Rezensierte Publikation:
Hagemann Jörg Staffeldt Sven 2014 Syntaxtheorien. Analysen im Vergleich (Stauffenburg Einführungen 28) Tübingen Gunter Narr 333 S.
Das Buch enthält elf syntaktische Analysen ein und desselben Textes, die die Möglichkeit bieten sollen, die Konzeptionen methodischer Vorgehensweisen mehrerer Syntaxtheorien im Vergleich ihrer Analyseergebnisse kennenzulernen. Die Analysen wurden von für das jeweilige Modell einschlägigen Autoren vorgenommen, und zwar:
Satzgliedanalyse (Klaus Welke)
Dependenzielle Verbgrammatik (Ulrich Engel)
Würzburger syntaktische Analyse (Sven Staffeldt, Claudia Zimmermann und Ralf Zimmermann)
Kategorialgrammatik (Gisela Zifonun)
Oberflächengrammatik (Rolf Thieroff)
Topologisches Satzmodell (Angelika Wöllstein)
Generative Grammatik (Horst Lohnstein)
Head-driven Phrase Structure Grammar (Stefan Müller)
Systemisch-funktionale Grammatik (Elena Smirnova)
Funktionale Satzperspektive – Informationsstruktur (Andreas Lötscher)
Konstruktionsgrammatik (Alexander Ziem, Hans C. Boas, Josef Ruppenhofer)
In diesen Kapiteln werden die relevanten Eigenschaften der jeweiligen Syntaxtheorie illustriert, hierauf erfolgt die Analyse des Beispieltextes, einer Nachricht aus einer Tageszeitung über den „Tag der Artenvielfalt“:
„Das Meer steckt voller wunderbarer, verrückter und besonderer Lebewesen. Und viele davon sind noch unbekannt. Mehr als tausend neue Arten wurden in den vergangenen Jahren gefunden. Immer wieder kommen neue hinzu. An diese Fülle von Leben wird jedes Jahr am 22. Mai erinnert. Es ist – Achtung, langer Name – der Internationale Tag zur Erhaltung biologischer Vielfalt. Dabei geht es darum, dass das spannende Leben im Meer geschützt werden soll. Denn viele Tiere und Pflanzen dort sind bedroht. Menschen verschmutzen das Wasser und fangen zu viele Tiere heraus. Auch darauf soll der Tag hinweisen.“
(Westfälische Nachrichten, 23.05.2012)
Den Einzelanalysen geht eine kurze Einführung durch die Herausgeber voraus, in der das Ziel des Buches vorgestellt und auf jedes Analysemodell anhand des ersten Satzes kurz vorausgeblickt wird. „Interessierten Lesern“ soll dadurch „Einblick in die jeweilige Theorie“ gewährt werden, anhand „authentischer Sätze“ die Analysemethoden gezeigt und ein Überblick über die „verschiedenen Konzepte“ gegeben werden, der durch die „Bearbeitung ein und desselben Textes den Vergleich“ ermöglicht (S. 8). Hierbei zeigt sich bereits an der Klassifizierung des Funktionswortes voller im ersten Satz, dass unterschiedliche Analyseperspektiven auch zu unterschiedlichen Auffassungen über die Kategorie einzelner Wörter führen können. Diese reichen von der Einordnung unter die Präpositionen (Engel; Thieroff; Müller), Adjektive (Staffeldt, Zimmermann & Zimmermann, die aber auch die Möglichkeit der Analyse als Präposition diskutieren; Zifonun; Smirnova; Ziem, Boas & Ruppenhofer) bis zum quantifizierenden Kopf unter der Determinansphrase (Lohnstein), während die Kategorie von voller für manche Analysen (Welke; Wöllstein; Lötscher) nicht ausschlaggebend ist und nicht weiter diskutiert wird.
Nach dieser kurzen Einführung durch die Herausgeber folgen die Einzelanalysen. Diese werde ich kurz umreißen und exemplarisch sowohl anhand der Argumentation für die jeweilige Kategorisierung von voller sowie der Behandlung der Parenthese differenzieren. Des Weiteren bespreche ich einige Besonderheiten der Analysen in aller Kürze.
