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BY-NC-ND 3.0 license Open Access Published by De Gruyter January 14, 2016

Birte Kellermeier-Rehbein. 2014. Plurizentrik. Eine Einführung in die nationalen Varietäten des Deutschen

  • Anna Thurner EMAIL logo

Rezensierte Publikation:

Kellermeier-Rehbein Birte 2014 Plurizentrik. Eine Einführung in die nationalen Varietäten des Deutschen Berlin Erich Schmidt 264 S.


Bei der zu besprechenden Publikation handelt es sich um ein Studienbuch, das in die nationalen Standardvarietäten des Deutschen einführt. Mit dem Gegenstandsbereich der Standardvariation ist ein Themengebiet angesprochen, das in den letzten 20 Jahren verstärkt in den Fokus wissenschaftlicher Forschung gerückt ist, wobei für das hier interessierende plurizentrische Sprachmodell entsprechende Theoriebildungen (Clyne 1992, Ammon 1995) stattgefunden haben und die Annahme von differierenden nationalen Standardvarietäten spätestens seit dem Erscheinen des Variantenwörterbuchs des Deutschen (Ammon et al. 2004) einen festen Platz im variationslinguistischen Forschungsdiskurs hat. Für ein studentisches Zielpublikum wurde der Themenbereich bislang allerdings noch nicht mit einer eigens dafür konzipierten Publikation erschlossen, weshalb der vorliegende Band aus dem Verlagshaus Erich Schmidt diese Lücke nun schließen will.

Das Werk ist im Rahmen der Lehrtätigkeit der Autorin an der Bergischen Universität Wuppertal entstanden und richtet sich in erster Linie an Studierende der Sprachwissenschaft in Bachelor- und Lehramtsstudiengängen. Ziel ist es, in das „sprachwissenschaftlich und gesellschaftlich relevante Thema Plurizentrik […] anhand einschlägiger Termini der Variationslinguistik und theoretischer Modelle“ (S. 5) einzuführen. Diesem Anspruch folgend hat die Autorin das Werk in sechs thematische Abschnitte gegliedert, die den Gegenstandsbereich aus unterschiedlicher Perspektive beleuchten. Die ersten beiden Abschnitte führen in die Grundbegriffe der Variationslinguistik und Plurizentrik ein („Sprachliche Variation im Deutschen: Ein Überblick“) und beschreiben Standardvarianten des Deutschen sprachebenenspezifisch („Linguistische Darstellung nationaler Varianten“). In den folgenden Abschnitten werden nacheinander historische („Standardvariation gestern und heute“), soziopragmatische („Soziolinguistische Aspekte von Standardvariation“), lexikografische und didaktische („Nationale Varianten in Lexikographie und Didaktik“) und schließlich übereinzelsprachliche Aspekte („Ein Blick über den Tellerrand …“) thematisiert.

Da das Werk nicht nur für das Selbststudium, sondern explizit auch als „Lehrbuch […] für die Verwendung als Textgrundlage in Hochschulseminaren“ (S. 6) konzipiert ist, werden die thematischen Abschnitte zusätzlich fortlaufend in 15 Kapitel untergliedert, die 15 Seminareinheiten eines Semesters entsprechen. Pro Sitzung kann also je ein Kapitel besprochen werden, wobei es für das Verständnis nicht unbedingt erforderlich ist, jedes Kapitel im Detail zu behandeln.

Die einzelnen Kapitel sind einheitlich strukturiert. Eine kurze Einleitung führt jeweils in das Thema ein und erläutert grundlegende Konzepte und Fachtermini. Daran anschließend werden die einzelnen Themenbereiche abgehandelt, wobei die Ausführungen stets durch Beispiele verdeutlicht werden. In den Fließtext eingefügte illustrative Abbildungen, Tabellen und Diagramme sind auflockernd und tragen ebenso zum Verstehensprozess bei. Am Ende jedes Kapitels werden die zentralen Inhalte in einem Rahmen knapp zusammengefasst, außerdem finden sich Aufgaben und Übungen zur Wiederholung oder Vertiefung des Stoffes, für die im Internet ein Lösungsschlüssel einsehbar ist. Ergänzend wird weiterführende Literatur zum Thema genannt, wobei sich die Autorin, aus didaktischer Perspektive zweckmäßig, auf die Nennung ausgewählter Hinweise beschränkt. Des Weiteren bietet das Werk ein sorgfältig erstelltes Stichwortverzeichnis, das gezieltes Nachschlagen ermöglicht. Für Fortgeschrittene eignet sich das Werk somit auch zum punktuellen Lesen ausgewählter Abschnitte. Anfängern ist – zumindest im Selbststudium – eher eine zusammenhängende Lektüre zu empfehlen, da die Einheiten durch verständnissteuernde Verweise eng verflochten und, wie im Folgenden skizziert, aufbauend sind.

