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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter February 11, 2023

Philologische Überlegungen zu Lk 11,41 im Kontext (Lk 11,39–41)

  • Hans Förster EMAIL logo

Abstract

The text of Luke 11:41 seems to indicate a Halakhic rule according to which alms-giving causes purity. There is no textual evidence for such a rule in known Jewish traditions. An alternative translation is possible which helps us better understand Luke 11:41 within Jewish tradition.

Zusammenfassung

Die halachische Regel, dass Almosen die (kultische) Reinheit bewirken würden, die aus dem gängigen Textverständnis von Lk 11,41 abgeleitet werden kann, lässt sich nicht durch entsprechende Belege aus der jüdischen Überlieferung verifizieren. Es scheint, dass eine alternative Übersetzung möglich ist. Auf der Basis dieser Übersetzung kann Lk 11,41 im Kontext jüdischer Halacha verstanden werden.

Einleitung

Die hier zu diskutierende Stelle – Lk 11,41 – begegnet als Aussage Jesu innerhalb eines Gesprächs Jesu mit einem Pharisäer. Ausdrücklich wird festgehalten, dass Jesus bei dem Pharisäer zum Essen eingeladen war. Dabei wird von Seiten des Pharisäers thematisiert, dass Jesus vor dem Essen seine Hände nicht wäscht, was hier offensichtlich eine religiöse Reinigungshandlung darstellt (Lk 11,38). Jesu Antwort lautet in Lk 11,41 (Übersetzung der revidierten Lutherbibel 2017): „Doch gebt als Almosen von dem, was da ist; siehe, dann ist euch alles rein.“[1] Unklar ist hier, wie Almosengabe und Reinheit genau zusammenhängen. In der Diskussion wird auch auf den Weheruf im Matthäusevangelium (Mt 23,25–26) als synoptische Parallele hingewiesen.[2]

1 Die gängige Auslegung von Lk 11,41

Wie schwer der Text zu verstehen ist, wird durch eine These von Julius Wellhausen deutlich, dem beispielsweise John S. Kloppenborg[3] folgt. Wellhausen nimmt an, dass er den Text besser verständlich machen kann, indem er eine Verwechslung aramäischer Lexeme in Lk 11,41a postuliert.[4] Dieser These widerspricht Joseph Anthony Giambrone: Durch den Aufruf zum Almosengeben werde der Weheruf Jesu in den folgenden Versen 42–52 eingeleitet. Lukas habe absichtlich diese Formulierung gewählt, es könne sich demnach nicht um eine Fehldeutung eines aramäischen Textes handeln.[5]

Sehr häufig wird auf die Distanz Jesu zum Judentum hingewiesen, die durch Lk 11,41 zum Ausdruck komme. Schließlich verlieren die Kaschrut scheinbar ihre Gültigkeit. Nach Heinz Schürmann entsteht durch diese Formulierung bei Lukas ein verallgemeinernder und ungerechter Vorwurf. Dies deutet für Schürmann darauf hin, dass die Trennung zwischen dem offiziellen Judentum und dem Christentum bereits stattgefunden habe.[6] Er beschreibt die aus Lk 11,41 abzuleitende, von Jesus propagierte Ethik folgendermaßen: „Der Liebende kennt keine levitische Unreinheit mehr.“[7] Für Jacob Kremer ist das Handeln der Pharisäer, das Jesus ihnen in diesem Abschnitt bei Lukas zuschreibt, letztlich eine „Torheit von Gottlosen“.[8] Nach Helga Kramer soll der ethische Aspekt der Tora im Gegensatz zum pharisäischen Legalismus betont werden.[9] Schließlich wird, so Klaus Berger, in Lk 7,5 das Almosengeben als ein „Erkennungszeichen für das Verhältnis von Gottesfürchtigen und Proselyten zum Gottesvolk“[10] gesehen. Nach Joel B. Green ist das vorrangige Interesse Jesu in Lk 11,41, Reinheit neu zu definieren. Jesus würde damit nicht mehr zwischen „rein“ und „unrein“ im jüdischen Sinn unterscheiden, vielmehr würden soziale Barrieren niedergerissen.[11] Nach François Bovon geht es im Kern der Stelle darum, dass Gott allein durch den heiligen Geist die Herzen der Menschen reinigt und dass die wahre Moral durch den Glauben, das Erbarmen und durch die Liebe und nicht durch den Gehorsam, die Kulthandlungen oder das Gesetz verwirklicht wird.[12] Dass den Pharisäern Torheit (ἄφρονες) vorgeworfen wird, erinnere nach Josef Ernst an die jüdische Polemik der Pharisäer gegen die diesseitsorientierten und verblendeten Gottlosen. Demnach muss dieser Vorwurf hart treffen, da sich die Pharisäer (nach Röm 2,20) als die Retter der Toren sehen.[13] Für Eduard Schweizer ist die Zusammenfassung, die alle Gesetzlichkeit aufhebe, dem Verfasser des Evangeliums zuzuschreiben.[14] Auch nach Kiyoshi Mineshige ist die Frage nach der rituellen Reinheit nicht mehr relevant; wenn das Innere gereinigt sei, sei auch die äußere Reinheit leicht zu erreichen. Lukas lenke somit von der rituellen Reinigung auf eine ethische Reinigung innerhalb dieses Abschnitts, indem er die Pharisäer, die in lukanischer Sicht innerlich voll Raub und Bosheit sind, auffordert, Almosen zu geben.[15]

