von bislang erst zwei sozial- bzw. kulturwissenschaftlichen Studien zur Pflegebegutachtung beansprucht der Aufsatz allein schon als Erkundung des Terrains einen Erkenntnisgewinn.[5] Zum anderen eignet sich die Einzelfallstudie zur „Entdeckung interessanter theoretischer Aussagen“ (Bude 1988: 422; vgl. Hering & Schmidt 2014: 530). Dabei soll mir ein einziger nicht subsumierbarer Fall genügen, der zeigt, wie multiperspektivisch und ambivalent ein Bewertungsverfahren auch sein kann, um das relativ einseitige und eindimensionale bewertungssoziologische Modell von Bewertungsverfahren zu irritieren. Die These des Aufsatzes ist, dass die Pflegebegutachtung in einem starken Sinne ambivalent ist. Es geht nicht um eine bloße Vielfalt von Perspektiven auf denselben Gegenstand, die sich im Fallvergleich zeigen würde – etwa in dem Sinne, dass eine Begutachtete die Begutachtung anders wahrnimmt als die nächste. Der Gegenstand ist vielmehr in sich derart spannungsreich, dass widersprüchliche Werthaltungen in ein und demselben Begutachtungsverfahren aufeinandertreffen. Um dies zu zeigen wird dieser Beitrag die Multiperspektivität des Falles entfalten und daraus einen konzeptuellen Vorschlag entwickeln, der den Blick für bestimmte Aspekte von Bewertungsverfahren schärfen und eine Suche nach weiteren ähnlichen Fällen von Bewertungsphänomenen anleiten kann.

Der diesem Aufsatz zugrundeliegende Fall ist das Begutachtungsverfahren der 80-jährigen alleinlebenden Frau Berger[6]. Als junge Frau erkrankte sie an der sogenannten Kinderlähmung und entging dem Tod nur knapp. Die Folgen der Nervenschädigung waren ihr ganzes Leben lang zu spüren. Seit mehreren Jahren leidet sie am „Post-Polio-Syndrom“. Die Symptome sind vor allem Muskelschwäche und Muskelschmerzen. Zusätzlich sieht sie auf einem Auge sehr schlecht und ist auf dem anderen fast blind. Alltägliche körperliche Tätigkeiten werden für Frau Berger daher zunehmend zeitaufwändig, anstrengend und schmerzhaft. Die Krankheit schreitet langsam, aber unheilbar voran und ihr Verlauf beschleunigt sich durch Überlastung. Frau Berger bezieht bereits Leistungen der Pflegeversicherung und ist in Pflegegrad 2 eingestuft. Einmal wöchentlich kommt ein Pflegedienst und putzt. Mehrmals wöchentlich helfen ihr Studentinnen im Haushalt und bei der Körperpflege, die sie teils aus eigener Tasche, teils von ihrem Pflegegeld bezahlt. Sie beantragt bei der Pflegekasse einen höheren Pflegegrad, um sich mehr Hilfe im Haushalt leisten zu können.

Die Fallstudie zu Frau Bergers Pflegebegutachtung ist Teil eines ethnografischen Forschungsprojekts zu Selbst- und Fremdzuschreibungen von (Un-)Selbständigkeit in Kindheit und Alter. Im Rahmen des Projekts führte ich unter anderem teilnehmende Beobachtungen der Alltagspraxis von zehn älteren Menschen durch und führte zahlreiche ethnografische Interviews mit ihnen. Auf der Grundlage meines ethnografischen Wissens und eigener mehrjähriger Erfahrungen als Aushilfspfleger in einem Altenpflegeheim sowie anhand der Ratgeber- und Lehrbuchliteratur, der journalistischen Berichterstattung und des pflege- und gesundheitswissenschaftlichen Diskurses zur Pflegebegutachtung wurden typische Fallkonstellationen für Pflegebegutachtungen herausgearbeitet, um die teils typische, teils atypische Gestalt des vorliegenden Falles scharfzustellen. Er eignet sich für eine Einzelfallanalyse, weil er die aufgrund der verfügbaren Informationen über Pflegebegutachtungen erwartbaren Merkmale aufweist, er mit den Erwartungen allerdings auch auf instruktive Weise bricht (siehe 8.). Hinsichtlich demografischer Merkmale wie Alter, Familienstand, Geschlecht, aber auch bezüglich Pflegegrad, Begutachtungsart und Wohnsituation der Antragstellerin handelt es sich um eine typische Pflegebegutachtung. Aus den Zufriedenheitsstatistiken lässt sich schließen, dass in immerhin 20 % der Fälle ähnlich wie im vorliegenden Fall Dissens zwischen MDK und Begutachteter über den angemessenen Pflegegrad besteht. Eine Besonderheit des vorliegenden Falles liegt darin, dass die Begutachtete seit ihrer Jugend mit Krankheitsfolgen zu kämpfen hat. Sie hat ihre körperlichen Einschränkungen daher bereits stärker in ihr Selbstbild integriert (siehe 8.), als dies bei anderen der Fall ist.

Der Feldzugang in Frau Bergers Fall erfolgte über einen ehrenamtlichen Besuchsdienst für Seniorinnen, für den ich sie zum Zeitpunkt der Begutachtung bereits seit einem Jahr wöchentlich besucht hatte. Insgesamt habe ich im Erhebungszeitraum (2017–2021) etwa 100 Gespräche mit Frau Berger geführt. Ich nahm also eine Doppelrolle ein, einerseits als wohlgesonnener Gesprächspartner, Bekannter und gelegentlich auch als Helfer und andererseits als Forscher, der Vorträge und Aufsätze schreibt, in denen sie vorkommt.[7] Umgekehrt tauche ich daher selbst manchmal in den Daten auf. Mit der Beforschten zu interagieren und dadurch ein Stück weit Teil des Gegenstands zu werden war notwendig, um eine Beziehung zu ihr aufzubauen und zu erhalten. Diese wiederum ermöglichte erst den Zugang zu der potenziell peinlichen Begutachtungssituation und den privaten Hinterbühnen-Situationen (Goffman 1959: 112 ff.) davor und danach. ‚Reaktivität‘ ist in diesem Fall also Bedingung der Datenproduktion.

Im Zentrum der Datenbasis dieses Aufsatzes stehen die Protokolle der teilnehmenden Beobachtung der Interaktionen vor, während und nach der Begutachtung. Protokolle der ethnografischen Interviews mit der Begutachteten sowie schriftliche Dokumente zum Fall (Briefwechsel mit der Pflegekasse, Gutachten) und aus dem Feld (Begutachtungsrichtlinien, Gesetzestexte, Ratgeberliteratur, journalistische Texte) ergänzen diese. Die Daten wurden angelehnt an die Grounded Theory zunächst offen kodiert (Strauss & Corbin 1996: 43 ff.). Die so entstandenen Codes wurden in zunehmend analytischen Memos weiter abstrahiert und aufeinander bezogen (Strauss 1991: 151 ff.) und gemäß der Zirkularität von Erhebungs- und Auswertungsphasen (Flick 2007: 126) in späteren Gesprächen mit der Beforschten empirischen Stresstests ausgesetzt. Im Sinne „theoretischer Empirie“ (Kalthoff et al. 2008) informierte die Auseinandersetzung mit der soziologischen Bewertungsforschung, Interaktionsforschung und Systemtheorie die Datenanalyse. Zusammenhänge und Argumente wurden im Dialog (Strauss 1991: 152) mit der wissenschaftlichen Community (Tagung, Lehrstuhlkolloquium) weiter geschärft.