Textanalyse in den verschiedenen Modellen
In der von Klaus Welke vorgestellten Satzgliedanalyse werden Satzglieder hinsichtlich ihrer Satzfunktion kategorisiert und mit den Termini der traditionellen Grammatik benannt (Prädikat, Subjekt, Objekt usw., aber auch ein Direktiv und verschiedene Prädikative). Welke weist zunächst auf Parallelen seiner Analyse zu anderen Modellen wie der generativen X'-Theorie oder der Dependenzgrammatik hin, gibt einen kurzen historischen Überblick über die Entwicklung der Satzgliedanalyse in der abendländischen Grammatiktradition und die Grundlagen der funktionalen Konstituentenanalyse. Hierbei betont er, dass eine detaillierte Darstellung der Konstituentenhierarchie auf der Satzebene in diesem Modell nicht vorgesehen sei (S. 28). Ebenso entfallen die Kategorisierung des Funktionsworts voller (S. 37) und die Analyse der Parenthese Achtung, langer Name (S. 39). Ansonsten werden die Funktionen der Konstituenten im Text umfassend dargestellt und in Pfeildiagrammen aufeinander bezogen.
Im darauffolgenden Beitrag stellt Ulrich Engel die dependentielle Verbgrammatik als Modell der „sprachlichen Ausdrücke in ihrer gegenseitigen Bedingtheit“ (S. 43) vor. Der Satz wird definiert als „Konstruktion mit einem Finitum als Kopf“ (S. 47), wobei eingeräumt wird, dass dies nicht die einzige mögliche Definition sei. Die Linearisierung spielt in diesem Modell keine Rolle, wohl aber die hier als zentral betrachteten unterschiedlichen Rektionseigenschaften verschiedener Wortarten. So wird argumentiert, dass voller eine Präposition sein müsse, da das Wort als Kopf einer hier vom Verb geforderten Präpositivergänzung erscheine und selbst wieder den Genitiv regiere (S. 52). In ähnlicher Weise erfolgt die dependentielle Analyse der übrigen Sätze, wobei auch Engel die Parenthese Achtung, langer Name ausspart, da diese weder einen Satz darstelle noch in den dependentiellen Rahmen eines Satzes gehöre (S. 56).
Danach präsentieren Sven Staffeldt, Claudia Zimmermann & Ralf Zimmermann die ebenfalls aus einem dependentiellen Rahmen hervorgegangene sog. Würzburger Satzanalyse, wobei eine der wesentlichen Weiterentwicklungen darin liegt, dass die Analyse nicht beim Satzprädikat als Regens des Satzes halt macht, sondern Stemmata mit weiteren Strukturebenen dargestellt werden, durch die z. B. Ergänzungen von freien Angaben strukturell unterschieden werden können. Wie schon bei Engel im Beitrag davor wird in diesem Modell das formale Subjekt es in Sätzen wie Dabei geht es darum, dass … nicht als Satzglied behandelt, sondern als Teil des verbalen Kerns, da es kein Dependens darstelle, sondern als Teil des Prädikats gefordert werde (vgl. S. 73). Für voller schlagen sie zwei alternative Analysen vor, die eine als regierte Präposition, die zweite als Adjektiv, das Kopf einer prädikativ verwendeten Phrase sei und eine Genitivergänzung habe. Die Parenthese wird hier ebenfalls angemessen diskutiert (S. 85-87) und der Schluss gezogen, dass diese zwar kein Satzglied darstelle, jedoch funktional als nähere Bestimmung zur Nominalgruppe der Internationale Tag zur Erhaltung biologischer Vielfalt beschrieben und somit mit dieser in den Baumgraphen eingebracht werden könne.