Nach Michael Wolter sagt Jesus den Pharisäern mit seinem Angriff, dass sie ihr Wertesystem genau verkehren, indem sie das Äußere und das Geschirr als wichtiger betrachten als ihr Inneres. Wolter sieht in der groben Darstellung der halachischen Praxis, Gefäße zu reinigen, lediglich einen rhetorischen Effekt. Bei der halachischen Praxis wurden die Gefäße immer ganz gereinigt, d. h. durch Abspülen oder Untertauchen des ganzen Gefäßes, außen und innen. Dass in Lk 11,39 davon die Rede ist, dass die Gefäße nur von außen gereinigt werden, habe keinen Realitätsbezug, da bei der Reinigung von Gefäßen kein Unterschied zwischen außen und innen gemacht wurde. Damit könne der Vorwurf Jesu auch als eine Variation der weisheitlichen Kritik an der Vernachlässigung der Ethik gegenüber dem Kultus verstanden werden. In Lk 11,41 werde den Almosen eine reinigende Wirkung zugeschrieben. Die Reinigung durch die Almosen sei wichtiger als die durch Wasser, da sie alle Dinge rein machen.[16]

Roland Deines[17] sieht die Pharisäer im Neuen Testament als Vertreter einer besonderen Halacha. Bei drei Weheworten werde auf ihr besonderes halachisches Interesse verwiesen. Eines davon ist Lk 11,39–41.[18] Hinter diesen Versen stehe die halachische Entscheidung, dass die Außen- oder Innenseite von Gefäßen hinsichtlich ihrer Unreinheit unterschieden werden könne. Demnach gelte ein Gefäß aus Ton erst dann als verunreinigt,[19] wenn ein verunreinigendes Element ins Innere kommt. Nur durch das Berühren der Außenseite wird das Gefäß aber nicht unrein. Demnach müsste nach Deines die Übersetzung von καθαρίζετε „(im halachischen Sinn) für rein erklären“ lauten.

Hans Klein[20] verweist bei Lk 11,39 auf die jüdischen Reinheitsvorschriften, die auch in Lev 11,31–35 behandelt werden: Gefäße, die für das Essen verwendet wurden, mussten erst äußerlich und von innen gereinigt werden, wenn sie mit Aas in Berührung gekommen waren. Der Vorwurf in diesem Abschnitt bei Lukas sei nun, dass teilweise weniger darauf geachtet wurde, ob der Inhalt des Gefäßes auf „saubere“ Art zustande gekommen sei. Dass Habsucht und Geldgier für Lukas die Quellen von innerer Unreinheit sind, wird durch Lk 16,13 („Wer dem Mammon dient, kann Gott nicht dienen“) belegt. Klein hält fest, dass durch Lk 11,41 Lukas deutlich machen wolle, dass man durch Almosengeben innerlich rein und frei werde.

