Rezensierte Publikation:
Stegeman Jelle 2014 Handbuch Niederländisch. Sprache und Sprachkultur von den Anfängen bis 1800 Darmstadt Wissenschaftliche Buchgesellschaft 518 S.
Über zwanzig Jahre nach dem Erscheinen der Geschichte der niederländischen Sprache von Vekeman & Ecke (1992) hat Jelle Stegeman mit seinem Handbuch Niederländisch nun wieder eine deutschsprachige Sprachgeschichte des Niederländischen vorgelegt. Das vorliegende Buch ist als erster Teil einer umfassenden Beschreibung der niederländischen Sprachgeschichte angelegt. Der Band beschreibt „Sprache und Sprachkultur von den Anfängen bis 1800“, so der Untertitel. Die Beschreibung der heutigen niederländischen Standardsprache, die sich seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet hat, ist in einem zweiten Teil des Handbuchs geplant (für den allerdings noch kein Termin angegeben ist). Dass fast gleichzeitig auch ein neuer englischsprachiger Überblick zur niederländischen Sprachgeschichte erschienen ist – Dutch: biography of a language (Willemyns 2013) – mag Zufall sein, kann aber vielleicht auch auf ein neu erwachtes Interesse an sprachgeschichtlichen Themen hindeuten.
Stegemans Sprachgeschichte soll laut Klappentext „dem Spezialisten wie dem interessierten Laien ein dynamisches Gesamtbild der Geschichte der niederländischen Sprachkultur“ vermitteln. Die Verwendung des Begriffs ‚Sprachkultur‘ deutet schon an, dass es Stegeman um mehr geht als um die Beschreibung der internen Sprachgeschichte. Sprachstrukturelle Entwicklungen und Sprachwandelprozesse sollen zu gesellschaftlichen Entwicklungen und zur Geschichte des niederländischen Sprachraums in Verbindung gesetzt werden. Die externe Sprachgeschichte nimmt daher in diesem Buch einen breiten Raum ein.
Das vorliegende Werk präsentiert keine originären Untersuchungsresultate zur Geschichte des Niederländischen; es ist eine zusammenfassende Übersicht der Entwicklungen anhand der umfangreichen Literatur zur niederländischen Sprachgeschichte. Inhaltlich ähnelt dieses Übersichtswerk daher stark den diversen niederländischsprachigen Sprachgeschichten, die auch eine wesentliche Grundlage des vorliegenden Buches bilden (zu nennen wären hier unter anderem Van der Wal & Van Bree 1992; De Vries, Willemyns & Burger 1995; Van den Toorn u. a. 1997; Willemyns & Daniëls 2003; Van der Sijs 2005; Janssens & Marynissen 2005; Van der Sijs & Willemyns 2009). Von diesen unterscheidet sich das Handbuch Niederländisch unter anderem durch die Aufnahme diverser (teils mehrseitiger) Textfragmente, die exemplarisch die jeweils behandelte Sprachstufe illustrieren sollen und zu denen teilweise auch eine deutsche Übersetzung mitgeliefert wird. Dabei geht es teils um freie Übersetzungen der Fragmente (wohl von Stegeman); manchmal werden dem niederländischen Text aber auch deutsche Bearbeitungen desselben literarischen Stoffs gegenübergestellt (so beispielsweise ein Fragment von Goethes Reineke Fuchs, das neben ein mittelniederländisches Fragment aus Van den vos Reynaerde und neben die niederdeutsche Bearbeitung, Reineke de Vos, derselben Episode gestellt wird).
Aufbau des Handbuchs
In einem einführenden Kapitel werden zunächst der Beschreibungsgegenstand und die gewählte Perspektive auf die Sprachgeschichtsschreibung erläutert. Zudem präsentiert Stegeman einige methodologische Vorüberlegungen, unter anderem zur Periodisierung der Geschichte des Niederländischen und zur verwendeten Terminologie.
Die folgenden Kapitel sind dann chronologisch angelegt. Stegeman folgt dabei der traditionellen Einteilung in verschiedene Perioden der niederländischen Sprachgeschichte. Das zweite Kapitel ist den „Vorboten des Niederländischen“ (bis 500) gewidmet, das dritte dem Altniederländischen (bis 1150). Kapitel 4 behandelt das Mittelniederländische (bis 1500). Das frühe Neuniederländische (bis 1650) ist Thema des fünften Kapitels und das sechste Kapitel behandelt das Neuniederländische bis 1800.