Gisela Zifonun führt in ihrem Beitrag zur Kategorialgrammatik zunächst die wesentlichen Termini wie Grundkategorie vs. Funktorkategorie, Lambdaabstraktion, Funktionalapplikation und Typenanhebung ein sowie die in der IDS-Grammatik verwendete Konvention der von Wortarten ausgehenden Baumgraphen und den Begriff des Terms in Abgrenzung zum Modifikator. Die Kategorialgrammatik versteht sich als modelltheoretisch interpretierte Oberflächensyntax (vgl. S. 105), deren Kombinatorik lexikalisch vorgegeben sei, da diese auf der Funktor-Argument-Struktur basiere. Diese Kombinatorik erlaube auch die Darstellung von Wortstellungsvariation und Fernabhängigkeiten. Leider schweigt sich die Autorin aber letztlich dazu aus, wie auf der Basis einer in dieser Weise kombinatorisch hergeleiteten Abfolge wie neue [ ] kommen hinzu wieder immer (S. 116) die am Ende vorliegende Oberflächensyntax zu erklären ist. Auch Zifonun argumentiert für den Status von voller als Adjektiv, und zwar einer synchron als erstarrt zu betrachtenden Form, die Kopf einer prädikativ verwendeten Phrase sei. Die Parenthese analysiert sie als „‚kommunikative Minimaleinheit‘ in Aufforderungsfunktion“, ermöglicht durch langer Name als „prädikativer Verweis“ (S. 119).
Rolf Thieroff, der bei der Überarbeitung des Syntaxbands der 2013 erschienenen vierten Auflage des von Peter Eisenberg begründeten Werks Grundriss der deutschen Grammatik mitgewirkt hat, stellt die Analyse in einer entsprechenden Oberflächengrammatik vor: „Die sprachliche Form und die Frage, was man mit ihr alles machen kann, sind (…) Programm“ (S. 125). Er nennt zunächst einige Änderungen zu früheren Auflagen, die für die spätere Analyse wichtig sind, wie z. B. die Ersetzung des Terminus Adverbial als Gegenbegriff zu Ergänzung durch Angabe, um dadurch valenzgebundene Adverbiale terminologisch trennen zu können. Danach werden die wichtigen Grundbegriffe kurz erläutert, die syntaktischen Mittel, syntaktischen Kategorien, Markierungskategorien, Konstituentenkategorien und grammatischen Relationen. Hierbei macht er auf einige wichtige terminologische Differenzierungen aufmerksam, wie etwa, dass nur ein direktes Objekt der Kasuskonversion zum Nominativ bei der werden-Passivierung unterzogen werden kann, nicht jedes Akkusativobjekt (*Ihr erstes Auto wird von Juliane bekommen; S. 132), oder dass der Kern einer Wortgruppe nicht gleichbedeutend mit deren Kopf ist („So ist in der NGr die Stadt die der Kopf und Stadt der Kern“, S. 133). In der danach folgenden Textanalyse argumentiert er recht ausführlich für den Status von voller als Präposition, da dies „die wenigsten Probleme bereite“ (S. 135), weist aber darauf hin, dass die Unmöglichkeit eines Artikels in der ergänzenden Nominalgruppe eine „recht idiosynkratische Eigenschaft“ darstelle. Für sämtliche Sätze wird die Konstituentenstruktur in Form von Baumdiagrammen dargestellt, darüber hinaus die syntaktischen Relationen und Wortkategorien. Feinere Unterscheidungen wie Kopf und Kern einer Wortgruppe werden „aus Darstellungsgründen“ (S. 135) nur für den ersten Satz expliziert. Der Status der Parenthese wird diskutiert, wobei diese als „dem Rest des Satzes nebengeordnet“ analysiert wird, mit Achtung als Kopf einer Art Prädikationsstruktur (vgl. S. 139).
