Eine evangelische Religionspädagogik, die sich zum Begriff der Bildung in ein positives Verhältnis setzt, wird sich immer auf Schleiermacher berufen. Die Frage ist nur: auf welchen Schleiermacher? Den Mitbegründer der wissenschaftlichen Pädagogik? Den Systemphilosophen, der seinem breiten philosophischen Werk keine abschließende Gestalt geben konnte? Oder gar auf den Erneuerer der evangelischen Dogmatik?
Vorliegende Bonner Dissertation hält ein deutliches Plädoyer für letztere Option. Unter den Anläufen Schleiermachers, einen Bildungsbegriff zu konzipieren, sei letztlich nur der des Theologen Schleiermacher – wie der Titel bereits deutlich macht – in sich konsistent und für eine Religionspädagogik sinnvoll zu gebrauchen. Um diese These zu untermauern, werden von B. erstens der Philosoph und der Theologe Schleiermacher sehr weit voneinander abgerückt und zweitens die Philosophie Schleiermachers, insbesondere dessen „Dialektik“, als ein letztlich gescheitertes Projekt angesehen, was sich aber drittens für die Bildungsbedeutung des Theologen Schleiermachers nicht negativ auswirke.
Ein solches Buch kann nach zwei Hinsichten betrachtet werden: zum einen hinsichtlich seines Ertrages für die Schleiermacher-Forschung im engeren Sinne, zum anderen bezüglich seines religionspädagogischen Diskussionsbeitrages. Die erste Perspektive soll naturgemäß an diesem Besprechungsort nicht im Vordergrund stehen. Es sei nur angedeutet, dass ich in dieser Hinsicht ein wenig skeptisch bin. Stutzig macht zunächst die Menge an Quellen, die B. behandelt: Er bespricht nacheinander die „Monologen“, die „Reden“, die „Weihnachtsfeier“, die „Dialektik“ und die „Glaubenslehre“ (die „Pädagogik“-Vorlesungen allerdings nicht). Hinzu kommen Exkurse zur „Philosophischen Ethik“, der „Hermeneutik“ und zur „Enzyklopädie“. Nach meinem Dafürhalten könnte man über den bildungstheoretischen Ertrag fast jedes dieser Werke eine Dissertation schreiben. Die Breite der Quellenbasis geht angesichts der Kürze des Buchs (190 Seiten) auf die Intensität der Interpretation. Ferner leuchten mir zwei seiner Grundprämissen nicht recht ein. Die erste: Schleiermacher komme als Philosoph sich als Theologen sozusagen immer wieder selbst in die Quere, weshalb man seine „dogmatische Theologie von seinem philosophischen System loslösen sollte“ (3). Die „Reden“ (aber nur die erste Auflage) seien noch nicht von dem Wunsch nach einem Ausgleich mit philosophischen Interessen tangiert: Sie stellen angeblich den „Glücksfall eines hiervon noch unbeeinflussten theologischen Werkes“ (44) dar; die „Glaubenslehre“ 2. Aufl. hingegen verfolge jenes Interesse nicht mehr. Diese These erscheint problematisch, wenn man sich vor Augen hält, welch gründliche philosophische Studien – vor allem zu Aristoteles, Leibniz, Spinoza und Kant – den „Reden“ vorausgegangen waren. Diesen Hintergrund führt B. nicht mit. Vor allem aber impliziert die These, dass Schleiermacher zu bestimmten Phasen seines Schaffens zutiefst inkonsistent gedacht und dies noch nicht einmal gemerkt habe – etwa in den frühen 1820er Jahren, als er an „Dialektik“ und „Glaubenslehre“ parallel arbeitete.
Die zweite Grundannahme: Schleiermachers dogmatische Theologie müsse unabhängig von seiner Philosophie betrachtet, ja „aus einer philosophischen Engführung“ (128) gelöst werden. Diese These kann entweder so verstanden werden, dass theologische Dogmatik einen vollständig anderen Status hat als eine philosophische Theorie des Absoluten: Dann ist mir keine Forschungsposition bekannt, die das anders sieht (B. bezieht sich für sie ja auch auf Hans-Joachim Birkner und andere Großmeister der Schleiermacher-Forschung). Oder sie wird so verstanden, dass zur Interpretation der „Glaubenslehre“ die philosophischen Hauptwerke nicht heranzuziehen sind. Dann sehe ich aber nicht, wie man vermeiden soll, dass die Religion ihre Beziehung zum sonstigen menschlichen Geistesleben verliert. Religion ist etwas anderes als Philosophie, aber um wissenschaftlich über Religion zu reden, stehen keine andere Sprache und keine anderen Denkmittel zur Verfügung als die, welche uns die philosophische Fakultät an die Hand gibt. Die Theologie hat ja – folgt man Schleiermachers „Kurzer Darstellung“ – keine eigene Methode.
