Rezensierte Publikation:
Dieter Nerius. 2015. Das deutsche Rechtschreibwörterbuch. Entwicklung, Struktur und Funktion. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms. 341 S.
Der Geschichte des deutschen Rechtschreibwörterbuches wurde bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt; die Arbeit von Dieter Nerius schließt hier eine Lücke. Als der eigentliche Begründer der Gattung Rechtschreibwörterbuch wird J. Chr. Adelung mit seinem Werk Vollständige Anweisung zur Deutschen Orthographie (1788) genannt. Davon abgesehen beschränkt sich die vorliegende Arbeit aber auf den Zeitraum vom Ende des 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, da in dieser Zeit, nach der Herausbildung der deutschen Einheitsorthographie, die maßgeblichen Rechtschreibwörterbücher erarbeitet wurden. Dabei wird der Blick – wo in der Sache zielführend – sowohl auf das Jahrhundert zuvor wie auch auf das 21. Jahrhundert gerichtet, hier insbesondere unter Berücksichtigung der Entwicklungen nach der Rechtschreibreform von 1996 (vgl. Kapitel 1).
Ausgangspunkt für Nerius’ Arbeit ist der 1991 von G. Augst und B. Schaeder herausgegebene Sammelband zur Tagung „Rechtschreibwörterbücher – Geschichte, Analyse, Perspektiven“, an der sowohl Orthographieforscher als auch Lexikographen teilnahmen. Die Untersuchung der Rechtschreibwörterbücher steht im Schnittpunkt dieser zwei linguistischen Teildisziplinen, genauer der Orthographietheorie und der Metalexikographie. Beide Themenfelder, so Nerius, befanden sich im 20. Jahrhundert nicht im Fokus linguistischer Forschung (vgl. S. 18). Als einheitliche Klasse gebe es das Rechtschreibwörterbuch nicht, so der Autor in Kapitel 2, stattdessen primär rechtschreiblich orientierte Wörterbücher mit gleichwohl übereinstimmenden als auch divergierenden Merkmalen (S. 21). Hier setzt er in seiner Arbeit an, in der er Rechtschreibwörterbücher nach ihrer Funktion, Struktur und Typologie bewerten und vergleichen will. Die Funktion eines Rechtschreibwörterbuches bestehe darin, seinem Benutzer die korrekte Schreibung der Lexeme nach vereinbarter Orthographie zu dokumentieren. Das Rechtschreibwörterbuch ist also ein normatives, synchrones Wörterbuch der deutschen Standardsprache ohne explizite Deskription der Lexeme im Sprachgebrauch (S. 22). Hinsichtlich Aufbau und Inhalt wird, wie in der Lexikographie allgemein üblich, unterschieden zwischen der Makro- und Mikrostruktur. Der Makrobereich schließt die Anordnung und den Aufbau des Regelteils sowie die Auswahl und den Umfang des Wörterverzeichnisses ein, der Mikrobereich betrifft die Wörterbuchartikel (S. 22). Nerius betont die Notwendigkeit einer „partiell doppelten Kodifikation“ (S. 23) insofern, als „orthographische Phänomene“ (ebd.) wie die Substantivgroßschreibung sowohl im Regel- als auch im Wörterbuchverzeichnis auftauchen, die Satzanfangsgroßschreibung und Interpunktion hingegen ausschließlich im Regelverzeichnis, während die graphische Kennzeichnung der Vokalquantität wiederum nur am Wort im Wörterbuchverzeichnis gezeigt werden kann (ebd.). Damit macht der Verfasser deutlich, dass ein prototypisches Rechtschreibwörterbuch aus zwei unabhängigen Teilen bestehen sollte: einem Regelteil sowie einem Wörterverzeichnis. Konkrete Verweise stellen idealerweise die mediostrukturelle Verbundenheit beider Teile dar.
Seit jeher obliegt dem Wörterbuchschreiber die Auswahl der in einem Wörterbuch zu buchenden Lexeme. Nerius reklamiert für ein Rechtschreibwörterbuch den standardsprachlichen Grundwortschatz, dazu Lexeme mit einer besonders spezifischen Schreibung und usuelle Fremdwörter im Umfang von mindestens 10.000 bis über 100.000 Lemmata, schließt aber eine übermäßige Aufnahme von regelmäßig gebildeten Komposita und Derivata wie auch von Eigennamen und Fachwörtern aus. Als benutzerfreundlichste Variante wird eine glattalphabetisch aufgebaute Anordnung erachtet. Doch auch eine nest- wie nischenalphabetische Anordnung lässt sich aus Gründen z. B. der Verdeutlichung von Wortbildungszusammenhängen in der Regel nicht umgehen (S. 24). Der Regelteil im Orthographiewörterbuch ergänzt maßgeblich das Wörterverzeichnis. Es werden Einzelfallregeln aufgeführt, die sowohl in das Wörterverzeichnis farblich oder als Baukasten eingepflegt sein können, was heute in einschlägigen Wörterbüchern üblich ist, oder aber in einem gesonderten Kapitel am Anfang oder Ende des Wörterbuchs angelegt sind. Der Regelteil sollte abgestimmt sein auf den Benutzer und dessen Anspruch auf Informativität. Umtexte komplettieren das Orthographiewörterbuch; dazu zählen u. a. Abkürzungsverzeichnisse, Korrekturvorschriften, stilistische Hinweise bis hin zu „Angaben, die mit der Orthographie rein gar nichts mehr zu tun haben“ (S. 25). Die Mikrostruktur im Wörterbuch ist nicht nur die Darstellung normativer Schreibung der kodifizierten Lemmata, sondern liefert neben grammatischen Angaben u. a. auch Aussprache-, Betonungs- und Herkunftsangaben sowie diasystematische Angaben (S. 26). Nerius spricht an dieser Stelle von „Überwörterbüchern“ (ebd.) der deutschen Rechtschreibwörterbücher, die für spezielle Benutzerkreise mehr als nur die vorgegebene Schreibnorm zeigen wollen. Hier differenziert Nerius in a) linguistisch vorgebildete Benutzer, b) Schüler und Lerner, c) Schrift- und Schreibberufsgruppen und schließlich d) eine Gruppe von Orthographiewissenschaftlern, für die es jedoch ein gesondertes – aber noch nicht verfasstes – Rechtschreibwörterbuch geben sollte (vgl. Kap. 2.3.).
