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BY-NC-ND 3.0 license Open Access Published by De Gruyter January 14, 2016

Roland Kehrein. 2012. Regionalsprachliche Spektren im Raum: Zur linguistischen Struktur der Vertikale

  • Robert Möller EMAIL logo

Rezensierte Publikation:

Kehrein Roland 2012 Regionalsprachliche Spektren im Raum: Zur linguistischen Struktur der Vertikale (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte 152) Stuttgart Franz Steiner 389 S.


Das Habilitationsprojekt von Roland Kehrein kann als Pilotprojekt für das Marburger Langzeitprojekt Regionalsprache.de (REDE) gesehen werden: Für sieben Ortspunkte aus verschiedenen Dialekträumen hat Kehrein Erhebungen und Analysen durchgeführt, die das REDE-Projekt in breiter diatopischer Streuung ausweitet. Mit der vorliegenden Arbeit werden nun die Ergebnisse dieser exemplarischen Untersuchungen präsentiert, mit denen erstmalig versucht wird, die Struktur von lokalen Sprachlagenspektren zwischen Ortsdialekt und deutscher Standardsprache in den verschiedenen deutschen Dialekträumen so zu erfassen, dass ein genauer Vergleich möglich wird.

Das Material dafür ist in mittlerweile bewährter Weise gestaffelt: Pro Sprecher wurden der standardnächste und der standardfernste Pol des individuellen Repertoires erhoben (Übersetzung der Wenkersätze in beide Richtungen) sowie Aufnahmen freier Rede in intendiert formeller Situation (Interview zur Sprachbiographie) und im Freundesgespräch gemacht. Hinzu kommen die Leseaussprache und bei der Hälfte der Sprecher (Polizisten) Aufnahmen aus dem „Notruf-Projekt“, in dem flächendeckend die – routinemäßig immer aufgezeichneten – Antworten der Polizisten in Notrufannahmestellen gesammelt wurden. Die situative Staffelung wird durch eine soziologische ergänzt, pro Ortspunkt sind die erhobenen Sprecher folgende: zwei Polizisten zwischen 45 und 55 Jahren, ein über 65-jähriger, manuell tätiger Sprecher sowie ein junger Sprecher zwischen 18 und 20 Jahren mit (angestrebtem) höherem Schulabschluss. Diese Bündelung der Faktoren Alter und Bildungsgrad bzw. Kommunikationsanforderungen dürfte zwar dazu führen, dass die sprachlichen Verhältnisse sich klarer gegliedert zeigen, als sie in Wirklichkeit sind (und unter anderem geht es ja gerade um die Frage, wie sie gegliedert sind). Sie hat umgekehrt aber den Vorteil, die maximale Breite der örtlichen Repertoires zu erfassen und darüber hinaus Einblick in langfristige Entwicklungen zu geben, da so in apparent time die Entwicklung der Kommunikations- und Bildungsverhältnisse nachgestellt wird.

Wenn das Vorgehen pro Ort bis hierher großenteils den Erhebungskonzepten vorausgehender Studien zu einzelnen Ortspunkten entspricht, so liegt die Herausforderung nun vor allem darin, dieses Material so auszuwerten, dass trotz der diatopischen Unterschiede bei den konkreten sprachlichen Merkmalen ein Vergleich der Strukturierung der verschiedenen örtlichen Repertoires möglich wird. Gelöst wird dies vor allem über die Methode der Dialektalitätsmessung bzw. Messung des Abstands zur kodifizierten Norm1[1] (s. Herrgen u. a. 2001), bei der die Wortformen einer Aufnahme segmentweise mit den entsprechenden Wortformen des kodifizierten Standards abgeglichen werden und Unterschiede jeweils nach phonetischer Distanz gewichtet werden (woraus sich dann eine mittlere Distanz für den Gesamttext berechnen lässt). Über Details solcher Distanzberechnungen bzw. Gewichtungen kann immer gestritten werden, das hier angewandte Verfahren hat sich jedoch auch durch den Abgleich mit Eindrücken von Laien bestätigt (vgl. auch Kap. 8 der vorliegenden Arbeit, s. u.), was das Vertrauen darin bestärkt – auch wenn der Messbarkeits-Optimismus angesichts der Tatsache, dass die Kennwerte in der Regel Mittelwerte sind, gelegentlich etwas weit getrieben wird.2[2] Für die Erfassung der wesentlichen Züge einer Gesamtentwicklung ist die sinnvolle Vereinfachung der tatsächlichen Variationsbreite in den Sprach- und Einschätzungsdaten (über die Auswahl ‚repräsentativer‘ Sprecher und statistische Reduktion der Daten – Clusteranalyse, Mittelwerte) jedoch sicherlich hilfreich und legitim.