Für Wolfgang Wiefel soll mit dieser Passage deutlich gemacht werden, dass das Rituelle nicht aufgehoben werde, sondern dass ethisches und rituelles Handeln sich nicht widersprechen. In Lk 11,41 gibt Lukas nach Wiefel eine allgemeine Weisung, die der lukanischen besitzkritischen Einstellung entspricht: Was man besitzt, soll man als Almosen geben. Nicht Habgier, sondern Hingabe mache den Menschen rein.[21] Nach Wiefel bezeichnet τὰ ἐνόντα alles Vorhandene.[22]

Aufbauend auf der herkömmlichen Übersetzung der vorliegenden Passage wird häufig eine Ethisierung der rituellen Reinheit wahrgenommen; schließlich scheint Jesus die rituellen Reinheitsvorschriften in Lk 11,41b grundsätzlich abzulehnen. Im Gegensatz dazu legten die Pharisäer sehr viel Wert auf die Erfüllung formaler Reinheitsvorschriften, wobei sie durchaus über im Judentum dieser Zeit allgemein übliche Vorschriften hinausgingen. Im folgenden Abschnitt soll nun der Vorschlag gemacht werden, dass die Übersetzung des Textes aus Sicht der griechischen Philologie präzisiert werden kann.

2 Philologische Überlegungen zu Lk 11,41

Als gängige Übersetzung von Lk 11,41 kann exemplarisch die Einheitsübersetzung 2016 zitiert werden: „Gebt lieber als Almosen, was ihr habt; und siehe, alles ist für euch rein.“ Dieser Übersetzung liegt eine implizite Syntaxanalyse zugrunde, die folgendermaßen expliziert werden kann: Im ersten Satz (Lk 11,41a: πλὴν τὰ ἐνόντα δότε ἐλεημοσύνην) dient das Partizip (τὰ ἐνόντα) als direktes Objekt des Verbs (δότε) und das artikellose Substantiv (ἐλεημοσύνην) als nähere Bestimmung des direkten Objekts, wird also attributiv gebraucht. Die Phrase in Lk 11,41b (πάντα καθαρὰ ὑμῖν ἐστιν) wird implizit als Nominalsatz mit dem Ganzheitsausdruck (πάντα) als Subjekt des Satzes und dem artikellosen Adjektiv (καθαρά) in der Funktion des Prädikatsnomens interpretiert.[23]

2.1 Überlegungen zur Syntax von Lk 11,41a

Diese Syntaxanalyse scheint einige wichtige Aspekte der griechischen Grammatik nicht ganz zu berücksichtigen.[24] Im ersten Satz (Lk 11,41a) ist das Partizip mit einem Artikel versehen, sodass es als das direkte (affizierte) Objekt zu dem Verb des Hauptsatzes verstanden werden kann. Das artikellose Substantiv erfüllt in solchen Konstruktionen die Funktion des Prädikatsnomens.[25]

Als Paradigma für diese Konstruktion kann die Phrase Βισάνθην οἴκησιν δώσω aus der Anabasis des Xenophon dienen (Xenophon, An 7.3.38). Das heißt: „Ich werde Bisanthe zu deiner Wohnstatt machen“.[26] Damit ist gezeigt, dass das Verb δίδωμι mit doppeltem Akkusativ den Sinn „etwas zu etwas machen“ hat. Die Semantik von πλήν in der vorliegenden Konstruktion wird man hier mit „nur“ bzw. „nur noch“ übertragen dürfen.

Bei Voraussetzung dieser im Griechischen gängigen Konstruktion und unter Berücksichtigung der Semantik von ἐλεημοσύνη[27] kann der erste Satz somit folgendermaßen übersetzt werden: „Macht nur noch das, was drinnen ist, zu Barmherzigkeit!“

