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Publicly Available Published by De Gruyter June 15, 2016

Eva-Maria Roelevink: Organisierte Intransparenz. Das Kohlensyndikat und der Niederländische Markt 1915–1932. München: Beck Verlag (2015), 407 S., 84,00 €.

Besprochen von: Holm Arno Leonhardt, Hildesheim

DOI 10.1515/zfw-2016-0017

Eva-Maria Roelevink ist Mitarbeiterin am Lehrstuhl Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte der Universität Bochum. Das Buch ist eine „leicht gekürzte“ Dissertation der Fakultät Geschichtswissenschaft (Oktober 2013) und basiert schwerpunktmäßig auf Aktenbeständen des Bochumer Bergbauarchivs, ergänzt durch Material aus sieben weiteren deutschen und niederländischen Archiven. Roelevink studierte Geschichte und Sozialpsychologie und erforscht seit Jahren die Stellung des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats (RWKS) auf dem niederländischen Markt, bezogen auf die langen 1920er Jahre. Die vorgelegte Fallstudie beschreibt für die Jahre 1915–1932 den Absatz der Ruhrkohle auf dem niederländischen Markt. Das Werk ist in drei Hauptteile gegliedert: das „RWKS“, „RWKS und SHV“ (=Steenkolen-Handelsvereeniging) und das „Handeln im syndizierten Kontext“.

Das Thema des Buches ist räumlich und zeitlich stark eingegrenzt. Es ist aber wegen des paradigmatischen Rangs des RWKS („Idealkartell der Welt“) und der strategischen Stellung der Ruhrkohle wirtschaftsgeschichtlich und wirtschaftsgeographisch wichtig, u. a. aus Sicht der „varieties of capitalism“. Anzumerken ist, dass das rheinische Kohlenkartell den niederländischen Markt nicht monopolistisch beherrschte, sondern nur eine starke Stellung in ihm einnahm. Es handelte sich um ein Großkartell mit (1915) 85 Mitgliedern (S. 56). Die Ruhrkohle konkurrierte mit der einheimischen niederländischen sowie der importierten britischen und belgischen Kohle. Das RWKS verstand es, sich durch eine geschickte, akribische Organisation des Absatzes Vorteile zu erarbeiten. Allerdings hatte sich das Syndikat im Zuge des Ruhrkampfs gegen die Franzosen selbst geschwächt, indem es 1923 seine Verkaufsvorrechte an die Zechen abgegeben hatte (S. 146).

Roelevink untersucht die am Kohlenmarkt beteiligten Akteure (Syndikatsleitung, Handelsgesellschaften, einzelne Unternehmen, staatliche Instanzen) und analysiert ihre Entscheidungen in einem von Krisen geprägten Umfeld. Sie geht auf die Faktoren der Konkurrenzkraft und Verhandlungsmacht des deutschen Kohlenkartells und seiner (meist) niederländischen Partner und Gegenspieler ein. Wesentlich waren: die Geologie (die Abbauverhältnisse und Kohlequalität), die Verkehrsgeographie (in Gestalt vorhandener oder begrenzter Infrastruktur) und die unternehmerische Organisation und Geschäftspolitik. Roelevink konzentriert sich auf die unternehmerische und institutionelle Ebene, auf die Interaktionen der Akteure, die jeweils eigene Zielsetzungen und Optimierungsstrategien verfolgten. Das Ergebnis ist eine in ihrer Faktendichte bemerkenswerte Studie. Der Leser wird in die Welt kooperativen, nichtliberalen Wirtschaftens eingeführt, in Kalküle, durch Organisation und Absprachen Märkte im eigenen Sinne zu gestalten. Da über das RWKS, das vormals berühmteste Kartell der Welt, bislang keine umfassende auf Archivmaterial basierende Studie erschienen ist, kommt Roelevinks Werk eine gewisse Alleinstellung zu. Verlag und Autorin formulieren den Anspruch der Arbeit auch selbstbewusst: „Die Macht des Kartells, die Struktur des RWKS und Kartellierungseffekte im Allgemeinen erfahren so […] eine vollständige Neubewertung“ (Buchrückseite).