Nach theoretischen Erwägungen und Darlegung des bisherigen Kenntnisstands in den ersten Kapiteln und einem Abgleich der Ergebnisse für Wittlich mit denen von Lenz (2003) gilt die ausführlichste Datenanalyse („REDE-Modellanalyse“, S. 107) dem Ortspunkt Waldshut-Tiengen (Kap. 6); zusätzlich zur Distanzmessung wird hier in einer genauen Variablenanalyse die soziologische und situative Variation untersucht und zu den sprachbiographischen Interview-Angaben der Informanten in Beziehung gesetzt. Auf der Ebene der Variablen entwickelt Kehrein aus der Analyse die Unterscheidung von zwei Merkmalstypen („Typ 1“ und „Typ 2“), die stark an Schirmunskis „primäre“ und „sekundäre“ Dialektmerkmale erinnern (vgl. Schirmunski 1928/29, 1930). Kehrein distanziert sich allerdings von Schirmunskis zentralem Unterscheidungskriterium „Auffälligkeit“ und ersetzt dies durch das Kriterium, ob „die standardsprachliche Variante – vermittelt über die schriftliche Realisierung – eindeutig aus der dialektalen Variante abgeleitet bzw. ihr zugeordnet werden kann“ oder nicht (S. 165). Etwas unklar bleibt hier und an den anderen Stellen, an denen die beiden Variablentypen diskutiert werden (etwa S. 209 f., 356), welche Rolle dabei der Regelhaftigkeit des Verhältnisses von standardsprachlicher und dialektaler Variante zugemessen wird (die bei Typ1-Merkmalen oft durchaus nicht vollständig gegeben ist, vgl. schon das angeführte Beispiel dial. [i:/i] – st. S. 165; ein lexemgebundener Erwerb der standardsprachlichen Form ist bei diesem Typ wohl meistens doch anzunehmen) und welche Bedeutung demgegenüber der Frage zukommt, ob die Zuordnung eines dialektalen Phonems zu dem „schriftdeutschen“ Buchstaben möglich ist und zu einer korrekten Oralisierung führt. In der Folge führt Kehrein außerdem noch weitere für die Kontrollierbarkeit eines Merkmals relevante Faktoren auf (unter anderem die strukturelle Belastung der betreffenden Opposition in der Standardsprache und die „Auffälligkeit des Unterschieds“, S. 166).

In Kap. 7 wird dann auch für die übrigen fünf Ortspunkte das jeweilige Sample von Sprachproben „vermessen“ (Abstand zur Standardnorm) und die Ergebnisse werden mit aufschlussreichen Beobachtungen zum Variantengebrauch und dessen soziosituativer Differenzierung sowie Hinweisen aus den Interviews ergänzt. Außerdem wird näher untersucht, welche regionalen Merkmale auch in den Aufnahmen zum intendierten Standard (Wenkersätze und Vorlesetext) vorkommen („Restarealität“). Dieses und das folgende Kapitel zur Hörerurteil-Dialektalität sind wegen des diatopischen Vergleichs ganz besonders interessant. Die Unterschiede zwischen den ortsspezifischen Profilen von Dialektalitätswerten pro Sprecher und Situation sind z. T. eklatant. Dies betrifft natürlich den Unterschied zwischen dem hochdeutschen Gebiet und dem niederdeutschen – dort sind die intendiert dialektalen Aufnahmen erwartungsgemäß besonders weit von Standard entfernt und die nicht dialektalen umgekehrt besonders standardnah. Dass die Freundesgespräch-Aufnahmen der dialektkompetenten Sprecher in der Mitte liegen, erklärt Kehrein vor allem mit zahlreichen nicht eingelauteten Wortentlehnungen aus dem Standard; um eine echte „Zwischenlage“ handelt es sich hier also nicht. (Hier zeigt sich zum einen, dass die Messung Entscheidendes manchmal nicht sichtbar machen kann, und zum anderen, dass der Autor sich das Material über die Messung hinaus genau ansieht und das nicht Erfasste ergänzt. Eventuell wäre allerdings auch an anderen Ortspunkten mit demselben Phänomen zu rechnen.)

Ebenso auffällig ist auch die Zusammendrängung der Werte für die verschiedenen Aufnahmesituationen in dem Material aus Bamberg und besonders dem aus Dresden, wo der intendierte Dialekt sogar etwas näher an der Standardnorm liegt als das Freundesgespräch, während insgesamt die Distanz zum Standard bei allen Aufnahmen hier besonders hoch ist. Im mittelbairischen Trostberg ergibt sich dagegen eine klare Spaltung zwischen den Wenkersätzen in intendiertem Standard bzw. der Leseaussprache und der Sprache in den übrigen Situationen inklusive des Interviews, die sich auch im Einzelnen im situativ bedingten (Nicht-)Gebrauch bestimmter Varianten niederschlägt.