Im Folgenden soll nun der Vorschlag gemacht werden, ἐλεημοσύνη in der Form eines Hendiadyoin mit „Gerechtigkeit und Nächstenliebe“ zu übertragen, um hierdurch bereits auf der Ebene der Übersetzung stärker deutlich zu machen, dass Jesus hier eine Frage jüdischer Frömmigkeit diskutiert. Diese Übersetzung kann sich auf einen zentralen griechischen Text des Judentums, die Septuaginta, berufen. Dort übersetzt das griechische Wort ἐλεημοσύνη sowohl den hebräischen Begriff חֶסֶד (Gen 47,29) als auch den Begriff צְדָקָה (Dtn 6,25).[28] Die Übersetzung „Almosen“ scheint hingegen der Semantik des griechischen Wortes nicht völlig gerecht zu werden, geht es doch Jesus hier wohl um die innere Haltung, die nicht durch „Raub und Bosheit“, sondern durch „Gerechtigkeit und Nächstenliebe“ gekennzeichnet sein soll.[29] Im vorliegenden Fall scheint die Übersetzung mit zwei verschiedenen deutschen Wörtern gerechtfertigt, da im Deutschen kein direktes lexikalisches Äquivalent existiert, das „Gerechtigkeit“ und „Nächstenliebe“ verbinden würde. Das hier vorgeschlagene Textverständnis, das eine Veränderung im Inneren beschreibt, wird zusätzlich durch die synoptische Parallele gestützt.[30]

2.2 Vorschläge zu Syntax und Semantik in Lk 11,41b

Grundsätzlich scheint es möglich, auch den Nominalsatz in Lk 11,41b (πάντα καθαρὰ ὑμῖν ἐστιν) strukturell etwas anders und sachlich möglicherweise treffender zu verstehen. Interessant ist hier der Vergleich mit ähnlichen Formulierungen in der Septuaginta. In Gen 45,20b steht: τὰ γὰρ πάντα ἀγαθὰ Αἰγύπτου ὑμῖν ἔσται. Die Septuaginta Deutsch überträgt: „[…] alle Güter Ägyptens werden euch gehören.“ Aufschlussreich ist, dass die Struktur des Nominalsatzes in Lk 11,41 eine große Ähnlichkeit mit der Struktur des Satzes in Gen 45,20b aufweist. Als entscheidende Unterschiede müssen der fehlende bestimmte Artikel des Neutrum Plural und die fehlende kausale Konjunktion angesehen werden. Der Ganzheitsausdruck πᾶς wird häufig artikellos mit einem Adjektiv verbunden, ohne dass dadurch ein Nominalsatz entsteht. So heißt beispielsweise πᾶν ἀγαθόν „lauter Gutes“ und keinesfalls „alles ist gut“ oder „alles wird gut“. Das Gegenteil („lauter Unheil“) wird durch ἅπαντα κακά zum Ausdruck gebracht. Das kann keinesfalls mit „alles ist schlecht“ übertragen werden.[31] Auch die Satzstellung spricht eindeutig gegen einen Nominalsatz, wie er in den gängigen Übersetzungen vorausgesetzt wird.[32]

In der lateinischen Überlieferung werden Gen 45,20b und Lk 11,41 unterschiedlich übertragen. Der lateinische Text von Gen 45,20b lautet: omnes opes Aegypti vestrae erunt.[33] Die Vulgata bietet in Lk 11,41b: omnia munda sunt vobis. Das Personalpronomen der zweiten Person im Dativ Plural (ὑμῖν) wird in Gen 45,20b zum Prädikatsnomen (vestrae), wechselt also in den Nominativ Plural und wird ferner als Possessivpronomen ins Lateinische übersetzt, während es in Lk 11,41b formal äquivalent als Personalpronomen der zweiten Person im Dativ Plural übertragen wird. Dass dies den Sinn des Textes transformiert und aus zwei grundsätzlich strukturidenten syntaktischen Einheiten im Griechischen höchst unterschiedliche Strukturen im Lateinischen macht, ist offensichtlich. Angesichts der Tatsache, dass die lateinische Übersetzung von Gen 45,20b die in den Grammatiken diskutierte Semantik des Ganzheitsausdrucks πᾶς noch einmal bestätigt, wird man geneigt sein, Lk 11,41b gegen die Vulgata und relativ wörtlich folgendermaßen zu übertragen: „Und dann ist bei euch nur Reines.“