Angelika Wöllstein führt zunächst in die Grundlagen des Feldermodells ein und weist dabei auf dessen Wert für die „Modellierung linearer Strukturzusammenhänge“ auch im „grammatischen (Unterrichts-)Diskurs“ hin (S. 143). Sie nimmt Bezug auf die Unterschiede zwischen dem uniformen Modell, das verschiedene Satztypen im gleichen Schema analysiert, und dem Differenzmodell, in dem V2-Sätzen, V1-Sätzen und V-End-Sätzen verschiedene Schemata (z. B. ohne Vorfeld statt leerem Vorfeld) zugeordnet werden (S. 147; S. 151ff.); Letzterem schließt sie sich an. Sie stellt sich gegen eine funktionale Betrachtung der Satztopologie und entscheidet sich für die vieldiskutierte Position, dass ausschließlich verbale Prädikatsteile klammerschließende Ausdrücke bildeten (S. 148f.; vgl. dagegen z. B. Pafel 2011: 158f.). Weiter weist sie auf einige Parallelen zwischen dem linearen Feldermodell und dem hierarchischen Phrasenstrukturmodell der generativen Grammatik hin und zeigt, wie die beiden aufeinander bezogen werden können. Hierbei vergleicht sie auch die phrasenstrukturellen Projektionsebenen mit den Interpretationsdomänen Prädikation (IP), Proposition (VP) und Satztyp (CP), was im Grunde sinnvoll scheint, wobei hier m. W. aber eine andere Anordnung gängiger ist (VP – Prädikation; IP – Proposition; vgl. Grewendorf 2002: 34). In der anschließenden Satzanalyse weist sie als erste der Autoren darauf hin, dass es sich bei fast allen Sätzen dieses Textes um nichtkomplexe Deklarativsätze handelt (S. 160); d. h. das Beschreibungspotential des Differenzmodells kann anhand der Vorgabe nicht entfaltet werden: Der einzige abweichende Satz ist dass das spannende Leben im Meer geschützt werden soll, ein eingeleiteter V-End-Satz. Die Kategorie des Worts voller und der Status der Parenthese werden in diesem Modell nicht weiter diskutiert, Letztere kann einfach im Mittelfeld des betreffenden Satzes verortet werden.
Horst Lohnstein stellt zunächst einige Unterschiede des neueren minimalistischen Modells generativer Syntax zu seinem Vorgängermodell, der GB-Theorie, dar. Bei der phrasenstrukturellen Modellierung entscheidet er sich für eine Variante des X‘-Schemas, bei der nur funktionale Projektionen Spezifikatorpositionen haben, was die Annahmen über derivationelle Operationen vermindert. Dies würde zwar Zusatzannahmen für VP-interne Subjekte nötig machen (vgl. Grewendorf 2002: 48), diese spielen aber für die Modellierung der hier vorliegenden Sätze keine Rolle. In seiner Analyse weist auch er darauf hin, dass alle Sätze deklarative V2-Sätze sind, bei denen die Position vor dem Finitum von einem [–w]-Ausdruck besetzt ist. Den kategoriellen Status von voller diskutiert er ausführlich und kommt aufgrund seiner morphologischen und vor allem distributionellen Eigenschaften zu dem Schluss, dass es weder Adjektiv noch Präposition sein könne. Aus diesem Grund entscheidet er sich für die Alternative eines quantifikationellen Kopfes in der Domäne der Determinansphrase oberhalb der NP. Die Parenthese analysiert er in Anlehnung an Pittner (1995) und d‘Avis (2005) als Adjunkt an die darauffolgende DP. Eine weitere Besonderheit stellt seine Analyse des Koordinats Menschen verschmutzen das Wasser und fangen… dar, wo er in Anlehnung an Ross (1967: 176f.) ‚across-the-board‘-Extraktion annimmt und so das gemeinsame Subjekt der beiden Konjunkte ableitet.
Stefan Müller stellt sein Modell, die HPSG, nach einem kurzen Überblick über Geschichte und Grundlagen sogleich anhand der Analyse der Sätze des Zeitungstextes vor. Aus diesem Grund analysiert er diese als einziger nicht in ihrer Reihenfolge, sondern geordnet nach den Aspekten des Modells, die jeweils durch sie veranschaulicht werden. Dies erscheint angesichts der komplexen Architektur der HPSG, auf die er selbst explizit hinweist (vgl. S. 187), sehr sinnvoll. Voller klassifiziert er nach dem formalen Ausschluss der Kategorie Adjektiv als Präposition. Die Analyse der Parenthese spart er aus Platzgründen aus. Auffällig ist, dass Müller an mehreren Stellen versucht, Vorteile seines Modells gegenüber einem augenscheinlichen Konkurrenzmodell, nämlich dem der generativen Syntax, hervorzuheben (S. 196, 200, 226). Und als einziger in diesem Buch wendet er sich direkt gegen die Analyse eines Koautors, indem er behauptet, Koordinationsstrukturen – wie im vorigen Absatz erwähnt – könnten in der generativen Grammatik nicht ohne weiteres analysiert werden und Lohnstein schlage eine Analyse vor, in der zwei Elemente in die gleiche Position bewegt würden, was dem traditionell definierten Transformationsbegriff nicht entspreche (S. 226). Ganz abgesehen davon, dass in der generativen Syntax schon lange nicht mehr von Transformationen gesprochen wird, übersieht er hierbei offenbar Lohnsteins Bezugnahme auf einen früheren Vorschlag zur Analyse von koordinativen Strukturen, der bereits von Ross (1967) intensiv diskutiert wurde.