Kapitelgliederung und Inhalt

Ein einleitendes Kapitel (Kapitel 1) stellt die vielfache Differenziertheit der deutschen Varietätenlandschaft vor und vermittelt Grundlagen zu Faktoren für sprachliche Variabilität. Daraufhin fokussiert Kapitel 2 die diatopische Variationsdimension und stellt das Modell plurizentrischer Sprachen vor, zu denen auch die deutsche Sprache gerechnet wird. Im Zentrum des Interesses stehen in weiterer Folge die differierenden Standardvarietäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die durch die Merkmale bestimmt werden, dass sie Amtssprache ihres nationalen Zentrums und präskriptiv kodifiziert sind. Ausgangspunkt der Darstellung ist also in erster Linie das plurinationale Beschreibungsmodell von Standardvariation.

Die für nationale Varietäten charakteristischen nationalen Varianten (als Austriazismen, Helvetismen und Teutonismen bezeichnet) werden daraufhin näher beschrieben und u. a. anhand von Merkmalen wie Verbreitungsgebiet, Bekanntheit, Spezifik und Austauschbarkeit klassifiziert (Kapitel 3 und 4). Als weitere für die Bestimmung von Varietäten bzw. für die „Zuordnung von Varietäten zu Sprachen“ (Kapitel 5) heranzuziehende Kriterien werden jenes der linguistischen Ähnlichkeit, der Überdachung und der Selbstzuordnung der Sprecher genannt. Am Beispiel des Niederdeutschen wird außerdem die Problematik der „Annäherung an den Dialektbegriff und [… der] Abgrenzung von Dialekt und Standard“ (S. 58) illustriert (Kapitel 6).

Der zweite thematische Abschnitt beschreibt nationale Varianten sprachebenenspezifisch, der inhaltliche Schwerpunkt liegt hierbei auf der Darstellung der in der Forschung bereits dokumentierten Wortschatzvariation (Kapitel 7) und führt Beispiele für semasiologische und onomasiologische Varianten an, die dem Variantenwörterbuch des Deutschen entnommen sind. Gegenstand von Kapitel 8 sind schließlich „[n]ationale Varianten der Grammatik“ (S. 95), wobei der zugrunde gelegte Grammatikbegriff sehr weit gefasst wird und die Ebenen der Lautung, Orthografie, Morphosyntax und Wortbildung meint. In einem ersten Schritt werden Beispiele für Aussprachevarianten genannt und einschlägige Aussprachewörterbücher vorgestellt, mit dem Hinweis, dass nicht nur Gebrauch und Definition der Standardlautung problematische Faktoren sind, sondern dass auch „ungewiss bleibt, […] inwiefern der Sprachgebrauch von Modellsprechern Berücksichtigung bei der Kodifizierung findet“ (S. 95). Der Übersicht über nationale Schreibvarianten folgt schließlich eine exemplarische Darstellung von Variationsphänomenen betreffend Genus, Rektion und Wortbildung, die sich auf die Nennung einiger Beispiele beschränkt, da die systematische Erfassung und Dokumentation grammatischer Variation bislang noch nicht abschlossen ist.

Der dritte Abschnitt stellt „Standardvariation innerhalb der deutschsprachigen Staaten“ (Kapitel 9) vor und bringt diese in Zusammenhang mit der (sprach-)historischen Entwicklung der drei Staaten Österreich, Deutschland und Schweiz (Kapitel 10). Als Faktoren für die als „Binnenvariation bezeichnete Variation der Standardvarietäten innerhalb der Vollzentren des Deutschen“ (S. 126) werden Dialekträume, Sprachkontakt, (Sprach-)politik u. a. genannt.

Abschnitt 4 thematisiert Soziologie und Pragmatik von Standardvarietäten und geht auf Fragen nationaler Stereotypen und Identität (Kapitel 12) ebenso wie auf Typen der Relation zwischen Standardsprache und Dialekt (Kapitel 11) ein.

Gegenstand von Kapitel 13 sind „[n]ationale Varianten in einer plurizentrischen Wörterbuchlandschaft“ (S. 191) und damit der kodifizierte Standard, der als ein zentrales Kriterium für die Bestimmung nationaler Varietäten herangezogen wird. Es werden grundlegende Fragen zur Erfassung und Kennzeichnung von lexikalischen Varianten in Wörterbüchern angesprochen und es wird am Beispiel der Duden-Bände, des Österreichischen Wörterbuches und einiger Schweizer Wörterbücher auf das Vorgehen hingewiesen, in „Kodizes der einzelnen Sprachzentren nur die fremdnationalen Varianten entsprechend zu markieren, während die eigenen sprachlichen Besonderheiten unmarkiert erscheinen“ (S. 192). Daraufhin werden Aufbau, Gebrauchsmarkierung und Artikeltypen des Variantenwörterbuchs des Deutschen vorgestellt, das eine „umfassende Darstellung der nationalen Varietäten des Deutschen“ (S. 204) bietet und einen „dreiseitigen Vergleich“ (S. 204) vornimmt.