5 „Falscher Stolz“ – Die Perspektive der Angehörigen

Die Perspektive der Angehörigen lässt sich anhand einer Auseinandersetzung zwischen der Begutachteten, Frau Berger, und ihrer Tochter Sabine im Vorfeld der Begutachtung rekonstruieren. Kurz vor dem angekündigten Begutachtungstermin bin ich bei Frau Berger zu Hause erschienen und habe dort ihre Tochter kennengelernt, die sie ebenfalls im Alltag unterstützt und für sie bürokratische und finanzielle Angelegenheiten regelt. Da die Gutachterin sich verspätet, sitzen wir zu dritt in Frau Bergers Wohnzimmer und warten auf sie. Aus Sicht der Gutachterin befinden wir uns in einer Hinterbühnensituation. Die bevorstehende Begutachtungssituation wird vorbereitet: Sitzplätze werden verteilt und Allianzen abgesteckt, Dokumente werden ausgefüllt und Erwartungen gebildet, darunter Erwartungserwartungen bezüglich der Beurteilungsinstanz. Vor dem Hintergrund eines abgelehnten Höherstufungsantrags vor zwei Jahren rechnen Frau Berger und ihre Tochter damit, Überzeugungsarbeit leisten zu müssen. Es kommt zu einem Streitgespräch zwischen den beiden:

Frau Bergers Tochter geht in die Küche, wo sie Wasser für Kaffee aufgesetzt hat. Auf halbem Weg kehrt sie um und fragt ihre Mutter vorsichtig, ob sie nicht mal den Rollator neben sich stellen wolle. „Ach, und wenn ich aufsteh’, fall ich drüber“, lehnt diese schroff ab. Sofort schnappt die Tochter ein. „Gut, dann mach, was du willst“, sagt sie, geht in die Küche und brummelt dort weiter ärgerlich vor sich hin. Sie kommt zurück: „Wenn die sehen, dass die Dinger hier rumstehen und nicht benutzt werden, dann kann’s dir ja nicht so schlecht gehen!“ Sie wirft ihrer Mutter vor, das nicht „kapieren“ zu wollen. Frau Berger kontert verärgert: „Ich bin der Patient, die anderen müssen’s verstehen.“

Sie erklärt mir und ihrer Tochter dann, warum es für sie keinen Sinn mache, den Rollator zu benutzen: Weil sie schlecht sieht und zu wenig Kraft im ganzen Oberkörper hat, könne sie den Rollator nicht „steuern“ und ecke überall an. Außerdem stehe er überall im Weg und sie falle darüber. Irgendwann unterbricht ihre Tochter sie: Sie solle sich abregen und das alles „denen erzählen“. Sie versuche ja nur, Wege zu finden, zu „belegen, dass du Hilfe brauchst.“ Sie verstehe es ja, sagt die Tochter, sie sei „mit dem Ganzen groß geworden“ und wisse um die Probleme, aber „die“ wüssten es nicht. „Ja“, sagt Frau Berger, „und ich hab’ mein Leben trotzdem gemeistert.“ Die Tochter wird daraufhin ganz schrill: „Diesen Satz solltest du dann schon mal weglassen! ‚Ich kann das noch! Ich kann das noch alles‘“, äfft sie ihre Mutter nach. „Nein“, sagt Frau Berger, „ich sag aber, dass ich’s noch konnte. Aber jetzt nach der letzten Operation geht’s eben nicht mehr!“

Im Rollator materialisiert sich das Stigmatisierungsdilemma der Hilfe (vgl. Baecker 1994). Unterstützung wird zum Anzeichen für Gebrechlichkeit. Dies führt dazu, dass viele Menschen sich schämen, in der Öffentlichkeit einen Rollator zu benutzen. Im Kontext der Prüfung eines Hilfeanspruchs lässt sich dieser normalerweise unwillkommene stigmatisierende Charakter des Rollators aber strategisch einsetzen, um Hilfsbedürftigkeit zu „belegen“. Die Tochter sucht dabei eine Lösung für ein strukturelles Problem der Pflegebegutachtung: Mehr noch als Kompetenzen, die sich über Performanzen operationalisieren lassen, entziehen sich Unfähigkeiten der Beobachtung. Hier wird zum Problem, was in Leistungstests wie der Kindervorsorgeuntersuchung eine Ressource ist: dass „fehlende Performanz keinen eindeutigen Rückschluss auf fehlende Kompetenz erlaubt“ (Kelle 2007: 117). Hilfe lässt sich einsetzen, um dieses Darstellungsproblem zu lösen. Allerdings kann vor diesem Hintergrund wiederum die Abwesenheit von Hilfe zum Problem werden: Sie lässt auf die Abwesenheit eines reparaturbedürftigen Problems schließen. Diese Deutung unterstellt die Tochter dem MDK.

Frau Berger jedoch sperrt sich dagegen, den Rollator als Zeichen einzusetzen. Ihre Tochter wirft ihr daraufhin vor, den Eindruck erwecken zu wollen, „das noch alles“ zu können. Damit ruft sie einen Topos auf, der im Diskurs um die Pflegebegutachtung häufig vorkommt. So empfiehlt eine Ratgeberseite im Internet Angehörigen, „den Betroffenen NIE mit dem MDK allein zu lassen.“ (Oppel 2016) Oft gebe sich die Pflegebedürftige aus „falschem Stolz“ rüstiger, als sie sei. Auch Vertreterinnen der Pflegekassen haben, um eine Erklärung für die hohe Ablehnungsquote von Anträgen gebeten, öffentlich auf diese Konstellation verwiesen: „‚Wenn dann zu so einem alten Menschen […] jemand kommt, den er nicht kennt, der ihn begutachtet, der ihm Fragen stellt, dann wollen viele alte Leute erstmal nicht schlecht aussehen. Dann sagen die auf die Frage: Können Sie sich noch selbst duschen oder waschen, die Haare kämmen? Na klar kann ich das.‘ Angehörige säßen dann oft ungläubig daneben“ (Kraus 2020).

Mit der Gutachterin tritt eine fremde Dritte in die Beziehung zwischen Angehöriger und Begutachteter, die eine neuartige Öffentlichkeit herstellt. In vielen Fällen entfaltet die dadurch entstehende Bühnensituation eine Eigendynamik der Selbstdarstellungszwänge, die hier auf der „Hinterbühne“ (Goffman 1959: 112 ff.) antizipiert wird: Die Begutachtete versucht, zu vermeiden, in den Augen der Gutachterin das Gesicht zu verlieren. Das Problem des „falschen Stolzes“ entsteht, wenn diese Perspektive der Begutachteten und die der Angehörigen aufeinandertreffen. Die Angehörigen stehen den Begutachteten meist nahe und sind oft praktisch beteiligt an den Sorgearrangements, die von der Entscheidung der Pflegeversicherung beeinflusst werden, ohne jedoch selbst Gegenstand der Begutachtung zu sein. Sie sind daher in der Lage, ihre Interessen bzw. die Interessen der Begutachteten ohne Skrupel zu vertreten. Oft sind sie die treibende Kraft hinter der Antragstellung. Im Konfliktfall zwischen diesen Perspektiven zeigt sich die grundlegende Ambivalenz der Pflegebegutachtung. Einerseits ist es schlecht, als pflegebedürftig eingestuft zu werden. Denn Selbständigkeit ist eine gesellschaftlich wertgeschätzte Eigenschaft. Von anderen Unselbständigkeit attestiert zu bekommen, bedeutet in der Regel einen Verlust zwischenmenschlicher Achtung. Andererseits ist es gut, einen (höheren) Pflegegrad zu erhalten, weil dieser Zugang zu Hilfeleistungen bietet, die die Begutachtete und ggf. ihre Angehörigen im Alltag entlasten. Die Pflegebegutachtung ist also eine Prüfung mit invertierter Motivlage, in der die Geprüfte eine schlechte Bewertung anstrebt bzw. aus der Sicht der Angehörigen vernünftigerweise anstreben sollte. Ganz ähnlich, wie sich die Prüflinge in ‚normal‘ gepolten Prüfungssituationen durch „falsche Bescheidenheit“ selbst sabotieren können, droht in der Pflegebegutachtung also „falscher Stolz“ das angestrebte Ergebnis zu verhindern, das in der Anerkennung einer unvorteilhaften Eigenschaft besteht. Die Formulierung ist dabei schon asymmetrisch: „Falsch“ ist aus der Sicht der Angehörigen, in dieser folgenreichen Situation ein Image zu pflegen, statt pragmatisch zu handeln. Die Begutachtete kann diese Perspektive wiederum übernehmen und ihre eigene Scham als Hindernis empfinden. Dann findet sie sich in einem Dilemma wieder. Tut sie es nicht, kann die Ambivalenz in einen interpersonellen Konflikt umschlagen.