Die mehrfach angekündigte „genauere“ (3. 28) bzw. „präzisere“ (36) Untersuchung – „genauer“ und „präziser“ als beispielsweise Ulrich Barth oder Ursula Frost – besteht m. E. im Wesentlichen in Neubewertungen einzelner Textpassagen, die zwar nicht „provokant“ (VII. 3), aber doch immer wieder originell sind und beim Wiederlesen der Quellen den einen oder anderen Widerhaken auswerfen dürften – und als Außenseiterposition hat sich das Buch in Abgrenzung zu einem von B. vermuteten „Mainstream“ (49) der Schleiermacher-Forschung ja auch selbst klassifiziert. Damit geht bei B. auch ein Verweis auf Forschungsbeiträge einher, die in der gegenwärtigen Diskussion nicht mehr die größte Rolle spielen: Sein Buch ist maßgeblich von der Schleiermacher-Deutung Gerhard Ebelings inspiriert.
Wenden wir uns also der zweiten Perspektive zu. B. entwirft einen dreistufigen Bildungsbegriff, den Schleiermacher „impliziert, aber nicht selbst entwickelt“ (183) habe – und in dieser Rekonstruktion versteht das Buch wohl seinen ureigenen Forschungsbeitrag. Ich kann nun nicht verhehlen, dass ich gegen diese Auffassung, sofern sie als Schleiermacher-Philologie gelten soll, wiederum einige Bedenken hätte, die auszuführen hier aber auf eine ausführliche Diskussion vonB.s Hauptbelegstellen hinaus liefe. Ich konzentriere mich daher auf die Darstellung jener Bildungskonzeption selbst.
Bildung ist zum einen „menschheitliche Bildung“ (58): Wir kommen als Menschen mit den kulturellen Errungenschaften der Menschheit in möglichst umfassenden Kontakt, rezipieren sie auf unsere naturgemäß begrenzte Weise und werden darin zu unserer eigenen Individualität gebildet, durch welche wir wiederum die Menschheit auf unsere persönliche Weise darstellen. (Diesen Aspekt hätten die „Monologen“ angezielt, die „Reden“ entwickelt und die „Glaubenslehre“ immerhin festgehalten.) Die Nähe dieser Facette zum neuhumanistischen Bildungsbegriff, namentlich Humboldts, wird von B. mehrfach herausgestellt.
Bildung ist zum zweiten „religiöse Bildung“ (1.58.174 u.ö.). Gemeint ist die Bildungswirkung, welche die Religion auf die Seele eines Menschen hat, also das „Bildende der Religion“ (139). Die religiöse Erfahrung für sich ist schlechthin unverfügbar, ereignet sich in strikter Passivität, ist gnadenhafte Offenbarung. Wenn das Wesen der Religion aber in der Vermittlung zur Sphäre des Göttlichen besteht, so erfüllt sich – laut B. bereits in den „Reden“ – die Intention der Religion wirklich erst in der Christologie, also im Bezug auf den Mittler, der seinerseits keiner Vermittlung bedarf. Christus als der Repräsentant einer ‚stetigen Kräftigkeit des Gottesbewusstseins‘ teilt dieses den Hörenden mit. In dieser Begegnung geschieht ein „Entschränken der nach außen hin abgeschlossenen Person durch das sich in diese Hineinbilden der unverfügbaren göttlichen Universalität“ (169). Die religiöse Erfahrung als „Resonanzerfahrung“ (ebd.) ist in dieser Hinsicht personbildend, weil sie den Menschen erst in die Liebe zu anderen stellt, und weltbildend, weil sie „auf das Miteinander Aller mit Allen zielt“ (167).
Die religionspädagogische Pointe besteht darin, dass religiöse Bildung nach B. in ihrem Kern nicht im Reden über Religion oder gar im Versuch der rationalen Durchdringung der religiösen Erfahrung besteht: „Der christlich gebildete Mensch entsteht eben nicht aus Gründen, sondern nur aus dem Ernstnehmen des Ereignisses, das sich uns aus Gnade ereignet.“ (171) Mithin ist „der Gottesdienst […] primärer Ort der religiösen Bildung“ (175); dazu treten „lebensgeschichtliche Resonanzerfahrungen und Jugendspiritualität“ (ebd.). Ohne dies ist in der religiösen Bildung alles nichts. Dabei geht es aber nicht um deren didaktische, probeweise Inszenierung, sondern es müssen „verstärkt außerschulische Geschehnisse in den Blick genommen werden.“ (185)
In Christus kommt die Menschheit zu ihrem eigentlichen Ziel; die, die von ihm ‚gebildet‘ wurden, sind nach dem Wort des Paulus ‚neue Kreatur‘. Deshalb erfüllt die religiöse Bildung auch die wahre Bestimmung des Menschen, deshalb „bedeutet die Selbstgegenwart des Geistes Gottes […] das Wesen der Humanität überhaupt“. (162) In der Begegnung mit Christus, also in der Gegenwart des Geistes, kommt Menschsein zu seiner Erfüllung. Dieser religiöse Bildungsbegriff ist „somit in der Lage, genau das auszusagen, worauf jeder humanistische Bildungsbegriff abzielt.“ (165) In der Tat, so dürfte sich das Christentum immer wieder selbst begriffen haben. Es wäre aber interessant gewesen zu erfahren, was B. von einer These wie der Joachim Kunstmanns, den er ansonsten häufiger zustimmend zitiert, hält: „Bilden ist immer Sich-bilden.“ (Religionspädagogik, 2. Aufl., Tübingen 2010, 337). Ich denke, man muss entweder sagen: Dem humanistischen Bildungsbegriff fehlt etwas, oder: Es ist schwer, B.s Auffassung von ‚religiöser Bildung‘ unter einen allgemeinen Begriff von Bildung zu subsumieren.