Im achten Kapitel wird dann die Beurteilung der Vorlese-Aussprache von Polizisten aus 16 Orten in verschiedenen Dialekträumen durch Studenten aus acht verschiedenen Regionen untersucht; ein kurzer Ausschnitt der Vorlesetexte war auf einer siebenstufigen Skala zwischen „reinem Hochdeutsch“ und „tiefstem Dialekt“ einzuordnen. Das Ergebnis ist schlagend: Die Studenten, die aus derselben Region stammen wie die jeweilige Sprachprobe, beurteilen letztere nicht anders als die Hörer aus anderen Regionen, sie nehmen die regionalen Merkmale des eigenen Raums genauso deutlich wahr wie die Merkmale anderer Gebiete. Und ihre subjektiven Einstufungen korrelieren darüber hinaus mit dem Ergebnis der linguistischen Abstandsmessung. Sowohl nach dem Hörerurteil als auch nach der Abstandsmessung sind die Vorlese-Proben aus dem niederdeutschen Raum als standardnah einzustufen, die meisten aus dem mitteldeutschen Raum und die aus dem oberdeutschen Raum eher als standardfern, wobei sich neben dem Süd-Nord-Gefälle weniger deutlich auch ein Ost-West-Gefälle ergibt. Kehrein bietet eine Erklärung für diese Unterschiede: In den Regionen, in denen die Vorlese-Aussprache standardnah ist, sind die Dialekte eher durch Merkmale vom „Typ 1“ charakterisiert, die sich gut kontrollieren lassen, in den anderen (Ostfränkisch, Obersächsisch – also die Regionen, die besonderen Anteil an der Herausbildung der neuhochdeutschen Gemeinsprache hatten und daher nur in wenigen Merkmalen erheblich davon abweichen) dominieren dagegen Merkmale vom „Typ 2“. Daher sei in den letzteren Regionen eine weitere Annäherung an die Standardsprache schwieriger als in den anderen. Dass eine größere Distanz (wie im niederdeutschen Raum) einen bewussteren Erwerb begünstigt, ist natürlich einsichtig. Allerdings spielt für die Kontrollierbarkeit eines Merkmals eben auch das Vorhandensein des Standard-Lauts im dialektalen Inventar eine Rolle. Wieso das Ostfränkische und das Obersächsische einfach infolge der geringen Zahl von Merkmalen vom „Typ 1“ in dieser Hinsicht schlechtere Bedingungen haben sollten (= mehr Merkmale des nur schwer kontrollierbaren „Typs 2“), ist nicht ganz deutlich – dass die niederdeutschen Dialekte hier im ‚Vorteil‘ sind, ergibt sich ja weniger aus deren Distanz zum Hochdeutschen als aus der Bevorzugung der niederdeutsch basierten Leseaussprache bei der Festlegung der Lautungsnorm.

Kehrein zieht aus den Ergebnissen der Hörerurteils-Erhebung die Schlussfolgerung, dass die Annahme regionaler Standardvarietäten abzulehnen ist (S. 339 f.), da die Urteile der Hörer eben keinen Hinweis auf eine positivere Beurteilung der Merkmale der eigenen Region liefern. Letzteres ist in der Tat eindeutig. Dass jedoch Germanistik-Studenten, wenn vor den „normalen“ Proben vorab eine Aufnahme in tiefem Dialekt und dann eine des Tagesschau-Chefsprechers Jan Hofer vorgespielt werden, die Aufnahme des Nachrichtensprechers als Referenzgröße für „Hochdeutsch“ behandeln, ist wiederum nicht wirklich überraschend, und dass sie darüber hinaus in der Lage sind, Abweichungen hiervon zutreffend einzuschätzen, ist auch nicht völlig unerwartet. Wenn z. B. im Gymnasialunterricht seit langem der Kodifikation gemäß eine tendenziell norddeutsche Leseaussprache gefördert wird (vgl. auch S. 360), bleibt dies natürlich nicht folgenlos. Ob man jedoch bereit ist, eine „regionale Prestigesprechweise“ (vgl. S. 30, aus Sprechersicht: „bestes Hochdeutsch der Region“) als „regionalen (Gebrauchs)standard“ zu bezeichnen, oder wie Kehrein und Schmidt/Herrgen (2011) den Terminus „Standard“ grundsätzlich für eine normierte, kodifizierte, auf Überregionalität ausgerichtete Varietät reservieren will, ist eigentlich keine empirische Frage (so wird sie ja auch schon in Kap. 2.2 beantwortet). Empirisch zu klären wäre dagegen, wie weit tatsächlich die regionale Akzeptanz solcher Sprachlagen in formeller Situation geht – wobei grundsätzlich auch zwischen intendiertem, aber nicht ganz erreichtem Standard und einer kollektiv anerkannten regionalen Prestigesprechweise zu unterscheiden wäre: „Das ist bei uns in Ordnung so“ muss nicht per se gleichbedeutend sein mit „Wir können es halt nicht besser“. Interessant wäre insofern auch gewesen, zu sehen, wie die mittel- und oberdeutschen Studenten die Proben aus der eigenen Region spontan eingestuft hätten, ohne vorangehende „Eichung“ über die Jan-Hofer-Aufnahme (und vielleicht ohne den Kontrast zu norddeutschen Aufnahmen).