Der vorliegende empirische Fall ist allerdings noch komplexer. Die Tochter wirft ihrer Mutter aus der Perspektive der Angehörigen vor, die typische Perspektive der Begutachteten einzunehmen. Sie ‚zitiert‘ gewissermaßen den Topos des „falschen Stolzes“, um sich die Weigerung ihrer Mutter zu erklären. Als Fremddeutung ist die typische Perspektive der Begutachteten also durchaus im Fall präsent. Tatsächlich weist Frau Berger diese aber zurück. Statt auf den stigmatisierenden Charakter des Rollators verweist sie auf seine praktische Unbrauchbarkeit. Sie fühlt sich mit dem Rollator unsicherer als ohne ihn und benutzt ihn deshalb nicht. Statt auf die Abwesenheit eines Problems zeigt die Abwesenheit der Hilfe (des Rollators) aus ihrer Sicht auf ein ganz besonderes Problem, das ‚die anderen verstehen müssen‘. Anders als die Tochter ihr vorwirft, verweigert sich Frau Berger also nicht der Darstellung von Unselbständigkeit, sondern einer selbststereotypisierenden Darstellung von Unselbständigkeit. Um sich dem MDK mitzuteilen, müsste sie seine „Sprache“ (König 2014; vgl. Quart 2010) verstehen lernen. Sie führt mit der Pflegekasse einen – noch imaginären – Kampf darum, wer die Pflicht hat, zu verstehen, und wer das Recht, verstanden zu werden. Sich auf den unterstellten Code der Pflegebegutachtung ‚Rollator = Unselbständigkeit‘ einzulassen, käme vor diesem Hintergrund einer Niederlage gleich.

6 Die interaktive Darstellung von Unselbständigkeit

Der Topos des „falschen Stolzes“ lässt erwarten, dass die Begutachtungssituation eine peinliche, möglicherweise konflikthafte Angelegenheit wird, in der Stolz und Darstellungserfordernisse kollidieren. Doch hat Frau Berger schon deutlich gemacht, dass sie weder gedenkt, ihre Unselbständigkeit zu verbergen, noch, den Rollator als Darstellungsrequisite zu nutzen. Wir wechseln von der Hinter- zur Vorderbühne, um zu sehen, ob und wie es ihr gelingt, ihren Hilfeanspruch im tatsächlichen Begutachtungsgeschehen in ihrer eigenen ‚Sprache‘ zur Geltung zu bringen:

Nachdem Frau Berger sich in der Auseinandersetzung um den Rollator durchgesetzt hat und wir drei uns eine Weile unterhalten haben, kommt die Gutachterin. Sie begrüßt uns alle einzeln, nimmt Frau Berger gegenüber am Tisch Platz, holt einen Laptop aus Ihrer Tasche und schaltet ihn ein. Nach kurzem Smalltalk über das Wetter beginnt sie mit dem Begutachtungsgespräch. Schnell kommt sie zum Thema der körperlichen Mobilität.[8] Offenbar gestützt auf das letzte Gutachten von vor zwei Jahren fragt sie: „Das Laufen ging zuletzt noch ohne Hilfsmittel? Mit Festhalten an Wänden und Möbeln …“ Frau Berger erwidert, dass das Laufen „ganz schlecht“ gehe. Sie könne „nichts mehr benutzen“, sagt sie aufgebracht und weinerlich, und es tue ihr „alles weh“. Sie müsse ohne Hilfsmittel laufen, denn sonst stolpere sie darüber. Ihre Tochter springt ihr bei. Sie erklärt, dass Frau Berger nicht die Kraft in den Armen habe, sich auf einem Rollator abzustützen. Im Gegenteil sei „die Gefahr größer“, dass sie hinfalle oder „gegen Ecken“ fahre, weil sie so schlecht sehe.

Die Tochter wechselt mit dem Übergang von der Hinter- zur Vorderbühne die Seiten: Statt ihrer Mutter die unterstellte Perspektive der Gutachterin auf den Rollator näherzubringen, engagiert sie sich als ihre ‚Übersetzerin‘. Beide versuchen die Deutung zu etablieren, dass der Rollator für Frau Berger keine Hilfe ist, deren Abwesenheit ein Hinweis auf ihre Selbständigkeit wäre, sondern ein Hindernis, das für sie eine Gefahr darstellt. Die Gutachterin hört sich die Ausführungen der beiden tippend an, ohne sich dazu zu verhalten. Von Zeit zu Zeit gibt sie inhaltlich unbestimmte Hörersignale wie „Mhm“ und „Ja“ ab und schließt, als die beiden fertig sind, mit „Ok“. Dann wechselt sie das Thema:

Sie fragt, ob „Positionswechsel“, also „Aufstehen, Hinsetzen“ noch alleine möglich seien, oder ob immer jemand da sei, der ihr helfe. „Nein“, antwortet Frau Berger mürrisch, als müsse sie das widerwillig zugeben, „es geht noch.“ „Machen Sie noch, aber ist halt schwer …“, sagt die Gutachterin. Frau Berger erklärt: „Ja, ich mach immer eins, zwei und DREI“, und währenddessen legt sie eine Hand auf den Tisch, umklammert mit der anderen die Armlehne des Stuhls, schaukelt mehrmals mit dem Oberkörper vor und zurück und steht auf „drei“ auf. (Zählen tut sie sonst nicht, denke ich dabei.) „So komm ich dann hoch“, sagt sie.

Die Gutachterin bittet sie dann – „wenn Sie grad stehen …“ –, zur Tür und zurück zu gehen. Frau Berger dreht sich langsam um. Sie hält sich noch länger als sonst mit der rechten Hand am Tisch fest, auch als sie ihn schon hinter sich gelassen hat. Dann läuft sie sehr angestrengt und wacklig, schlurfend und hinkend, mit ganz kleinen Schritten. Sie geht, bis sie eine Hand auf die Kommode vor der Tür legen kann. Da sagt die Gutachterin, sie könne schon zurückkommen. Frau Berger kommt zurück. „Ok, danke schön“, sagt die Gutachterin mit warmer Stimme und fängt an, lange zu tippen.

Im eigentümlichen Sprechakt des Eingeständnisses einer Fähigkeit, der sich im Laufe von Frau Bergers Begutachtung mehrfach wiederholt, spiegelt sich die Ambivalenz der Pflegebegutachtung. Die Gutachterin reagiert auf den widerwilligen ‚Ton‘, indem sie ein in der Antwort offenbar unartikuliertes „aber“ artikuliert. Frau Berger nimmt das Deutungsangebot an und geht ungefragt vom Reden zum Zeigen über. Indem sie sich beim Aufstehen auf dem Tisch abstützt und an der Armlehne hochzieht sowie Schwung holt, demonstriert sie, dass sie sich selbst im wahrsten Sinne eine Last ist. Frau Berger verkörpert, was die Gutachterin meinte, als sie aussprach, was erstere dachte. Die beiden koproduzieren also multimodal eine Antwort, welche die von der Frage aufgespannte binäre Unterscheidung zwischen „alleine möglich“ und Hilfe sprengt: Frau Berger kann zwar noch ohne Hilfe aufstehen, aber es ist „schwer“.

Die Gutachterin signalisiert durch ihre Mitwirkung an der Antwort zunächst Verständnis, geht dann aber ohne zu kommentieren, wie Frau Berger aufgestanden ist, zum nächsten Punkt über. Sie nutzt die Gelegenheit, um sie eine weitere Körperpraktik vorführen zu lassen, über die sie kurz zuvor gesprochen hatten. Frau Berger ist nun aufgefordert, das beschwerliche und schmerzhafte Laufen zu demonstrieren, das sie eben noch verbal beschrieben hatte. Ablesen lässt sich an ihren Bewegungen, dass auch das Laufen ihr schwerfällt. Sie kann die Füße kaum heben und sucht, wo immer möglich, den Körperkontakt zu Boden und Möbeln. Jeder Schritt, so suggeriert ihr wackliger Gang, ist schwer und gefährlich – ein Kraft- und Drahtseilakt.

