Skip to content
Publicly Available Published by De Gruyter September 1, 2016

Editorial

  • David Käbisch and Henrik Simojoki

Ein Merkmal der Moderne ist die gestiegene Mobilität, auch auf dem Feld der Religion und religiösen Bildung: Menschen reisen in andere Länder, um einen Pilgerweg zu gehen, an einer ausländischen Universität zu studieren, einen Urlaub,unter Palmen‘ zu verbringen, Geschäftsbeziehungen zu pflegen oder einfach nur Freunde zu besuchen. Neben der beruflichen und privaten Mobilität gibt es vielfältige Migrationsgründe, die Menschen dazu veranlassen, ihre Heimat dauerhaft zu verlassen. Die eigene Religion wird hier oftmals, wie zahlreiche Studien belegen, zu einer neuen Form von Heimat in der Fremde. Mit den Menschen wandern aber auch deren religiöse Erfahrungen, Einstellungen und Wissensbestände aus einem Kontext in einen anderen und lassen diese nicht unverändert. Neben der rasant gestiegenen Mobilität und Migration von Menschen eröffnen schließlich auch die Neuen Medien vielfältige Möglichkeiten der Begegnung mit fremden Ländern, Religionen und Konfessionen. Auch diese haben die Bedingungen religiöser Erziehung, Bildung und Sozialisation in Deutschland nachhaltig verändert.

Die Eingangsbeispiele zeigen, dass der Vergleich nationaler Rechts-, Religions- und Bildungssysteme und die Analyse der internationalen Bildungspolitik allein nicht ausreicht, um die dynamischen Transfer-, Kommunikations- und Austauschprozesse auf dem Feld religiöser Erziehung, Bildung und Sozialisation verstehen zu können. Ausgehend von den Methoden der Transfergeschichte und Kulturtransferforschung erscheinen insbesondere zwei Leitbegriffe als weiterführend für die Religionspädagogik: Zum einen der (unscharfe) Begriff der Transnationalität, der nach allen Transfer-, Kommunikations- und Austauschprozessen fragt, die den Referenzrahmen einer bestimmten Region oder Nation überschreiten; und zum anderen der Begriff des (Sozial-)Raumes, der nach den konkreten Beziehungen, Verflechtungen und Transfers fragt, die durch Mobilität, Migration und (Neue) Medien ermöglicht und verändert werden.

Die Beiträge des vorliegenden Themenheftes greifen beide Leitbegriffe auf, um transnationale Bildungsräume verstehen und – darauf liegt der Schwerpunkt der Beiträge – in Schulen und Gemeinden, aber auch an Universitäten und im Rahmen der zwischenstaatlichen Bildungspolitik gestalten zu können.

Nach einer methodologischen Einführung in das Forschungskonzept transnationaler Bildungsräume durch David Käbisch wenden sich die ersten drei Fallstudien Bildungsangeboten zu, bei denen die Lernenden selbst in andere Länder reisen: Christoph Markschies und Bernd Schröder beschreiben mit dem Theologischen Studienjahr an der Dormitio-Abtei in Jerusalem und dem Theologischen Studienjahr an der Hebräischen Universität zwei Bildungsprogramme, die nicht nur vielfältige Möglichkeiten interreligiösen Lernens ermöglichen, sondern zu einem lebendigen Kulturaustausch zwischen Deutschland und Israel beitragen. Zu vielfältigen Begegnungen zwischen Menschen und ihren Erfahrungen aus unterschiedlichen Konfessionen und Nationen trägt auch das Centro Melantone in Rom bei, das Katharina Heyden und Martin Wallraff in einer Weise beschreiben, die zahlreiche Anschlussmöglichkeiten für die transnationale Bildungsforschung bietet. Begegnungen zwischen Menschen aus unterschiedlichen Nationen, diesmal jedoch im Kontext der Jugendarbeit, stehen auch im Zentrum des Beitrags von Wolfgang Ilg. In den von ihm präsentierten Befunden tritt neben dem generellen Bildungspotenzial internationaler Jugendbegegnungen auch die ambivalente Stellung von Religion bei der Ausrichtung entsprechender Programme zutage.

Die eingangs beschriebenen Herausforderungen sind auch für die Schulentwicklung, die Fachdidaktik und die Gestaltung des Religionsunterrichts relevant. Am Beispiel des global ausgerichteten Schulvernetzungsprojekts „schools500reformation“ zeigen Henrik Simojoki, Annette Scheunpflug und Simone Kohlmann, wie evangelische Schulen als transnationaler Bildungsraum verstanden und gestaltet werden können – wobei es hier besonders darum geht, Lern- und Austauschprozesse zwischen Schülerinnen und Schülern sowie Lehrkräften aus Industrie- und Entwicklungsländern anzubahnen. Auch im Beitrag von Almut Küppers steht ein innovatives Projekt im Vordergrund, dessen Anregungspotenzial über das Feld sprachlicher und interkultureller Bildung hinausreicht. Dem von ihr vorgestellten deutsch-türkischen Sprachenprogramm liegt eine auch religionspädagogisch belangvolle Einsicht zugrunde: Im Fachunterricht europäischer Einwanderungsgesellschaften kommt es verstärkt darauf an, das „transnationale Kapital“ der Lernenden zu mehren. Die nationale, kulturelle und religiöse Mehrbezüglichkeit juveniler Lebenswelten nimmt auch in Filmen neuerdings breiten Raum ein. In Auseinandersetzung mit zwei einschlägigen Produktionen plädiert Marion Keuchen für eine kritische Thematisierung solcher Filme im Religionsunterricht, die den Erwerb dialogischer Kompetenzen unterstützen, aber durchaus auch hemmen können. Der abschließende Beitrag von Peter Schreiner macht deutlich, dass nicht nur das Bezugsfeld der Religionspädagogik, sondern auch die Disziplin selbst transnationale Formen annimmt. Freilich spiegelt sich in der gegenwärtigen Debatte um eine Europäisierung religiöser Bildung auch ein wachsender Standardisierungsdruck wider, der kritisch thematisiert werden muss.

Als besonderes Buch bespricht Thomas Schlag die 2015 erschienene Einführung in den Religionsunterricht von Gerhard Büttner, Veit-Jakobus Dieterich und Hanna Roose.

David Käbisch und Henrik Simojoki

Online erschienen: 2016-9-1
Erschienen im Druck: 2016-9-1

© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 2.4.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zpt-2016-0029/html
Scroll to top button