Elena Smirnova stellt zunächst die Satzanalyse in der systemisch-funktionalen Grammatik auf den drei Ebenen ideationell, interpersonell und textuell vor. So werden z. B. ein psychologisches, ein grammatisches und ein logisches Subjekt unterschieden, die einander nicht entsprechen müssen. Die vorgeschlagenen Analysen sind eher funktional als formal, sodass die formalen Eigenschaften von voller nicht weiter diskutiert werden und es in der Reihe mit den darauffolgenden Adjektiven ebenfalls als solches analysiert wird (S. 253). Parenthetische Einschübe bleiben bewusst unberücksichtigt, da sie außerhalb der Satzstruktur stünden; Smirnova weist jedoch auf die Möglichkeit der Klassifizierung als modales Adjunkt hin (S. 256).
Die von Andreas Lötscher vorgestellte funktionale Satzperspektive versteht sich weniger als Theorie der Syntax (als Baustein der Grammatik) denn als Theorie der diskursfunktionellen Faktoren, die zur Variation der Konstituentenabfolge führen. Entsprechend werden zunächst die Ebenen der Informationsstruktur sowie die sprachlichen Mittel von deren Markierung eingeführt und anhand einschlägiger Beispiele auf interessante Weise diskutiert. Im Anschluss werden die Sätze des Textes in ihre informationsstrukturellen Einheiten untergliedert und detailliert kommentiert. Hierbei spielt weder die Wortart von voller eine Rolle (S. 290) noch die syntaktische Behandlung der Parenthese, die als „eigene Äußerungseinheit“ bezeichnet wird (S. 292).
Auch der Beitrag von Alexander Ziem, Hans C. Boas & Josef Ruppenhofer beschäftigt sich weniger mit grammatischen Aspekten des Satzes denn mit dem verstehensrelevanten Wissen, „das nötig ist, um komplexe sprachliche Einheiten angemessen zu benutzen und zu verarbeiten“. Ziel ist nicht, „grammatische Strukturen ‚an sich‘ zu erfassen, sondern stets mit Blick auf die Frage, was sie zum Verstehen (…) beitragen“ (S. 298). Zwar beziehen sich die Autoren auf die zentrale Annahme der Konstruktionsgrammatik, dass die Satzstruktur nicht regelbasiert hergeleitet, sondern exakt wie Wörter in Form von Konstruktionen memorisiert sei, die „konventionalisierte Form-Bedeutungspaare“ darstellten (S. 297). Dies wird jedoch nicht weiter ausgeführt, sondern nur vorausgesetzt. Die Analyse bezieht sich dann auf kognitiv-konzeptuelle Eigenschaften der Ausdrücke; so wird z. B. voller zunächst als Element beschrieben, das ähnlich wie die Partizipien bedeckt, übersät und überzogen den sog. Frame ,abounding_with‘ evoziere. Frames repräsentieren „Wissen über wiederkehrende, zum Teil kulturspezifische Erfahrungen“ (S. 303). Frame-Elemente seien in ihrer Funktion und auch formal restringiert, wobei aus den knappen Ausführungen der Autoren zur Grammatik nicht klar wird, wie die unterschiedlichen morphosyntaktischen Formen der hier besprochenen Frame-Elemente herzuleiten sind. Die Autoren beziehen sich auf verschiedene Werke, bezeichnen das Verhalten der lexikalischen Einheit voller als „in mehrerlei Hinsicht ungewöhnlich“ (S. 305, Fn. 13) und klassifizieren es später ohne weitere Diskussion als Adjektiv. Die weitere Analyse der Sätze des Textes wird durch die Einteilung in Frames wie ,Natural_features‘ (Meer), ,Desirability‘ (wunderbarer) oder ,Idiosyncrasy‘ (verrückter und besonderer) vorgenommen, ohne deren