Ein aufschlussreiches Detail verdient besondere Aufmerksamkeit: Beim Aufstehen zählt Frau Berger bis Drei. In kooperativen körperlichen Aktivitäten dient das Einzählen häufig der Koordination von Körperbewegungen. Gängige Praxis ist es unter anderem auch in Pflegeinteraktionen (vgl. Sachweh 1999: 92) und dort nicht zuletzt dann, wenn Pflegende Gepflegten helfen, aufzustehen. Hier taucht es aber nicht im Rahmen einer gemeinsamen körperlichen Tätigkeit auf, sondern im Rahmen der Demonstration einer körperlichen Praxis, die normalerweise eben gerade „alleine“ stattfindet. Frau Berger schichtet mehrere Rahmen (Goffman 1986 [1974]) aufeinander: Sie führt einer anderen vor, wie sie allein aufsteht und sich dabei verhält, als wäre sie ‚zu zweit‘. Selbst wenn man den Kontext der Pflege nicht als Deutungsressource heranzieht, markiert das Einzählen einen Selbstbezug ähnlich wie in einem Selbstgespräch – ein Verhalten, das oft mit ‚senilen‘ älteren Menschen assoziiert wird. Dass Frau Berger in meiner Anwesenheit normalerweise nicht einzählt, legt nahe, dass die Zahlzeichen nicht einfach ‚abgegebene‘ Zeichen (Goffman 1959: 4) sind, sondern sich gezielt an die Gutachterin richten. Sie kommunizieren nicht nur einen Selbstbezug, der mit Pflegebedürftigkeit und Senilität assoziiert werden kann, sondern lenken auch Aufmerksamkeit auf das Schwungholen. Frau Berger will offenbar sicherstellen, dass ihre Schwierigkeiten bei der Fortbewegung von der Gutachterin auch wahrgenommen werden. Indem sie sich – in den Augen des Ethnografen – „noch länger als sonst“ am Tisch festhält, unterstreicht sie zusätzlich ihre Stützbedürftigkeit. Ihre körperlich-sprachlichen Vollzüge folgen einer Darstellungsstrategie. Frau Berger versucht also, das Eingeständnis ihrer Selbständigkeit zu relativieren, indem sie demonstriert, wieviel Kraft und Zeit es sie kostet, aufzustehen. Als Ergebnis der Analyse dieser Sequenz der Begutachtungsinteraktion, die exemplarisch für die Begutachtung im vorliegenden Einzelfall stehen kann, lässt sich festhalten, dass die Begutachtete eben nicht, wie von ihrer Tochter befürchtet und vom Feld-Topos des „falschen Stolzes“ nahegelegt, ihr Image als selbständige, fähige Person pflegt. Die Begutachtete initiiert selbst den Übergang von der mündlichen zur visuellen Kommunikation, von der Befragung zur Demonstration. Bereitwillig vorgezeigt wird die Schwäche, Gefährdung, Stützbedürftigkeit des Körpers der Begutachteten – was „noch geht“ wird dagegen widerwillig gestanden. Was stattfindet, ist also die Darstellung von Unselbständigkeit, oder zumindest die Darstellung einer prekären, unzumutbaren Selbständigkeit.[9]

7 „Hab’ ich aufgenommen“ – Die Perspektive des MDK

Die Perspektive des MDK lässt sich bis zu einem gewissen Grad anhand des Verhaltens der Gutachterin im Begutachtungsgespräch rekonstruieren. Auffällig ist an ihren Reaktionen zunächst, dass sie offenlassen, ob Frau Bergers Unselbständigkeitsdarstellung überzeugen kann. Nachdem letztere demonstriert hat, wie sie läuft, bedankt sich die Gutachterin und fängt an, lange zu tippen. Indem sie sich bedankt, nimmt sie interaktionsöffentlich nicht Stellung zur demonstrierten Unselbständigkeit, sondern zur Demonstration als Interaktionszug. Der Dank bezieht sich darauf, dass Frau Berger getan hat, worum sie sie gebeten hatte. Sie beendet damit „formal-prozedural“ (Meyer 2014: 101, 107) die Aufforderungssequenz, die sie mit ihrer Bitte, zur Tür zu gehen, eingeleitet hatte. Indem sie tippt, zeigt die Gutachterin zwar an, dass sie auch den ‚Inhalt‘ der Demonstration zur Kenntnis genommen hat und ihn für relevant für das Gutachten hält. Doch steht das Tippen an einer sequenziellen Stelle, an der sich die Begutachtete und ihre Angehörige aufschlussreicheres Feedback erhoffen:

Kaum hat sich die Tür hinter der Gutachterin geschlossen, bricht es aus der Tochter heraus: „Die sind immer so emotionslos! Die hören sich immer alles an, und tippen und tippen und tippen, du kannst nicht greifen …“ Ethnograf: „Wie die das finden, ne?“ Tochter: „Ja …“ Kurz darauf fragt Frau Berger sich laut, ob sie das Aufstehen und Gehen „dramatisch genug gemacht“ habe.

Frau Berger und ihre Tochter funken ins Leere. Ohne einschätzen zu können, was ihre Auskünfte oder Demonstrationen für das Gutachten bedeuten, haben die beiden keine Möglichkeit, von sich aus nachzulegen oder nachzubessern. Die Pflegebegutachtung ähnelt damit der asymmetrischen „Einbahnstraßen-Kommunikation“ (Scheffer 1997: 170) eines anderen Verfahrens der Entscheidung über Hilfegewährung: der Asylanhörung. Auch dort haben die Antragstellerinnen situativ keine Möglichkeiten der „Verständigungskontrolle“ (Scheffer 1997: 169). Indem sich die Gutachterin einer Rückmeldung enthält und tippt, wendet sie sich dem Laptop zu und damit vom Gespräch mit Frau Berger ab. Sie zeigt damit auch an, dass sie sich einer anderen Adressatin zuwendet, wie sie selbst am Ende der Begutachtung expliziert:

Nachdem Frau Berger auf Nachfrage noch einen Aspekt ergänzt hat, tippt die Gutachterin ein letztes Mal und sagt: „Hab’ ich aufgenommen.“ Sie mache das Gutachten dann heute noch fertig und schicke es an die Krankenkasse. Von der werde Frau Berger dann schriftlich benachrichtigt. Da sei auch das Gutachten dabei und da stehe alles drin, was sie besprochen hätten.

Die Gutachterin suspendiert die normalerweise mit dem jeweils nächsten Interaktionszug gegebene Verständigungskontrolle (vgl. Sacks et al. 1974: 729) bis auf weiteres und ‚verlängert‘ die Kommunikation um eine abwesende Teilnehmerin, über die die Feedbackschleife läuft, bis sie wieder bei der Begutachteten und ihrer Angehörigen ankommt (vgl. Scheffer 1997: 170). Sie stellt situativ dar, dass der Hausbesuch nur ein Glied in einer Kette von Situationen ist und sie selbst nur ein Zahnrad in einem Getriebe von Akteurinnen, auf das sich die Zuständigkeit für Frau Bergers Fall verteilt. Die Entscheidung bleibt in der Begutachtungssituation eine undurchsichtige Black Box und wird – wenn überhaupt angesprochen – an abwesende Andere delegiert. Überhaupt sparen die Äußerungen der Gutachterin jegliche Bewertung oder Beurteilung, Bewilligung oder Ablehnung aus. So als würde nur alles „aufgenommen“, schriftlich fixiert und dann „benachrichtigt“. Weder lobt die Gutachterin die Begutachtete für ihre Selbständigkeit, noch tadelt oder bemitleidet sie sie für ihre Unselbständigkeit, noch behandelt sie umgekehrt Unselbständigkeit als präferierte Seite der Differenz, für die es ‚Punkte gibt‘.[10] Sie tritt nicht als selbst urteilendes Subjekt auf, sondern macht sich zu einem Erhebungsinstrument, das Daten sammelt. Die körperlichen Vollzüge der Gutachterin (Tippen), die „emotionslosen“ Reaktionen auf Auskünfte oder Demonstrationen der Begutachteten sowie die abschließende Ankündigung des weiteren Verfahrensverlaufs stellen dar, dass zumindest im Hausbesuch weder eine Bewertung noch eine Entscheidung stattfindet, sondern eben eine Datenerhebung, d. h. ein Messvorgang.[11]

