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Publicly Available Published by De Gruyter June 15, 2016

Beckert, Sven: King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus. München: Verlag C.H. Beck 2014, 525 S., 29,95 €. Scholl, Lars U./Slotta, Rainer (Hrsg.): Abenteuer Salpeter. Gewinnung und Nutzung eines Rohstoffs in der chilenischen Atacamawüste. Bremen: Edition Falkenberg 2014, 168 S., 184 Abb., 22,90 €.

Besprochen von: Helmut Schneider, Duisburg-Essen

DOI 10.1515/zfw-2016-0018

Zu den obligatorischen Lehrveranstaltungen eines (Wirtschafts)Geographiestudiums gehörte früher an vielen Universitäten eine sogenannte Produktkunde. Dabei ging es meist um die rein deskriptive Bestandsaufnahme landwirtschaftlicher und bergbaulicher Produkte rund um den Erdball: Besonders motivierend und weiterführend war diese Was gibt es wo?-Kunde freilich nicht. Dass es aber auch ganz anders, nämlich inspirierend, erkenntnisfördernd und teilweise regelrecht spannend gehen kann, belegen, auf unterschiedliche Weise, die beiden hier anzuzeigenden Publikationen. Sie machen am Beispiel von Baumwolle und Salpeter, einem agrarischen und einem mineralischen Rohstoff, nicht nur die historischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen der Inwertsetzung und Nutzung beider Ressourcen deutlich, sondern sie zeigen auch die davon ausgelösten Prozesse struktureller Veränderungen in Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur auf, die von der lokalen bis zur globalen Maßstabsebene reichen. Die Beschränkung vieler wirtschaftshistorischer und -geographischer Darstellungen auf bestimmte Regionen und/oder Epochen wird damit durchbrochen.

Besonders überzeugend gelingt dies dem in Harvard lehrenden Historiker Sven Beckert. Seine auf der Auswertung umfangreichen Archivmaterials beruhende Geschichte der Inwertsetzung und Nutzung der Baumwolle ist zugleich eine Globalgeschichte des Kapitalismus. Sie macht deutlich, „dass der Kapitalismus schon seit seinen Anfängen weltumspannend war und dass die räumlichen Strukturen der Weltwirtschaft bereits in den letzten fünf Jahrhunderten einem steten Wandel unterlagen.“ (17) Für die Entfaltung der neuen Produktionsweise hat die Baumwolle und ihre industrielle Verarbeitung zu Textil- und Bekleidungsprodukten eine Schlüsselrolle gespielt. Die Perspektive Beckerts ist globalhistorisch, weil nicht nur bestimmte Räume, sondern die gesamte Welt in den Blick gerät, und weil die im Zeitverlauf variablen Standorte von Produktion, Handel, industrieller Verarbeitung und Vermarktung immer in ihrer globalen Vernetzung untersucht werden. Auf diese Weise entsteht ein ausgesprochen detailreiches Bild des „Baumwollimperiums“, das nach Beckert im 18. und 19. Jahrhundert Gestalt annimmt. Seine Herausbildung war nicht dem segensreichen Wirken der Marktkräfte geschuldet, sondern vielmehr das Ergebnis eines Zusammenspiels von skrupellosem Vorgehen von Kapitalbesitzern und der Ausübung staatlicher Gewalt (Einsatz von Sklaven- und Kinderarbeit, Vertreibung indigener Bevölkerungsgruppen, land grabbing, Zerstörung traditionellen Handwerks). Die historische Phase, in der das Kapital gewaltsam, „aus allen Poren blut- und schmutztriefend“ (Marx), zur Welt kommt, hatte Karl Marx als „sogenannte ursprüngliche Akkumulation“ bezeichnet. Beckert spricht von „Kriegskapitalismus“, um die Rohheit und Gewalt dieses Prozesses wie auch seine enge Verbindung zur imperialen Expansion Europas deutlich zu machen. Mit der Baumwollwirtschaft sind aber auch innovative Wirkungsketten, die Fabrikproduktion, die Entwicklung und der Einsatz von Maschinen sowie der Einsatz der Dampfkraft als Antriebsenergie verbunden, Neuerungen, die schließlich als „Initialzündung“ einer immer weiter ausgreifenden Industrialisierung gewirkt haben.