Im Schlusskapitel werden die Ergebnisse aus apparent-time-Perspektive betrachtet. Die konstatierten Verhältnisse lassen sich im hochdeutschen Raum als Reflexe bzw. Momentaufnahmen unterschiedlicher Stadien einer Entwicklung erklären, die vom Normaltyp des dialektal sozialisierten Sprechers, der in der Schule die Standardsprache erwirbt, über den, der auch im Alltag zunehmend den Regiolekt verwendet oder aber den Dialekt immer weniger klar vom Regiolekt trennt (letzteres in den Regionen mit geringer Distanz zwischen Dialekt und nhd. Gemeinsprache), hin zum Typ des Regiolektsprechers ohne Dialektkompetenz führt. Die Abfolge wäre also: Trostberg (vorwiegend diglossische Sprecher) – Bamberg und Waldshut-Tiengen (Beginn der Entdiglossierung) – Wittlich (keine diglossischen Sprecher mehr, vorwiegend monovarietäre Regiolektsprecher) – Dresden (nur noch monovarietäre Regiolektsprecher).3[3] Richtung und Teilschritte dieser Entwicklung lassen sich hiernach voraussagen. Hinsichtlich der Frage, ob sie in einer Region tatsächlich eintritt und letztendlich vollständig durchgeführt wird, verweist Kehrein jedoch auf die Bedeutung der Attitüden der Sprecher, deren Relevanz auch schon im individuellen Fall bei der Erklärung der Varietätenwahl in freier Rede herausgearbeitet wird.

Auch hier zeigt sich wieder die Kombination von Streben zu weitreichender Generalisierung einerseits und kritischem Augenmaß sowie sachlicher und gedanklicher Sorgfalt andererseits, die die ganze Arbeit auszeichnet und ausgesprochen überzeugend macht. Es lohnt sich also unbedingt, über die schon in kürzeren Publikationen zugänglich gemachten Hauptergebnisse hinaus die ganze Studie im Zusammenhang zu lesen.

Literatur

Herrgen, Joachim, Alfred Lameli, Stefan Rabanus & Jürgen Erich Schmidt. 2001. Dialektalität als phonetische Distanz. Ein Verfahren zur Messung standarddivergenter Sprechformen (Manuskript) <https://www.uni-marburg.de/fb09/dsa/publikationen/dialektalitaetsmessung> (Stand: 20.10.2014)Search in Google Scholar

Lenz, Alexandra. 2003. Struktur und Dynamik des Substandards. Eine Studie zum Westmitteldeutschen (Wittlich/Eifel) (ZDL-Beiheft 125). Stuttgart: Franz Steiner.Search in Google Scholar

Purschke, Christoph. 2003. Hörerurteil-Dialektalität. Versuch einer methodischen Validierung des Tests zur Hörerurteil-Dialekalität im Hinblick auf die empirische Untersuchung regionaler Bewertungsdifferenzen im Hörerurteil. Magisterarbeit. Philipps-Universität Marburg (unveröffentlicht).Search in Google Scholar

Schirmunski, Victor. 1928/29. Die schwäbischen Mundarten in Transkaukasien und Südukraine. In: Teuthonista 5, 38–60; 157–171.Search in Google Scholar

Schirmunski, Victor. 1930. Sprachgeschichte und Siedelungsmundarten. In: Germanisch-romanische Monatsschrift XVIII, 113–123; 171–188.Search in Google Scholar

Schmidt, Jürgen Erich & Joachim Herrgen. 2011. Sprachdynamik. Eine Einführung in die moderne Regionalsprachenforschung. Berlin: Erich Schmidt.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2016-1-14
Erschienen im Druck: 2015-12-1

© 2015, Robert Möller, published by de Gruyter

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Downloaded on 10.6.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2015-0012/html
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