Ihre Organisations(un)zugehörigkeit hilft der Gutachterin dabei, das Urteil in der Schwebe zu halten. Sie kann von der Krankenkasse als einer Anderen sprechen, weil sie nicht für die Krankenkasse arbeitet, sondern für den MDK. Für dessen Selbstverständnis ist entscheidend, dass er lediglich eine Entscheidung der Versicherung mit fachlicher Expertise informiert. Er tritt nicht selbst als Bewerter oder Entscheider auf, sondern bildet als neutraler Dritter ein Zwischenglied in der Beziehung zwischen potenziellen Leistungsempfängerinnen und „Kostenträgerin“. Diese Trennung zwischen Begutachtungs- und Entscheidungsinstanz wird in der öffentlichen Debatte um den MDK immer wieder in Zweifel gezogen. Es steht der Verdacht im Raum, den ich lediglich referiere, dass der MDK mit einer restriktiven Bewilligungspraxis die ökonomischen Interessen der Versicherungen vertritt (Simon 2004: 220). Einerseits haben die Versicherungen einen gewissen Einfluss auf den MDK: Sie finanzieren ihn und ihre Vertreterinnen sitzen in seinen Verwaltungsräten.[12] Umgekehrt gibt gerade der formalisierte Charakter des Begutachtungsinstruments Anlass zu der Vermutung, dass die Entscheidungen über die Gewährung von Pflegeleistungen de facto durch die Gutachten des MDK determiniert sind. Quart konstatiert: „Die endgültige Entscheidung trifft die Krankenkasse, die aber in den meisten Fällen (die Schätzungen der Gutachterinnen variieren von 70–99 %) der Empfehlung des MDK folgt.“ (2010: 136) Für die Analyse der Begutachtungsinteraktion ist jedoch entscheidend, dass die organisationale Differenz – ob real oder fiktiv – zur Lösung eines interaktionsstrukturellen Problems herangezogen wird: Sie entlastet die Gutachterin davon, das Urteil in der Bewertungssituation fällen bzw. aussprechen zu müssen.

Da das Begutachtungsergebnis in der Interaktion unsichtbar bleibt, wechsle ich von der Interaktions- zur Dokumentenanalyse und folge dem Weg von Frau Bergers situativen Darstellungen in das fertige Gutachten, das Frau Berger wenige Tage nach der Begutachtung postalisch erhält. Für die Berechnung des Pflegegrades werden die Beobachtungen der Gutachterin und die Auskünfte der Begutachteten den Antwortoptionen der Items eines Fragebogens zugeordnet. Die Demonstration des Gangs wird vom Item „Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs“ abgedeckt. Die Gutachterin kreuzt hier auf einer vierstufigen Skala von „selbständig“ über „überwiegend selbständig“ und „überwiegend unselbständig“ bis „unselbständig“ ersteres an. Selbständig fortbewegen kann sich eine Person laut den Begutachtungsrichtlinien, wenn sie sich „ohne Hilfe durch andere Personen fortbewegen [kann]. Dies kann ggf. unter Nutzung von Hilfsmitteln, z. B. Rollator […] oder sonstigen Gegenständen, z. B. […] Möbelstück, geschehen.“ (Medizinischer Dienst & Gesetzliche Krankenversicherung 2019: 41) Entscheidendes Kriterium der Selbständigkeit ist also die Abwesenheit „personeller Hilfe“, d. h. der Hilfe durch andere Menschen. Keine Rolle spielt dagegen erstens, wie zeitaufwändig, anstrengend, angstbesetzt oder schmerzhaft die Bewegung für die Versicherte ist – solange sie sie trotzdem noch allein ausführt. Die dritte Option zwischen Hilfe und Selbständigkeit („Machen Sie noch, aber ist halt schwer“), die die Gutachterin in der Interaktion noch gemeinsam mit der Begutachteten ausgearbeitet hatte, wird auf der Selbständigkeitsskala nicht abgebildet. Der körperliche Vollzug, der demonstrieren sollte, wie schwer „es geht“, hat letztlich nur gezeigt, dass es geht. Zweitens offenbart die Analyse von Gutachten und Begutachtungsrichtlinien, dass der in der Vorbereitung der Begutachtung so prominente Rollator für die Entscheidung über die Gewährung von Hilfe ebenfalls keine Rolle spielt. Der MDK deutet den Rollator nicht als Zeichen für Unselbständigkeit. Selbständigkeit im Sinne des Begutachtungsinstruments schließt den Gebrauch von Dingen zum Zweck der Fortbewegung ein. Dementsprechend[13] lehnt die Pflegekasse Frau Bergers Antrag ab. Im Bescheid heißt es:

Es „wurde festgestellt, dass der Umfang der Beeinträchtigung Ihrer Selbständigkeit weiterhin dem Pflegegrad 2 entspricht. Ihren Antrag auf Höherstufung müssen wir daher leider[14] ablehnen. Begründung: Die Pflegegutachterin/der Pflegegutachter hat in dem Gutachten […] Ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten [mit 32 Punkten] bewertet […]. Der Pflegegrad 3 kann nur dann bestätigt werden, wenn der Gesamtwert der gewichteten Punkte mindestens 47,5 umfasst.“

Auch der schriftliche Bescheid, auf den die Gutachterin in der Interaktion verwiesen hatte, teilt zwar ein Ergebnis mit, rahmt dieses aber nicht als Entscheidung des Textsubjekts, d. h. nicht als Auswahl zwischen mehreren gleichermaßen möglichen Optionen. Stattdessen schiebt er die Selektivität zurück zur Gutachterin: Die Krankenkasse müsse den Antrag leider ablehnen, weil die Gutachterin die Beeinträchtigung der Selbständigkeit der Antragstellerin mit nur 32 Punkten bewertet habe. Die Zuständigkeit für Entscheidungen versickert zwischen den beteiligten Organisationen. Die Begutachtung präsentiert sich – zumindest im Ablehnungsfall – als entscheidungsfreies Geschehen.

Zwar ist im Bescheid die Rede von „bewerten“ und „Wert“, doch gemeint sind nicht Präferenzen, Wertschätzung oder Normen, sondern Quantifizierung, d. h. die Bestimmung eines Ausmaßes. Dafür werden in einem ersten Schritt beispielsweise Fortbewegungsweisen anhand ausformulierter Richtlinien als „selbständig“, „überwiegend selbständig“, „überwiegend unselbständig“ oder „unselbständig“, kategorisiert, d. h den Ausprägungen einer Variable zugeordnet. Diesen Ausprägungen werden dann Zahlen von 0 bis 3 zugeordnet, die ein „Bewertungsalgorithmus“ (Medizinischer Dienst & Gesetzliche Krankenversicherung 2019: 109) verrechnet.[15] Es geht also darum, das Ausmaß von (Un-)Selbständigkeit zu messen, nicht darum, der begutachteten Person einen Wert zuzuschreiben oder ihren Wert zu bestimmen.

Ich plädiere damit dafür, den Bewertungsbegriff enger zu fassen, als es in der Literatur zu Quantifizierung und Bewertung zuweilen getan wird (siehe Mau 2020: 22 ff.): Nicht jedes Messen oder Quantifizieren ist automatisch ein Bewerten im Sinne eines Urteils darüber, wie gut oder schlecht etwas ist. Einen instruktiven Kontrastfall bildet hier die schulische Notengebung. Zunächst reklamiert auch sie für sich, eine objektive „Leistungsmessung“ (Kalthoff 1996: 121; Herv. P. L.) zu sein. Doch anders als die Pflegebegutachtung konzipiert sie ihr Wissensobjekt als einen in sich ‚werthaltigen‘ Gegenstand. Sie differenziert völlig selbstverständlich und erklärtermaßen zwischen „guten“ und „schlechten“ Leistungen. Es ist alles andere als ein Geheimnis der Organisation Schule, dass Lehrerinnen ein affektives Verhältnis zu dem Gegenstand unterhalten, den sie objektiv messen sollen (vgl. Kalthoff 1996: 112).[16] In der Perspektive des MDK dagegen, wie sie im Interaktionsverhalten der Gutachterin, in den analysierten Dokumenten, aber auch im ‚methodologisch‘ orientierten pflegewissenschaftlichen Diskurs rund um das Begutachtungsinstrument hervorgebracht wird, ist das Messobjekt nicht als Wert relevant. Wie das Schlusskapitel zeigen wird, bezieht die Pflegebegutachtung ihren Bewertungscharakter über Umwege, nämlich erst aus dem Umstand, dass ihr Gegenstand eine gesellschaftlich wertgeschätzte Eigenschaft ist und Personen in der ‚Umwelt‘ des Verfahrens dazu tendieren, ihren Wert an ihrer Selbständigkeit festzumachen. Mit dem Wissensobjekt handelt sich die „Sachverständigeninstitution“ auch einen Wert ein.