Ein Leser, der sich Aufschluss erhofft über die Frage der wirtschaftlichen Nützlichkeit oder Schädlichkeit der Kohlekartellierung, wird von Roelevink enttäuscht. Die Autorin liefert zwar zahllose Belege wirtschaftlichen, gewinnorientierten Verhaltens, aber keine quantifizierende Übersicht (wenigstens in Gestalt einer Modellrechnung) über die realisierten Ersparnisse, Profite oder Mehrbelastungen. Roelevink vergibt damit die Chance, sich zu einem Zentralthema der ‚varieties of capitalism‘ (der Auswirkungen der Kartellierung) maßgeblich zu äußern.

Roelevink begrüßt „die von der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte grundsätzlich gehegte Zurückhaltung gegenüber einer normativen Verurteilung“ der Kartelle (S. 31). Nun war das RWKS auch kein Kartell im üblichen Sinne, hatte keine Monopolmacht: Dieser Zusammenschluss genoss (wie alle Kohlensyndikate im Deutschen Reich) keinen Gebietsschutz; lediglich Transportkostenunterschiede und eine überlegene Organisiertheit des Absatzes schufen realiter „unbestrittene Gebiete“ (S. 11). Die Autorin distanziert sich mehrfach vom heutigen negativen Kartellklischee (S. 9, 41, 42). Dennoch kommen Zweifel an ihrer Vorurteilsfreiheit auf: In wesentlichen Konnotationen und Schlussfolgerungen wie auch in der Literaturauswahl sind Herabsetzungen der untersuchten Wirtschaftsform und der sie analysierenden Theorie erkennbar.

Stark ist Roelevink dann, wenn sie sich eng an die archivalischen Fakten hält. Überzeugend (wenn auch nicht immer kohärent lesbar) ist ihr Nachweis, wie sich ab 1915 ein kleiner Kreis starker Syndikatsmitglieder dem Thema der Absatzkartellierung bemächtigte, die große Mehrheit der Mitglieder von einschlägigen Informationen („Organisierte Intransparenz“) ausschloss und egoistische, selbstbegünstigende Strategien verfolgte. Erst 1931 konnte jene Krise des Syndikats überwunden und das Absatzmonopol des RWKS wiederhergestellt werden (S. 176).

Roelevink zeigt bei der wissenschaftstheoretischen Fundierung ihrer Arbeit Schwächen. Sie verfolge einen offenen, nur „theoriegebundenen“ Ansatz, der einer „theoretischen Weiterentwicklung“ diene (S. 30). Kartelltheoretische Schriften lehne sie ab; diese seien „normativ aufgeladen“(S. 31) und „holistisch“ (S. 29, 50). Roelevink stützt sich stattdessen auf Luhmanns Systemtheorie (die als Systemtheorie aber kaum ‚unholistisch‘ sein kann). Die Autorin lehnt eine Reihe von Kartelldefinitionen (S. 50) ab und nimmt stattdessen eine „differenztheoretischen Definition des RWKS“ vor (S. 52–57), wofür sie als Grundbegriffe technische Metaphern bevorzugt. So wird das Kohlenkartell außer zum „Funktionskörper“ auch zum „Resonanzkörper“ (der Interessenaushandlung). Sie bezeichnet die syndikatsinternen Verhaltensregeln als eine „Klaviatur“ (S. 53) mit „einem semantisch chiffrierten System von Zuständigkeitskreisen“. Der Leser erfährt, dass Roelevink nunmehr „die Binnenordnung des RWKS dechiffriert [habe] und damit erstmals der Schleier um seine abstrakte Syndikatsordnung gelüftet“ sei (Buchrückseite). – Dabei hatten klassische Kartellautoren die angeblich so geheimnisvollen Syndikatsbegriffe wie „Beteiligungsziffer“, „Verrechnungspreise“, „Auslandskohlenpreise“, „Pechzuschläge“ (S. 54) durchaus noch verstehen können. Wenn Roelevink konstatiert, „[…] eine überaus komplexe Ordnung [würde] sichtbar, die selbst den Beteiligten alles andere als sichtbar war“ und „ganz enorme Auswirkungen“ hatte (S. 336), wirkt dies unangemessen übertrieben. Was das Ethos und Innenleben der Kartelle anging, ignoriert die Autorin außerdem Befunde, die bereits Anfang des 20. Jh. bestanden (z. B. von Schmoller) und Ansätze einer „Kartellsoziologie“ hervorbrachten.