In der erzählten Welt der Evangelien – d. h. in der Antike – sind Becher häufig etwas sehr Persönliches. So wird im Buch Genesis der persönliche Becher des Pharao erwähnt,[34] der dann auch im Gepäck von Josefs Brüdern versteckt ist. Der Becher als persönliches Eigentum und Symbol für Samaria begegnet beispielsweise bei Ezechiel.[35] In prophetischer Tradition verwendet nun Jesus den Becher des Pharisäers als Symbol für die Person. Jesus sieht in diesem Kontext die pharisäische Handwaschung als eine religiöse Reinigungshandlung. Damit darf vermutet werden, dass die Handwaschung bereits in dieser Zeit auf eine ähnliche Weise mit einem Gebet verbunden war, wie dies seit talmudischer Zeit für die Netilat yadayim gilt.[36] Man könnte hierfür auch auf Ps 50,9–10 (LXX) verweisen. Dort begegnet das zum Lexemverband καθαρός gehörige Verb καθαρίζω in einem Kontext, der den durch Waschungen erreichten Zustand der äußeren Reinheit als religiöse Erfahrung deutet.[37] In diesem Kontext darf erwähnt werden, dass auch die Handwaschung des Pilatus auf derartige Reinigungsriten und damit verbundene Gebete anspielt.[38] Auch dies spricht dafür, dass die Handwaschung mit Gebeten verbunden war.

Das von Jesus verwendete Symbol des rituell reinen Bechers ist mit der Erfahrung verbunden, dass ein reines Gefäß mit etwas Unreinem gefüllt werden kann, sodass das Gefäß dadurch wieder verunreinigt wird. Damit ist ein Übergang von Lk 11,40 zu 41 zu beobachten. In Lk 11,40 kann τὸ ἔσωθεν in der Formulierung τὸ ἔξωθεν καὶ τὸ ἔσωθεν sowohl die „Innenseite“[39] wie auch „das, was sich im Inneren befindet“[40], bezeichnen. In Lk 11,41 wird dann τὰ ἐνόντα verwendet und damit das Symbol des Bechers, bei dem τὸ ἔσωθεν auch die Innenseite bezeichnen kann, auf die Person bezogen, bei der das Innere die Regungen des Herzens darlegt. Damit bezieht sich „das, was innen ist“ (τὰ ἐνόντα) hier auf das Herz des Menschen. Böse Gedanken können nach dieser Auffassung eine Person, welche die vorgeschriebene Handwaschung vollzogen hat, um sich rituell zu reinigen, moralisch so verunreinigen, dass sie trotz ritueller Reinigung nicht die für den Gottesdienst nötige Reinheit besitzt. Dies wird auch intertextuell durch eine Formulierung im Matthäusevangelium noch einmal bestätigt, schließlich werden dort die negativen Einstellungen der Pharisäer mit unreinen Dingen gleichgesetzt.[41] Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen wird man hier so übersetzen dürfen: „Siehe, dann seid ihr gänzlich rein.“ Es geht Jesus also nicht darum, die gültigen Regeln der Kaschrut außer Kraft zu setzen, sondern vielmehr den Sinn dieser Regeln, die aus jüdischer Sicht der Heiligung der Person dienen, deutlich zu machen.

Der Imperativ Plural in Lk 11,41a (δότε) erklärt sich dadurch, dass Jesus hier nicht mehr den Pharisäer anspricht, bei dem er eingeladen ist, sondern vielmehr ab Lk 11,39 zu den Pharisäern als Gruppe spricht und dafür auch den Plural des Personalpronomens der zweiten Person in Lk 11,39 verwendet (ὑμεῖς οἱ Φαρισαῖοι), der dann entsprechend im Imperativ Plural wieder aufgegriffen wird.