Das heißt nicht, dass die Begutachtungsergebnisse nicht im Sinne der Pflegeversicherungen verzerrt sein könnten (vgl. Simon 2004), doch die ‚Wissenschaftlichkeit‘ des MDK ist andererseits auch keine bloße Fassade. Es ist zu vermuten, dass sich mit der Ausdifferenzierung einer Sachverständigenorganisation und der Gutachterinnenrolle auch entsprechende professionelle Selbstverständnisse ausbilden. Die Pflegeversicherung wiederum kann Anträge nicht direkt mit Verweis auf begrenzte Kapazitäten abweisen, sondern muss sie mit einem mangelnden Hilfebedarf begründen. Diesen muss sie in einem an den MDK delegierten empirischen Verfahren feststellen und sich dazu auf dessen epistemische Eigenlogik einlassen. Sie muss sich des „symbolischen Kommunikationsmediums“ Wahrheit bedienen (Luhmann 1991: 170).

8 „Aber dafür wird man gestraft“ – Die Perspektive der Begutachteten

Die Perspektive der Begutachteten zeigt sich in ihrer Reaktion auf den Bescheid. Frau Berger akzeptiert die Ablehnung ihres Hilfegesuchs nicht. Im Gespräch mit mir weist sie zunächst den Wahrheitsanspruch des die Entscheidung begründenden Gutachtens zurück: „Alles, was da drin geschrieben ist, stimmt nicht. Also das meiste.“ Dabei führt sie Argumente ins Feld, die sich im Wesentlichen zu drei Strängen ordnen lassen. Erstens führt sie die Unwahrheit der Aussagen im Gutachten auf ein Empiriedefizit zurück, präziser: auf einen Mangel an sinnlichen Rohdaten: „Das sind so Urteile … vom Sitzen aus, nichts gesehen, aber urteilen.“ So stehe im Gutachten unter anderem, dass das Waschbecken mit dem Rollator „unterfahrbar“ sei, obwohl die Gutachterin weder das Bad noch sie selbst bei ihrer Fortbewegung mit dem Rollator gesehen habe:

Die Gutachterin habe doch nur gesehen, wie sie vom Stuhl bis zur Tür gelaufen sei. Und die Gutachterin bei der letzten [ebenfalls gescheiterten] Begutachtung habe „auf ihrem dicken Hintern gehockt und nur beurteilt.“ „Wenn sie mal aufgestanden wär’, und hätt’ mich mal in der Wohnung rumlaufen sehen oder mit dem Rollator ins Bad gehen …“

Zweitens macht Frau Berger eine fehlende Passung zwischen dem Kriterienkatalog des standardisierten Fragebogens und ihrem individuellen Fall für das Scheitern des Antrags verantwortlich. So ist sie der Auffassung, dass „so vieles nicht berücksichtigt worden“ sei und „die Fragen, die der MDK gefragt hat“, für sie „nicht infrage kommen“, weil ihre Krankheit „was ganz anderes“ sei.[17] Drittens beklagt sie Fehlinterpretationen. Sie verdächtigt den MDK einer „Hermeneutik des Verdachts“ (Bude 1994): „Weil ich keine Tabletten nehme und keine Medikamente – na, da ist man bei denen gesund.“[18] Wie wir gesehen haben, ist die Logik des Begutachtungsinstruments aber eine andere: Insofern es Selbständigkeit über den Bedarf an „personeller Hilfe“ operationalisiert, schließt es nicht in die „Tiefe“ (Bude 1994: 121 f.), dass Frau Berger eigentlich gesund ist, sondern ganz ‚flach‘, dass sie bei der Einnahme von Medikamenten keine Hilfe braucht, weil sie ohnehin keine Medikamente nimmt.

Neben dem Wahrheitsanspruch des Gutachtens bestreitet Frau Berger aber auch die normative Richtigkeit der Entscheidung der Pflegekasse. Sie findet es „eine Unverschämtheit, wie da beurteilt wird.“ Als wir während unseres Gesprächs darauf zu sprechen kommen, dass sie laut Gutachten selbständig essen kann, schildert sie mir, wie anstrengend und zeitaufwändig selbst das Essen für sie sei:

Es falle ihr schwer, die Hand bis zum Mund zu heben, und sie müsse sich dabei am Tisch abstützen. Es sei mühsam, selbst kleine Bissen herunterzuschlucken, und sie müsse sich sehr viel Zeit dabei lassen, da auch ihre Schluckmuskulatur von ihrer Nervenkrankheit betroffen sei, und sie daher Angst habe, an Lebensmitteln zu ersticken. „Da würden jetzt vielleicht andere sagen ‚ich kann nicht‘, und lassen sich füttern.“ Aber Sie habe ihr Leben lang „immer irgendwie ein Loch gefunden, wie es geht! Aber dafür wird man gestraft.“

Ihre Äußerung zeigt zunächst, dass Frau Berger Selbständigkeit als Wert begreift: Sie ist stolz darauf, Dinge selbst zu tun, und missbilligt es, wenn andere sich ohne Not helfen lassen. Zum einen fragt sich nun, weshalb sie Hilfe beantragt, obwohl sie sich selbst helfen kann. Tatsächlich hat sie ein anderes Verständnis als der MDK davon, was „noch geht“. In ihren Augen rechtfertigt die Tatsache, dass sie vieles noch selbst erledigt, nicht, dass sie keine Hilfe bekommt. Zwar findet sie oft „ein Loch […], wie es geht“ – schon allein, „weil niemand da ist“ –, aber es kostet sie viel Kraft und Zeit, bereitet ihr Schmerzen und macht ihr Angst. All diese Aspekte spielen in den Begutachtungsrichtlinien des MDK kaum eine Rolle. Er misst, was motorisch und kognitiv möglich ist. Das leibliche Erleben der Selbstpflege liegt schlicht unterhalb der Messschwelle des Begutachtungsinstruments. Hinzu kommt in Frau Bergers Fall, dass ihre lebensbedrohliche Erkrankung anerkanntermaßen umso schneller voranschreitet, je mehr ihre Muskulatur und damit ihre Nerven strapaziert werden. Sie zahlt für ihre prekäre Selbständigkeit also einen hohen Preis: den Selbstverschleiß.

Zum anderen stellt sich die Frage, weshalb die Pflegebegutachtung Frau Berger nicht in ein Dilemma zwischen Imagepflege und Hilfebedarf bringt, obwohl sie doch stolz auf ihre Selbständigkeit ist. Wir haben schließlich gesehen, dass sie in der Begutachtungsinteraktion kein Image als Selbständige pflegt, sondern im Gegenteil ihre Auskünfte und körperlichen Darstellungen darauf abstellt, ihre körperliche Schwäche zur Geltung zu bringen. Die naheliegendste Erklärung dafür ist, dass sie ihren Stolz aus pragmatischen Erwägungen zurückstellt und einen Gesichtsverlust stillschweigend in Kauf nimmt. Und in der Tat verbindet sie mit dem Höherstufungsantrag auch einen praktischen Nutzen. So zählt sie im Gespräch mit mir auf, wofür ihre Haushaltshilfen nicht genug Zeit haben (Fenster putzen, kochen, telefonieren, Getränke einschenken) und klagt dann: „Ich kann sie ja nicht bezahlen. Sabine [die Tochter] zahlt schon drauf. 316 Euro langt doch gar nicht!“ Sie teilt insofern die „Perspektive der Angehörigen“.

In ihrer Reaktion auf die Ablehnung zeigt sich aber, dass die Verweigerung der Hilfeleistung für sie nicht nur einen praktischen Nachteil (etwa bei gleichzeitigem ‚Gesichtsgewinn‘) darstellt, sondern auch eine persönliche Kränkung. Sie empfindet sie als Strafe („dafür wird man gestraft“) für ihre (Lebens-)Leistung. Diese moralische Perspektive auf die Pflegebegutachtung wirft neues Licht auf eine Sequenz in der Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter vor Ankunft der Gutachterin:

Sie verstehe sie ja, sagt die Tochter, sie sei „mit dem Ganzen groß geworden“ und wisse um die Probleme, aber „die“ wüssten es nicht. Ja, sagt Frau Berger: „und ich hab’ mein Leben trotzdem gemeistert.“

Ihre körperlichen Defekte und alltagspraktischen Probleme sind deshalb nichts, was sie schamhaft verstecken würde, weil mit den Herausforderungen auch ihre Lebensleistung wächst – sie hat ihr Leben trotzdem gemeistert. Entscheidend bei der Bewertung dieser Leistung ist nicht nur der Output, sondern vor allem auch das Ausmaß ihrer Probleme, an dem sich der Input messen lässt. Hilfe anzunehmen ist für sie daher keine Schmach. Im Gegenteil: Der höhere Pflegegrad wäre für sie neben einer alltagspraktischen Erleichterung auch eine Anerkennung ihrer Leistungen.