Die Kapitel sind weitgehend parallel aufgebaut, was ein Querlesen zu einem bestimmten Thema ermöglicht. Zunächst werden relevante Aspekte der externen Sprachgeschichte behandelt, dann folgen im dritten Paragrafen jeweils die erwähnten Textbeispiele aus verschiedenen Textsorten (unter anderem Literatur, Briefe, religiöse Texte). Anschließend geht es um die sprachlichen und sprachstrukturellen Merkmale der jeweils behandelten Periode. Auch hier folgt Stegeman der traditionellen Einteilung und behandelt zunächst Phonologie und Orthografie, dann Syntax und Morphologie und schließlich die Lexik. Will man sich also beispielsweise einen Überblick zu den Entwicklungen in Syntax und Morphologie verschaffen, dann findet man die entsprechenden Ausführungen jeweils in Paragraf 4.2 der chronologisch aufgebauten Kapitel (also 3.4.2 zum Altniederländischen, 4.4.2 zum Mittelniederländischen usw.).
Das Buch wird mit einem kurzen „Ausblick“ (Kapitel 7) abgeschlossen, in dem auf den zu erscheinenden zweiten Teil vorgegriffen wird. Stegeman skizziert hier einige Themen, die für die Entwicklung des Niederländischen nach 1800 relevant sind. Insbesondere geht es um die Herausbildung und den Status der niederländischen Standardsprache im 19. und 20. Jahrhundert.
Würdigung
Mit seinem Handbuch Niederländisch ermöglicht Jelle Stegeman interessierten deutschsprachigen Lesern und Leserinnen, die des Niederländischen nicht mächtig sind, einen Zugang zur Geschichte des Niederländischen. Durch seinen traditionellen und systematischen Aufbau eignet sich das Buch nicht nur als zusammenhängende Darstellung der verschiedenen Perioden der niederländischen Sprachgeschichte, sondern auch als Nachschlagewerk zu einzelnen Aspekten der Diachronie des Niederländischen.
Problematisch erscheint mir allerdings, dass nicht ganz klar ist, an wen das Buch sich denn genau richtet. Der viel beschworene interessierte Laie, der auch hier im Klappentext als mögliche Zielgruppe genannt wird, dürfte mit dem Buch oftmals überfordert sein, was unter anderem mit der Dichte der Darstellung zu tun hat, aber auch mit der verwendeten Terminologie. So werden beispielsweise phonologische Fachbegriffe weitgehend ohne Erläuterung verwendet. Ich bezweifle aber, dass die meisten Laien sich etwas unter „Lautentwicklungen der palatovelaren, velaren und labiovelaren Plosiven [sic]“ oder unter einem „palatalen /*k/“ vorstellen können (beides auf S. 37, wobei zudem die Bedeutung des Schrägstrichs und des Asterisks an keiner Stelle erläutert wird). Auch die Ausführungen zur germanischen Lautverschiebung (S. 43ff.) oder zum Ablaut (S. 50ff.) sind in der vorliegenden Form selbst für Studienanfänger wohl kaum selbständig nachvollziehbar. Vergleichbares gilt für die schematische bzw. tabellarische Darstellung lautlicher Entwicklungen in den späteren Kapiteln (beispielsweise in Kapitel 4.4).
Die Art der Darstellung legt über weite Strecken nahe, dass das Buch sich eher an Spezialisten richtet, an fortgeschrittene Studierende oder an Sprachhistoriker anderer Sprachen, die sich mithilfe dieses Handbuchs über das Niederländische informieren können. Auch für diese Zielgruppen erscheint mir die Art der Darstellung aber nicht optimal. Das hat unter anderem mit der verwendeten Zitierweise zu tun. Stegeman verzichtet zugunsten der Lesbarkeit auf Fußnoten und Literaturhinweise im laufenden Text (vgl. den Hinweis auf S. 15). Stattdessen finden sich jeweils am Kapitelende Literaturhinweise in Form einer unkommentierten und alphabetisch geordneten Autor/Jahr-Liste. Dieses Vorgehen macht es aber praktisch unmöglich, den behandelten Stoff gezielt anhand weiterführender Literatur zu vertiefen oder die Darlegungen kritisch zu hinterfragen.
Schade ist auch, dass die digitale Infrastruktur, die für die Beschäftigung mit der niederländischen Sprache und ihrer Geschichte zur Verfügung steht, in diesem Buch praktisch nicht vorkommt. Dass wichtige Hilfsmittel wie beispielsweise die diversen historischen Wörterbücher auch online frei verfügbar sind, wird im Buch zwar erwähnt, entsprechende Angaben und Verweise fehlen aber.1[1] Das gilt auch für die wiederholt genannte DBNL, das zentrale Digitalisierungsprojekt für die Niederlandistik. In diesem Fall wird selbst das Akronym an keiner Stelle aufgelöst (Digitale Bibliotheek voor de Nederlandse Letteren) und ein Verweis auf die URL, unter der diese digitale Bibliothek zu finden ist, fehlt ebenfalls.2[2] Andere einschlägige Textkorpora werden nicht einmal erwähnt.3[3] Gerade im Hinblick auf die Zielgruppe, die wohl nur im Ausnahmefall Zugang zu einer gut ausgestatteten niederlandistischen Bibliothek haben dürfte, halte ich dies für ein echtes Versäumnis.