Sprachliche Variation hat nicht nur in der linguistischen Forschung, sondern in den letzten Jahren zunehmend auch in der Sprachdidaktik Interesse gefunden. Folgerichtig stellt Kapitel 14 („Nationale Varietäten aus didaktischer Perspektive“) die Relevanz des Themas für die Deutschdidaktik heraus und liefert einen knappen Überblick über unterschiedliche Konzepte und Voraussetzungen für die Berücksichtigung oder Erarbeitung standardsprachlicher Variation sowohl im erst- und zweitsprachlichen Unterricht als auch im DaF-Bereich.

Ein Blick über den Tellerrand im Schlusskapitel beschreibt drei weitere plurizentrische Sprachen und macht deutlich, dass Standardvariation ein Merkmal nicht nur des Deutschen ist. Die Wahl fällt auf die Weltsprache Englisch, das dem Deutschen geographisch und linguistisch nahe stehende Niederländische und ein weiteres Sprachsystem, bei dem „ungeklärt ist, ob es sich um verschiedene Sprachen (Bosnisch, Kroatisch, Montenegrinisch und Serbisch) handelt oder um Varietäten einer plurizentrischen Sprache“ (S. 225).

Resümee

Das vorliegende Studienbuch bietet eine verständliche und didaktisch gut aufbereitete Darstellung der nationalen Varietäten des Deutschen, die aus unterschiedlichen Perspektiven präsentiert werden, und ist als solches als Basislektüre für eine Einführungsveranstaltung zum Thema durchaus geeignet. Es sensibilisiert für das Bewusstsein um die linguistische Gleichwertigkeit von Standardvarianten und erfüllt damit ein weiteres im Vorwort genanntes Ziel, nämlich „einen Beitrag zum besseren gegenseitigen Verständnis der verschiedenen Sprechergruppen des Deutschen [… und] zum Abbau von Vorurteilen hinsichtlich der jeweils anderen Standardvarietät“ (S. 5) zu leisten. Die Sensibilisierung für Unterschiede in der Standardsprache ist unter Schlagwörtern wie Reflexion über Sprache und Varietätenbewusstheit in den schulischen Lehrplänen mittlerweile fest verankert, die dafür erforderliche varietätenlinguistisch fundierte Ausbildung der Lehrkräfte ist jedoch leider (noch) nicht immer gegeben. Insofern kann das Lehrbuch diesbezüglich wichtige Impulse setzen.

Eine gewisse Diskrepanz ergibt sich aus dem Anspruch, das „Thema Plurizentrik […] anhand einschlägiger Termini der Variationslinguistik und theoretischer Modelle“ (S. 5) darzustellen, und der Tatsache, dass der Ausgangspunkt der Darstellung das plurinationale Beschreibungsmodell von Standardvariation ist. Zwar wird die historische Entwicklung des Deutschen zu einer Sprache mit mehrfacher Regionalität detailliert dargelegt, aber der Widerspruch, dass die vergangenen (und zukünftigen1[1]) Entwicklungen im deutschen Sprachraum die Gültigkeit staatlicher Grenzen für die Bestimmung von Varietäten nur eingeschränkt geeignet erscheinen lassen (Reiffenstein 2001: 85f.), wird nicht aufgelöst. Das ist bedauerlich, da auf diese Weise ein wesentlicher Aspekt von standardsprachlicher Heterogenität nicht durch theoretische Modellbildung erhellt wird und die studentische Leserschaft den Widerspruch akzeptieren muss, dass einerseits nationale Varietäten und Varianten als scheinbarer Normalfall präsentiert werden, während die effektive Variationsbreite von Standardsprache, anschaulich an zahlreichen Beispielen illustriert, hauptsächlich neben bzw. über nationale Grenzen hinweg wirksam wird. Insbesondere für Fortgeschrittene könnten ergänzende Hinweise auf alternative Beschreibungsmodelle, die sprachliche Variabilität nicht in erster Linie an nationale Grenzen knüpfen, sondern als typologisches Merkmal des Deutschen betrachten, eine wertvolle Anregung für die weitergehende Beschäftigung mit dem Thema darstellen.

Literatur

Ammon, Ulrich. 1995. Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin, New York: De Gruyter.10.1515/9783110872170Search in Google Scholar

Ammon, Ulrich et al. (Hg.). 2004. Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol. Berlin, New York: De Gruyter.Search in Google Scholar

Clyne, Michael. 1992. German as a pluricentric language. In: Michael Clyne (Hg.). Pluricentric Languages. Differing Norms in Different Nations. Berlin, New York: De Gruyter, 117–147.Search in Google Scholar

Glauninger, Manfred Michael. 2013. Deutsch im 21. Jahrhundert: „pluri-“, „supra-“ oder „postnational“? In: Ingeborg Fiala-Fürst, Jürgen Joachimsthaler & Walter Schmitz (Hg.). Mitteleuropa. Kontakte und Kontroversen. Dresden: Thelem, 459–468.Search in Google Scholar

Reiffenstein, Ingo. 2001. Das Problem der nationalen Varietäten. Rezensionsaufsatz zu Ulrich Ammon: Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 120, 78–89.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2016-1-14
Erschienen im Druck: 2015-12-1

© 2015, Anna Thurner, published by de Gruyter

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License.

Downloaded on 29.9.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2015-0028/html
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