formale Eigenschaften zu diskutieren. Auch Ziem, Boas & Ruppenhofer versuchen ihr Modell, wie in der Konstruktionsgrammatik üblich, als die bessere Alternative zur generativen Grammatik darzustellen, indem sie dort schon seit langem nicht mehr gängige Annahmen über Transformationen kritisieren (S. 299), die „Brauchbarkeit der (…) Unterscheidung von Kompetenz und Performanz“ anzweifeln (S. 301) und eine „weitgehend unbestrittene Annahme, dass sowohl syntaktische Funktionen als auch Phrasenstrukturen den Status von Konstruktionen haben“, suggerieren (S. 308). Es fragt sich allerdings, warum sich gewisse Theorien noch lange Zeit, nachdem sie erstmals vorgeschlagen wurden, großenteils in Konkurrenz zu einem nach objektiven Kriterien entwickelten formalen Modell zu definieren scheinen.
Gesamtbetrachtung
Ohne Zweifel stellt dieses Buch mit seinem Konzept des direkten Vergleichs von Erklärungs- und Beschreibungsmodellen eine äußerst interessante Lektüre für alle dar, die sich mit Syntax und deren theoretischer Modellierung befassen. Auch für die Lehre ist es mit Sicherheit geeignet, sowohl hinsichtlich des Modellvergleichs als auch wegen der Präsentation der Analysen für Sätze eines zusammenhängenden Texts. Ich vermisse aber zwei wesentliche Dinge: Zwar äußert Stefan Müller auf euphorische Weise, es sei „fantastisch zu sehen, dass in den hier besprochenen 10 Sätzen schon fast alle wichtigen Konstruktionen des Deutschen vorkommen“ (S. 228). Es fällt jedoch gleich ins Auge, dass die Auswahl an Formtypen von Sätzen unvollständig ist und es sich fast nur um deklarative V2-Sätze handelt. Wohl aus diesem Grund verwenden viele der Autoren zunächst eigene Beispiele, um wichtige Charakteristika ihrer Modelle zu demonstrieren, was hinsichtlich der Idee des Buchs etwas schade ist. Vor allem nicht deklarative V1-Sätze verschiedenen Typus hätten den Vergleich der Analysen sehr bereichert, auch die Behandlung von W-Ausdrücken vor dem Finitum und im V-End-Satz, die Analyse von Infinitivkonstruktionen mit zu (präverbal und postverbal), AcI, Abfolgeänderungen vor und im Verbalkomplex – es gäbe noch viele Bereiche, die aufschlussreich wären, um z. B. zu beurteilen, ob sich verschiedene Modelle für die Beschreibung unterschiedlicher Phänomene unterschiedlich gut eignen. Der zweite Punkt betrifft das abrupte Ende – ein zusammenfassender und vergleichender Überblick wäre wünschenswert gewesen, vor allem, wenn das Buch zu didaktischen Zwecken eingesetzt werden soll. Ich kann aber kaum genügend hervorheben, dass ich das Buch durch eben die Idee des direkten Vergleichs und auch durch die Zusammenstellung und den Aufbau dennoch und unbedingt als eine Bereicherung des wissenschaftlichen Diskurses empfinde.
Literatur
D‘Avis, Franz-Josef. 2005. Über Parenthesen. In: Ders. (Hg.). Deutsche Syntax. Empirie und Theorie. Göteborg: Acta Universitatis Gothoburgensis. 259–279.Search in Google Scholar
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Pittner, Karin. 1995. Zur Syntax von Parenthesen. In: Linguistische Berichte 156, 85–108.Search in Google Scholar
Ross, John Robert. 1967. Constraints on Variables in Syntax. Dissertation, MIT.Search in Google Scholar
© 2015, Peter Öhl, published by de Gruyter
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