Sowohl Studierende als auch sprachwissenschaftliche Kolleginnen und Kollegen würden sich zudem wohl an vielen Stellen mehr kritische Reflexion wünschen. Eine problemorientierte Diskussion sprachlicher Entwicklungen kommt bei Stegeman deutlich zu kurz. So wird man beispielsweise eine Anbindung der beschriebenen Phänomene und Entwicklungen an Diskussionen und Resultate der umfangreichen Grammatikalisierungsforschung der vergangenen Jahrzehnte oder an die teilweise recht überraschenden Forschungsresultate der modernen historischen Soziolinguistik in diesem Buch vergeblich suchen.
Von einer deutschsprachigen Geschichte des Niederländischen kann man erwarten, dass die beschriebenen Entwicklungen in Beziehung zu denen im deutschen Sprachraum gesetzt werden, und Stegeman weist auch immer wieder auf Parallelen und Divergenzen zwischen beiden Sprachen hin. Meines Erachtens hätte diese vergleichend-kontrastive Perspektive ruhig noch stärker ausfallen dürfen. Eine prinzipiell vergleichend angelegte Betrachtung hätte einem solchen Übersichtswerk einen echten Mehrwert gegenüber den diversen nationalphilologisch geprägten Sprachgeschichten auf Niederländisch verleihen können und würde das Buch zudem noch interessanter für eine germanistisch vorgeprägte Leserschaft machen.
Insgesamt hinterlässt das Handbuch Niederländisch von Jelle Stegeman aufgrund der hier angedeuteten Probleme und Schwächen bei mir also einen etwas zwiespältigen Eindruck. Dennoch ist es selbstredend verdienstvoll und positiv, dass wesentliche Aspekte der niederländischen Sprachgeschichte durch dieses Buch einem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht werden. Als traditionell angelegter systematischer Überblick wird das Handbuch für die absehbare Zukunft bestimmt eine wichtige Anlaufstelle für sprachhistorisch Interessierte sein, die sich über die Geschichte der Nachbarsprache informieren wollen.
Literatur
De Vries, Jan W., Roland Willemyns & Peter Burger. 1995. Het verhaal van een taal. Negen eeuwen Nederlands. Vijfde druk. Amsterdam: Prometheus.Search in Google Scholar
Janssens, Guy & Ann Marynissen. 2005. Het Nederlands vroeger en nu. Tweede, herwerkte uitgave. Leuven, Voorburg: Acco.Search in Google Scholar
Van den Toorn, Maarten C., W. J. Pijnenburg, J. A. van Leuvensteijn & J. M. van der Horst (Hrsg.). 1997. Geschiedenis van de Nederlandse taal. Amsterdam: Amsterdam University Press.10.5117/9789053562345Search in Google Scholar
Van der Sijs, Nicoline. 2005. De geschiedenis van het Nederlands in een notendop. Amsterdam: Uitgeverij Bert Bakker.Search in Google Scholar
Van der Sijs, Nicoline & Roland Willemyns. 2009. Het verhaal van het Nederlands: Een geschiedenis van twaalf eeuwen. Amsterdam: Uitgeverij Bert Bakker. http://depot.knaw.nl/10256/ [letzter Zugriff am 26. 09. 15].Search in Google Scholar
Van der Wal, Marijke & Cor van Bree. 1992. Geschiedenis van het Nederlands (Aula. Het wetenschappelijke boek). Utrecht: Het Spectrum.Search in Google Scholar
Vekeman, Herman & Andreas Ecke. 1992. Geschichte der niederländischen Sprache. (Germanistische Lehrbuchsammlung 83). Bern u. a.: Peter Lang.Search in Google Scholar
Willemyns, Roland. 2013. Dutch: biography of a language. Oxford, New York: Oxford University Press.Search in Google Scholar
Willemyns, Roland & Wim Daniëls. 2003. Het verhaal van het Vlaams: De geschiedenis van het Nederlands in de Zuidelijke Nederlanden. Antwerpen, Utrecht: Standaard Uitgeverij, Het Spectrum.10.21825/wt.v62i4.12808Search in Google Scholar
© 2015, Matthias Hüning, published by de Gruyter
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