Die Autorin postuliert als Hauptthese ihrer Arbeit eine allgemeine „Organisierte Intransparenz“ des Syndikats, eine Wortverbindung, die sie 86-mal (!) im Textkorpus verwendet. Sie weitet dazu den richtigen Befund einer Unterdrückung von Informationen durch eine Syndikatselite maximal aus. Es handele sich um ein allgemeines Prinzip des Kartells, um die Kommunikationspolitik der Kartellmitglieder, Syndikatsinterna, insbesondere über die Feinheiten der Absatzorganisation, nicht nach außen treten zu lassen (S. 52–53). Damit hat sie sich selbst einen normativen Begriff geschaffen, den sie zugleich analytisch (im Sinne von Kommunikationsverhältnisse) als auch ergebnisbeschreibend (im Sinne von Informationsunterdrückung) verwendet. Auch mit anderen Abwertungen verstößt Roelevink gegen ihr Selbstverständnis einer Neutralität gegenüber Kartellen. Sie macht das RWKS definitiv zum Popanz, indem sie resümiert: Es sei ein Syndikat, das 1893 von „einigen berüchtigten Ruhrindustriellen“ gegründet wurde und für eine „gnadenlose und strenge Beherrschung des Kohlengroßhandels“ (Buchrückseite) stand. Sie spricht im Zusammenhang mit der SHV von den „Fängen des drakonisch herrschenden und strafenden Syndikats“ (S. 347). Sie relativiert ihre Befunde nicht, eicht diese an keinem Maßstab für unternehmerisches Verhalten, was nötig gewesen wäre: Zu keiner Zeit in der Geschichte des Kapitalismus haben Unternehmer ihre Handelspartner besonders geschont oder Transparenz über ihre Geschäfte als Verpflichtung aufgefasst. Im Gegenteil wurden und werden Informationen, welche die Wettbewerbsstellung eines Unternehmens betreffen, als Geschäftsgeheimnis aufgefasst. So wie das Bankhaus Rothschild 1815 seine Spekulation mit britischen Staatsanleihen nicht „transparent“ machte, gibt es für heutige Unternehmen Gründe, ihre Geschäftsinterna nicht offenzulegen (die bisweilen doch öffentlich werden, etwa Manipulationen an Umweltstandards oder inhumane Arbeitsbedingungen). So greift die These von einer allgemeinen „Organisierten Intransparenz“ des Kohlensyndikats zu kurz, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als banal, als Ergebnis eines typischen Unternehmeregoismus resp. einer naheliegenden Informationspolitik.

Die Autorin stellt mehrfach die „Macht“ der Kartelle respektive des Kohlensyndikats heraus, ohne zu definieren, was darunter jeweils zu verstehen sei. Manche Zuschreibungen sind außerdem unhistorisch: Ihre Darstellung des RWKS als alles verschlingender Krake (so die unkommentierte Abbildung S. 5) entsprach lediglich dem Vorkriegsimage des Syndikats. Die Umbewertung des RWKS in der öffentlichen Meinung während des Ersten Weltkriegs reflektiert die Autorin nicht hinreichend. 1916/17 stieg der Staat Preußen mit 10 % Beteiligung in das Kohlensyndikat ein. In der Folgezeit wurde das RWKS im öffentlichen Verständnis als Kraftquelle der Nation und patriotischer Besitzstand aufgefasst, den es zu verteidigen gälte. – Handelte es sich bei „Kartellmacht“ um Durchsetzungsfähigkeit zugunsten einer Syndikatszentrale oder auch anderer Interessen, insbesondere des Staates? – „Organisierte Intransparenz“ von E.-M. Roelevink könnte – außer als Fallstudie über den holländischen Kohlemarkt der 1920er Jahre – vor allem als Fundgrube für manches Detail der Geschichte des rheinisch-westfälischen Kohlensyndikats nützlich sein. In seinen generalisierenden Aussagen über das RWKS als Kartell respektive über das Kartellwesen insgesamt ist das Werk jedoch irreführend.

Online erschienen: 2016-6-15
Erschienen im Druck: 2016-6-1

© 2016 by De Gruyter

Downloaded on 5.12.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zfw-2016-0017/html
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