Die zweite Publikation beschäftigt sich mit dem mineralische Rohstoff Salpeter und der weltweit bedeutendsten Abbauregion im Norden Chiles, der Atacamawüste. Salpeter als zusammenfassende Bezeichnung für Natron- und Kalisalpeter eignet sich zur Herstellung von Sprengmitteln und zur Pflanzendüngung. Aber erst nachdem die Erzeugung von Kunstdünger unter Verwendung von Salpeter möglich geworden war, erlangte die Ressource eine überragende wirtschaftliche Bedeutung. Der Einsatz von Kunstdünger ermöglichte enorme Produktivitätssteigerungen in der Landwirtschaft, ohne die die im Zuge der Industrialisierung rasch wachsende Stadtbevölkerung nicht hätte ernährt werden können. Damit war auch eine sprunghaft steigende Salpeternachfrage verbunden, die in den chilenischen Abbauregionen einen gewaltigen Boom zur Folge hatte. In den Abbauregionen im Norden des Landes entstanden Aufbereitungsanlagen und Arbeiterwohnungen. Straßen, Eisenbahnlinien und Häfen wurden gebaut, um den Export der Ressource zu ermöglichen. Chile konnte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum weltweit bedeutendsten Düngemittellieferanten aufsteigen. Das Ende des Booms zeichnete sich ab, als 1913 mit dem Haber-Bosch-Verfahren die synthetische Herstellung von Salpetersäure möglich wurde. In Chile setzte ein sich rasch beschleunigender Niedergang der nicht mehr konkurrenzfähigen Salpeterwirtschaft ein. Die in der Atacamawüste errichteten Aufbereitungsanlagen, Siedlungen und Infrastrukturen wurden großenteils ökonomisch wertlos, die meisten Standorte wurden aufgegeben und verwandelten sich in „Geisterstädte“.

Am Beispiel Salpeter sind exemplarisch die strukturellen Folgen der weltmarktinduzierten Nutzung dieses Rohstoffs wie auch des Endes dieser Nutzung abzulesen. Der von L.U. Scholl und R. Slotta herausgegebene Band versammelt zahlreiche Einzelbeiträge, in denen ein breites Themenspektrum angesprochen wird: Eigenschaften, Geschichte und Gewinnung von Salpeter sowie seine exportwirtschaftliche Bedeutung werden ebenso behandelt wie die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Salpeterarbeiter, aber auch die aus der Salpeternutzung resultierenden und bis heute nachwirkenden zwischenstaatlichen Spannungen („Salpeterkrieg“ zwischen Chile, Peru und Bolivien 1879–1884). Mehrere Beiträge beschäftigen sich zudem mit der Transportlogistik (u. a. der Einsatz von Großseglern). Insgesamt erscheinen Zusammenstellung und Anordnung der Einzelbeiträge allerdings als nicht sehr systematisch. Im Unterschied zu Beckerts „King Cotton“ handelt es sich aber auch nicht um eine geschlossene Darstellung, eher um einen Werkstattbericht. Dies mindert jedoch nicht den Wert des Sammelbandes als gründliche Dokumentation der vielfältigen Aspekte, die mit der Nutzung des Rohstoffs Salpeter, aber auch mit dem Rückgang seiner ökonomischen Bedeutung verbunden waren. Zahlreiche informativen Abbildungen tragen zum dokumentarischen Wert des Bandes bei.

Beide Publikationen belegen eindrücklich die räumlich und sektoral weitgespannten Wirkungsketten, die mit der Inwertsetzung und Nutzung der Rohstoffe Baumwolle und Salpeter verknüpft sind bzw. waren. Für die Wirtschaftsgeographie sind die Beispiele aufgrund ihrer exemplarischen Bedeutung von generellem Interesse und beide Bände sollten deswegen in keiner einschlägigen Fachbibliothek fehlen.

Online erschienen: 2016-6-15
Erschienen im Druck: 2016-6-1

© 2016 by De Gruyter

Downloaded on 29.11.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zfw-2016-0018/html
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