Der Sinn dessen, was Jesus sagt, ist damit folgendermaßen zu verstehen: Das Innere soll mit dem Äußeren übereinstimmen, es soll Kongruenz von Denken und Handeln bestehen, eine religiöse „Schauspielerei“[42] wird kritisiert.[43]

Das hier vorgeschlagene Textverständnis, das sich gut – und vielleicht sogar besser als die gängigen Übersetzungen – auf griechische Grammatik berufen kann, beseitigt das exegetische Problem, dass beim herrschenden Textverständnis Jesus die halachischen Speiseregeln für obsolet zu erklären scheint. Dies würde der Gesprächssituation in der erzählten Welt widersprechen: In der erzählten Welt befindet sich Jesus im Diskurs mit einem Pharisäer, sodass davon auszugehen ist, dass die sozialen und religiösen Konventionen des Judentums implizit vorausgesetzt werden. Es herrscht folglich Konsens, dass die Kaschrut grundsätzlich von Jüdinnen und Juden zu erfüllen sind; allerdings legen Pharisäer strengere Normen an. Die unter Berücksichtigung von griechischer Grammatik hier vorgeschlagene Übersetzung ermöglicht es, Lk 11,41 als intensiven Austausch Jesu mit einem jüdischen Gesprächspartner über die Frage, was jüdische Frömmigkeit ausmacht, zu verstehen. Die hier vorgeschlagene Übersetzung scheint intratextuell Lk 6,45 aufzunehmen. Dort heißt es (Lutherbibel 2017): „Ein guter Mensch bringt Gutes hervor aus dem guten Schatz seines Herzens; und ein böser bringt Böses hervor aus dem bösen. Denn wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.“[44]

3 Ergebnis

Als wichtiges Ergebnis der vorliegenden Überlegungen darf als Übersetzung von Lk 11,41 unter Rückgriff auf griechische Syntax und Semantik Folgendes vorgeschlagen werden: „Macht nur noch euer Inneres zu Gerechtigkeit und Nächstenliebe! Siehe, dann seid ihr gänzlich rein.“ Bei dieser Übersetzung wird die in Lk 11,38 erwähnte Handwaschung intratextuell als gegeben vorausgesetzt und nur mit einer Aufforderung zu einer diesen rituellen Handlungen entsprechenden Frömmigkeit verbunden.

Damit darf festgehalten werden, dass bei einer Übersetzung, die stärker als traditionelle Übersetzungen in Lk 11,41 griechische Syntax und Semantik berücksichtigt, an dieser Stelle ein durchaus auch im Judentum thematisiertes Problem in der Mitte des Diskurses zwischen Jesus und einem Pharisäer steht: Die Frage nach der Mitte der Tora, nach der Verbindung von innerer Haltung und äußerem Ritualgesetz. Dieses Textverständnis hätte den Vorteil, dass Jesu Interaktion mit dem Pharisäer nicht zwingend als „polemisch“ wahrgenommen werden muss und dass auch keine vollständige Ethisierung der Tora bei gleichzeitiger Ablehnung der Kaschrut vorausgesetzt werden muss. Angesichts der erzählten Welt – Jesus spricht mit einem Pharisäer – und der Tatsache, dass der Verfasser des lukanischen Doppelwerkes auch Paulus als Juden auftreten lässt, der am Ende seines Weges in Apg 28,17 von sich selbst behauptet, nie etwas gegen das Volk oder die Überlieferungen getan zu haben (οὐδὲν ἐναντίον ποιήσας τῷ λαῷ ἢ τοῖς ἔθεσι τοῖς πατρῴοις), scheint die tiefere Verortung Jesu im Judentum zumindest nicht im Widerspruch zur Erzählung zu stehen. Deshalb darf das hier vorgeschlagene Verständnis der grammatikalischen Struktur, aus der sich Konsequenzen für die Übersetzung ergeben, als Vorschlag angesehen werden, der insgesamt zu einer besseren Verständlichkeit des lukanischen Textes und der Handlung in der erzählten Welt des Evangeliums beitragen kann. Auf der Basis dieser Übersetzung erübrigt sich auch der Vorschlag, dass sich in Lk 11,41 eine ungenaue Übersetzung einer hebräischen bzw. aramäischen Vorlage fände. Die auf der traditionellen Übersetzung aufbauende, grundsätzliche Besitzkritik verliert ebenfalls ihre Grundlage im Text.


Article Note

Frau Hannah Wolf danke ich für ihre Mitarbeit im Rahmen der Studienassistenz.


Published Online: 2023-02-11
Published in Print: 2023-02-09

© 2023 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 10.6.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/znw-2023-0003/html
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