Dass ihr die Kasse nun bescheinigt, dass sie keine Hilfe braucht, nimmt Frau Berger nicht etwa als Kompliment. Stattdessen spiegelt die Kasse ihr damit, dass ihre Probleme nicht so gravierend sind, wie sie behauptet. Die Ablehnung ist in Frau Bergers Augen keine Würdigung ihrer Selbständigkeit, sondern entwertet ihre tagtäglichen und lebenslangen Leistungen der Selbst-Hilfe. Die Begutachtete macht ihren Wert also auf genau umgekehrte Weise vom Begutachtungsergebnis abhängig, als der Topos des falschen Stolzes erwarten ließ: Nicht die Zuschreibung von Unselbständigkeit bedroht ihr Gesicht, sondern die Zurückweisung ihres Hilfeanspruchs. Sie bemüht dabei weniger den Wert der Selbständigkeit als den der Leistung.

Ihre Reaktion auf den ablehnenden Bescheid zeigt insgesamt, dass Frau Berger die Pflegebegutachtung sowohl als epistemisches Verfahren ernst nimmt, als auch als Mittel zu einem attraktiven Gut, als auch als Bewertung ihrer Person. Sie vereint in gewissem Sinne die drei Perspektiven, die in der Pflegebegutachtung strukturell angelegt sind. Das Begutachtungsergebnis enttäuscht sie folglich in gleich mehreren Hinsichten: Es ist in ihren Augen sowohl unwahr als auch unbrauchbar als auch entwürdigend.

9 Schluss: Ambivalenz der Pflegebegutachtung und Agency der Bewertung

Die Pflegebegutachtung ist auf den ersten Blick ein Bewertungsverfahren: Eine Organisation vergibt Punkte für den Grad der Selbständigkeit von Personen und an das Resultat sind unter anderem Geldzahlungen geknüpft. Ungewöhnlich daran ist zunächst, wie die Skala gepolt ist: Je unselbständiger, desto mehr Punkte. Fast scheint es sich um eine Art Gegenstück zum modernen Leistungssport zu handeln – eine Prämierung körperlichen Versagens nach dem Motto ‚niedriger, langsamer, kürzer‘. Bei genauerem Hinsehen ergibt sich die Ambivalenz des Phänomens aus einer Differenz von Perspektiven, die wiederum bevorzugt von bestimmten Teilnehmerinnen eingenommen werden, die auf spezifische Weisen zum Verfahren positioniert sind.

Die Perspektiven und ‚Werte‘ der Pflegebegutachtung

Aus der Perspektive der begutachtenden Organisation ermittelt die Pflegebegutachtung einen Sachverhalt. Sie „bewertet“, insofern ihr methodisch geschultes Personal nach wissenschaftlich fundierten Richtlinien Aspekten dieses Sachverhalts Zahlen zuordnet, die ein automatisierter „Bewertungsalgorithmus“ dann zu einem Gesamtwert verrechnet. Die Werte, die sie den begutachteten Personen zuordnet, sind Messwerte. Angehörige können die Begutachtung rein instrumentell handhaben: als ‚Ticket‘ zu (mehr) Versicherungsleistungen. Ein hoher Messwert und damit eine geringe Selbständigkeit ist aus dieser Perspektive ‚gut‘ in einem pragmatischen Sinne: als zweckdienliches Mittel. Begutachtete können diese Perspektive teilen. Oft fassen sie das Begutachtungsergebnis – zusätzlich oder stattdessen – aber auch als Bewertung ihrer Person auf. Typischerweise orientieren sie sich dabei am gesellschaftlichen Wert der Selbständigkeit und empfinden dementsprechend die Zuschreibung von Selbständigkeit als Wertschätzung, die von Unselbständigkeit als Geringschätzung.

Es zeigt sich also, dass die vermeintlichen Bewertenden Selbständigkeit nicht als Leistung oder Qualität konzipieren, das heißt ihrem Selbstverständnis nach weder Wert zuschreiben noch Wert abschätzen. Es sind die vermeintlich Bewerteten, die ihren Wert ins Spiel bringen und vom Ergebnis der Begutachtung abhängig machen, während zudem Dritte beteiligt sind, die das Begutachtungsergebnis gar nicht als Wertabschätzung oder Tatsachenfeststellung auf einen Gegenstand beziehen, sondern als Mittel auf einen Zweck. Wert im engeren Sinne eines nicht weiter begründungsbedürftigen Selbstzwecks (Heinich 2020: 219 ff.) steht also nur aus der Perspektive der Begutachteten auf dem Spiel.

Dass die Begutachteten sich häufig bewertet fühlen, ist dabei kein Zufall, sondern liegt zum einen in der ‚Werthaltigkeit‘ des Gegenstands der Begutachtung begründet, von welcher der MDK gerade abzusehen versucht: Selbständigkeit ist ein gesellschaftlicher Wert, d. h. einer von vielen „Werten im Plural“, die „die jeweilige singuläre Bestimmung des Wertes einer Entität beeinflussen“ (Krüger & Reinhart 2016: 490; vgl. Heinich 2020: 2017 ff.). Wäre es damit bereits getan, hätte die Pflegebegutachtung dasselbe Problem wie die empirische Sozialforschung, wenn sie „heikle Fragen“ stellt: soziale Erwünschtheit. Doch darüber hinaus hat das in der Pflegebegutachtung produzierte Wissen einen ‚entscheidenden‘ Charakter. Die Pflegebegutachtung ist keine Datenerhebung zu Forschungszwecken, sondern eine ausschlaggebende Station in der Anbahnung sozialstaatlicher Leistungen. Während für Studienteilnehmerinnen bestimmte Antworten situativ peinlich sind, sind sie für Begutachtete in der Pflegebegutachtung nachhaltig nachteilig. Die Praktik hält also strukturell eine Position für eine nutzenmaximierende Akteurin vor, die oft von Angehörigen eingenommen wird.

Hilfe als Stigma

Das begehrte Gut, der Nutzen, zu dem die Pflegebegutachtung ein zweckdienliches Mittel darstellt, ist nun nicht irgendeiner, sondern Pflege und damit eine Art von Hilfe. Die soziale Form der Hilfe zeichnet sich dadurch aus, dass eine nimmt, ohne zu geben, und die andere gibt, ohne zu nehmen. Vor dem Hintergrund der modernen Subjektform der souveränen Akteurin, die ihren Bedarf auf dem Markt im Tausch gegen andere Güter oder für Geld deckt, erscheint eine solche Leistung ohne Gegenleistung nicht nur als Mangel, sondern auch als Makel auf Seiten der Empfängerin (vgl. Behrens 2002: 27 f.). Darüber hinaus erzeugt Hilfe als soziale Beziehung beinahe zwangsläufig eine gewisse Öffentlichkeit für die Nöte, die sie lindern will. Dirk Baecker hat in diesem Zusammenhang auf den potenziell stigmatisierenden Charakter der Hilfe hingewiesen (vgl. 1994: 94). Vor diesem Hintergrund ist es also gut, Hilfe zu bekommen, aber schlecht, sie zu brauchen. Diese Ambivalenz der Hilfe färbt auf die Pflegebegutachtung ab, die als vorgeschaltetes epistemisches Verfahren die Sichtbarkeit der Bedürftigkeit noch steigert, zumal sie auf Interaktion als Erhebungsformat setzt und somit die Explizitheit und Taktlosigkeit eines Verfahrens mit der rituellen Verwundbarkeit von Personen in körperlicher Kopräsenz kombiniert. Die Ambivalenz kann sich folglich zum Dilemma oder zum sozialen Konflikt zwischen Angehörigen und Begutachteten zuspitzen: „Die Markierung der Hilfsbedürftigkeit schiebt sich vor die Möglichkeit der Hilfe“ (Baecker 1994: 93). Die Kopplung von Hilfe an eine Messung verbindet also drei Arten von „Wert“ in einem weiten Sinne: Sie macht Unselbständigkeit zu einem Messwert und einem nützlichen Mittel und kollidiert dadurch mit Selbständigkeit als gesellschaftlichem Wert.