Jene Intention zielt also auf alle Menschen als solche. Aus diesem Umstand folgert B., „dass es hier […] nicht um etwas spezifisch Christliches geht.“ (161) Diese unvermutete These ist vermutlich auch der Grund für eine weitere riskante Interpretation: Nach B. sei Schleiermacher im Ganzen nur eine „sehr begrenzte Pluralismusfähigkeit“ (2) zu attestieren, was heute nicht mehr weiterführe. Schuld daran sei wiederum seine Philosophie mit ihrer „Korrespondenztheorie von Wahrheit“ (2). Folglich seien „Reden“ (1. Aufl.) und „Glaubenslehre“ (2. Aufl.) von jenem Attest auszunehmen. Die „Reden“ zumal nähmen gegenüber anderen Religionen „einen agnostisch-offenen und lernbereiten Standpunkt ein, ohne im Geringsten den Wahrheitsanspruch des Christentums einzuschränken“ (61; wortgleich auf 181. Hintergrund für diese Interpretation bildet die Stelle „Reden“, 304, in der Originalpaginierung). Wie beides freilich miteinander in Einklang zu bringen ist, bleibt offen. Nach meiner Einschätzung liegt die Sache eher umgekehrt: Ein Bildungsverständnis wie dieses Ineinander von ‚menschheitlicher‘ und ‚religiöser‘ Bildung ist auch dort noch christlich, wo es sich selbst nicht mehr als christlich artikuliert. Von daher kann dann auch das Vorliegen wahrer Religiosität in anderen Religionen anerkannt werden. Wie Schleiermacher es in einer der – von B. nicht geschätzten – späteren Auflagen der „Reden“ schreibt: „Ich aber meinte, es sei ächt christlich, die Frömmigkeit überall aufzusuchen und unter welcher Gestalt es auch sei anzuschauen.“ (KGA I/12, 145). Das Verständnis von ‚religiöser Bildung‘ in diesem Sinne scheint mir den eigentlichen Kern der Arbeit auszumachen.
Es bleibt noch die dritte Facette des Bildungsbegriffs nachzutragen: die „theologische Bildung“ (181). Sie besteht darin, dass der Gehalt des religiösen Gefühls in seiner Positivität nunmehr „kognitiv durchdrungen“ (175) wird. (Erneut scheint mir die Herleitung aus der Quelle – in diesem Fall „Glaubenslehre“, 2. Aufl., § 101 – fragwürdig: Schleiermacher erörtert dort das Problem der Identität von ‚alter‘ und ‚neuer‘ Kreatur und nicht die angebliche nötige Reduktion des uns überfordernden überschwenglichen Gehalts „durch unsere individualisierende Ratio“ [183].) Religiöse Erfahrung drängt immer auf Reflexivwerdung, und genau dazu dient z. B. „der schulische Religionsunterricht oder die universitäre Theologie.“ (175) Da auch die Christinnen und Christen an der ‚menschheitlichen Bildung‘ teilnehmen, besteht die eigentliche theologische Aufgabe in der „Dolmetschung des religiösen Gefühls in Formen der allgemeinen Nachvollziehbarkeit“ (181). Somit wird im Anschluss an Habermas – den B. mehrmals nennt, aber nicht zitiert oder bibliographiert – dieser Begriff von theologischer Bildung für „eine Konsenstheorie von Wahrheit“ (189) veranschlagt. Im säkularen bzw. postsäkularen Diskurs über den Grund und das Ziel von Bildung hat Theologie die Gehalte der Religion allgemein nachvollziehbar zu vertreten – und kann dies nach B.s Meinung auch.
Zusammengefasst: Wer sich verlässlich über Schleiermacher informieren will, sollte m. E. besser zu einem Buch aus dem ‚Mainstream‘ greifen; mir scheinen bei B. die Thesen vielfach zu gewagt und die Interpretationen mitunter eine Spur zu entdeckerfreudig. Wer in der Schleiermacher-Forschung sein eigenes Verständnis überprüfen möchte, kann dies gerade an den gelegentlich bewusst unkonventionellen Lesarten B.s tun. Wer sich hingegen aus rein religionspädagogischem Interesse dem Buch zuwendet, findet auf den Seiten 138 (bzw. 165)-190 ein theologisches Bildungsverständnis, dessen Diskussionswürdigkeit ich ausdrücklich unterstreiche.
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