Hilfe als Anerkennung

Das Charakteristische des vorliegenden Falles ist nun, dass die Begutachtete die Zuschreibung von Hilfsbedürftigkeit als Anerkennung umdeutet. Nicht nur sind sie und die Pflegeversicherung uneins darüber, welche Kriterien legitime Bedürftigkeit konstituieren, d. h. ob beispielsweise Schmerzen und eine zu befürchtende Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes Hilfeleistungen rechtfertigen. Sondern Bedürftigkeit erhält darüber hinaus für die Begutachtete eine weitere Bedeutung: Sie betrachtet das Ausmaß des festgestellten Hilfebedarfs als Gradmesser ihrer Leistung der Selbsthilfe. Dadurch löst sie die Spannung zwischen dem Nutzen der Versicherungsleistungen und dem Wert der Selbständigkeit auf und kann sich der Begutachtung ‚hingeben‘: Sie will erkannt (gesehen, verstanden) werden, um anerkannt zu werden (vgl. Krüger & Hesselmann 2020: 151 ff. und Honneth 2012). Indem sie das Register der Leistungsgerechtigkeit zieht, deutet sie allerdings vorbei an der Logik der Hilfe, die sie auf der anderen Seite selbst mobilisiert, und in der das primäre Kriterium für Allokationsentscheidungen nicht Leistung, sondern Bedürfnis ist (vgl. Elster 1990 und Behrens 2002).

Bewertung ohne Bewertende?

Die Einzelfallanalyse zur Pflegebegutachtung wirft konzeptuelle Fragen an die Soziologie der Bewertung auf. Wie sich gezeigt hat, ist die Pflegebegutachtung ein Verfahren, das sich bemüht, eine Messung zu sein, aber den ‚Konstruktionsfehler‘ hat, über den Zugang zu Hilfe mitzuentscheiden. Es gerät daher leicht zur Bewertung, wenn sein Objekt seinen Wert an ihm festmacht.[19] Diese Konstellation macht zunächst darauf aufmerksam, dass nicht jedes „Humanmessen“ (Kalthoff 1996: 109) ein Bewerten ist. Der Forschungsgegenstand unterläuft darüber hinaus die Unterscheidung zwischen Bewertenden und Bewerteten. In dieser Unterscheidung mag ein konzeptueller Grund liegen für den empirischen ‚Bewertendenbias‘ der Bewertungssoziologie. Sie konzipiert Bewertung als das, was Bewertende tun, und denkt das Bewertete als passives Objekt.[20] Dann liegt es nahe, den Ort der Bewertung forschend in der Praxis der Bewertenden zu suchen – was gäbe es auf der anderen Seite auch zu sehen? Die Bewertungssoziologie arbeitet also mit einer Art Täter-Opfer-Modell der Bewertung, in dem die Bewertenden in eine Welt unschuldiger und wertfreier Objekte hineinwerten. In der Pflegebegutachtung ist eine subtilere Verteilung der Agency der Bewertung am Werke. Bewertung findet statt, doch weder bewertet der MDK die Begutachtete, noch bewertet diese sich selbst. Vielmehr produziert ersterer Wissen über etwas, das letzterer etwas wert ist, und an dem sie ihren Wert festmacht. Niemand „bewertet“ und am Ende verliert doch jemand ihr Gesicht. Eine derart verteilte Agency bringt das gängige, latent handlungstheoretische Verständnis von Bewertung an seine Grenzen. Die Pflegebegutachtung lässt sich nicht als Bewertungspraktik bzw. Bewertungsverfahren konzipieren. Beides sind gängige Begriffe, mit denen die Soziologie der Bewertung ihre Gegenstände bezeichnet. Als Kulturtechniken (Reckwitz 2010) implizieren Praktiken Zweckgerichtetheit und als „ways of doing“ (Hirschauer 2016: 60; Herv. P.L.) evozieren sie handelnde oder sich verhaltende Menschen[21], und auch der Begriff des Verfahrens ist nah an der zweckrationalen „Methode“ gebaut. Doch weder ist Bewertung der Zweck der Pflegebegutachtung, noch ist sie etwas, das die Gutachterinnen, Angehörigen oder Begutachteten tun. Der Bewertungscharakter der Pflegebegutachtung ist vielmehr ein emergenter Effekt des Zusammentreffens eines gesellschaftlichen Wertes, eines praktischen Interesses und eines epistemischen Verfahrens sowie der Verhaltensweisen und Perspektiven mehrerer Akteurinnen. Um dieser uneindeutigen Urheberschaft der Bewertung konzeptuell Rechnung zu tragen, böte sich der Begriff des „Bewertungsgeschehens“ an, den Meier et al. (2016) eher en passant einführen. Eine solche begriffliche Verschiebung könnte den Blick auf die Frage lenken, aus wessen Perspektive die Gegenstände der Bewertungsforschung überhaupt Bewertungen sind und woher sie ihren Bewertungscharakter beziehen.

Ausblick: die Arbeit am Begutachtungsinstrument

Dieser Aufsatz hat sich auf die Begutachtungsinteraktion und damit auf ein situatives Bewertungsgeschehen konzentriert. Dessen Einbettung in den institutionellen Zusammenhang sozialstaatlicher Ressourcenallokation konnte er nur am Rande streifen. Wollte man neben der Perspektivität des Bewertungsgeschehens seinen „transsituativen“ (Meier et al. 2016) Aspekt in den Blick nehmen, müsste man die „Arbeit an“ im Gegensatz zur „Arbeit mit“ (Schäfer 2016) den Kriterien des Begutachtungsinstruments fokussieren. Sichtbar wurde diese unter anderem in den politischen, wissenschaftlich vorbereiteten Entstehungs- und Reformprozessen des SGB XI, die das Begutachtungsverfahren in seiner jetzigen Form hervorgebracht haben (Hallensleben 2004). An dieser Stelle träten auch die der eigentlichen Begutachtung vorgelagerten „Prozesse des Wertens“ (Nicolae et al. 2019) zutage. Zum einen handelt es sich bei dem Begutachtungsinstrument um einen Katalog an Fähigkeiten und Tätigkeiten, die eine sozial akzeptable Person mindestens beherrschen sollte: Selbständig im Sinne des SGB XI ist man in erster Linie dann, wenn man den eigenen Körper instand halten kann. Zum anderen regelt das Instrument, welche Bedürfnisse dem Staat bzw. der „Solidargemeinschaft“ wie viel wert sind.


Danksagung

Ich danke Frau Berger, die mich an ihrem Leben nicht nur als Forscher hat teilhaben lassen, sowie allen anderen Studienteilnehmerinnen. Mitgeformt haben diesen Text die Teilnehmerinnen der Tagung „Accounting von Körperbewegungen“ in Eichstätt und des Colloquiums Praxisforschung in Mainz, insbesondere aber Stefan Hirschauer, Max Weigelin und die Herausgeberinnen und Gutachterinnen dieser Zeitschrift. Die Studienstiftung des deutschen Volkes finanzierte einen Teil der Forschung.


About the author

Philip Lambrix

Philip Lambrix, geb. 1989 in Ludwigshafen am Rhein. 2008–2015 Studium der Soziologie und Europäischen Literatur in Mainz und Paris. 2015–2017 sowie seit 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Mainz. 2017–2020 Promotionsstipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. Forschungsschwerpunkte: Interaktion, Körper, Agency, Alter(n), Kindheit, Pflege/Hilfe, Praxistheorien. Publikationen: Ungeahnte Un/Fähigkeiten. Die Kehrseite körpersoziologischer Kompetenzorientierung. Österreichische Zeitschrift für Soziologie 44, 2019 (Mitherausgeber). Laufen. S. 216–221 in: J. Hasse & V. Schreiber (Hrsg.), Räume der Kindheit. Ein Glossar. Bielefeld: transcript (2019).

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Published Online: 2022-10-01
Published in Print: 2022-09-30

© 2022 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.

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