Einen kurzen Abriss zur Geschichte des deutschen Rechtschreibwörterbuches bietet der Verfasser in Kapitel 3. Hier verweist er auf Vorläufer der Rechtschreibwörterbücher und betont, dass bei diesen die Regelteile der Wörterbücher ungleich größer waren als die Wörterverzeichnisse. Erst Adelungs Werk von 1788 erfüllte den Anspruch an ein Orthographiewörterbuch – neben ein umfängliches Regelwerk stellte dieser ein 15.330 Lemma umfassendes, größtenteils glattalphabetisches Wörterverzeichnis mit zusätzlichen Angaben, die weit über die Darstellung der normierten Schreibweise hinausgingen (S. 32).
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienen fast 80 Rechtschreibwörterbücher, die eine dann von staatlichen Einrichtungen getragene deutsche Normschreibung und somit eine Einheitsorthographie zum Ziel hatten (vgl. Kühn 1991). Mit dem Vollständigen Orthographischen Wörterbuch der deutschen Sprache von Konrad Duden erschien 1880 das wohl am weitesten verbreitete und einflussreichste Rechtschreibwörterbuch, dessen Ausbau sich bis heute kontinuierlich fortsetzt (S. 35).
Das vierte Kapitel bietet einen Überblick über die Entwicklung des deutschen Rechtschreibwörterbuches im 20. Jahrhundert. Annähernd 200 Wörterbücher sind in diesem Jahrhundert erschienen, was zeigt, wie groß die Nachfrage ist. In ihrer Makrostruktur unterscheiden sich die Rechtschreibwörterbücher stark, vor allem was Wortschatzumfang und Anordnung der Umtexte angeht. Auch die Benutzergruppen sind divergent. So etabliert sich das Wörterbuch mit zusätzlichen Angaben zu einzelnen Lemma – nach Adelung’schem Vorbild – als „Mehrzweckwörterbuch“ (S. 37).
In der II. Orthographischen Konferenz von 1901 wurde festgelegt, dass sich Rechtschreibwörterbücher an vorgegebene Regeln zu halten haben. Dennoch war noch keine Einheitsorthographie erreicht, was die Buchdruckerverbände der deutschsprachigen Länder veranlasste, an Duden heranzutreten, ein „variantenbereinigtes Rechtschreibwörterbuch“ zu schaffen (S. 39). Der sogenannte ‚Buchdruckerduden‘ erschien 1903 und hatte alsbald auch außerhalb des Druckgewerbes starken Einfluss auf den Schreibgebrauch (ebd.). Nach der Rechtschreibreform von 1998 gab es einen erneuten Aufschwung der Orthographiebücher. Für Nerius sind hier die Orthographiewörterbücher von Bertelsmann/Wahrig (1996–2011) und Duden (1996–2013) von besonderem Interesse, wobei er hervorhebt, dass der Rechtschreib-Duden keine amtliche Legitimation mehr besäße; diese sei von der „Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung“ übernommen worden (S. 43).
Im fünften Kapitel stellt der Verfasser die Grundlagen seiner Wörterbuchanalysen vor. Sein Korpus besteht aus einer Auswahl von insgesamt zwölf auflagenstarken Orthographiewörterbüchern, die als repräsentativ für das 20. Jahrhundert angesehen werden können (S. 46). Dem Duden-Wörterbuch wird eine besondere Betrachtung zuteil; verschiedene Auflagen werden hier besehen. Eine umfassende Rechtschreibwörterbuch-Bibliographie findet sich schließlich auf den Seiten 311–335.
Eine Kurzmonographie leitet dann jede Wörterbuchbetrachtung ein, die dem Leser einen Überblick zur Geschichte des jeweiligen Werks liefert. Die Analyse folgt einem Siebenpunkte-Programm: Autor, Titel, Verlag etc. bilden den ersten Punkt, Umtexte den zweiten, der dritte ist eine Analyse des Regelteils, der vierte eine des Wörterteils, unterteilt in Makro- und Mikrobereich. Punkt fünf stellt die Beziehung zwischen Regel- und Wörterteil dar, Punkt sechs liefert Hinweise zum Layout, und Punkt sieben schließlich gibt eine Gesamtcharakteristik des Wörterbuchs. Dieses Analyseraster ist für jedes vorgestellte Orthographiewörterbuch gleich. Damit baut der Verfasser ein stringentes System auf, das dem Leser eine gute Übersicht ermöglicht.
Nerius beschränkt sich bei seinen Erhebungen auf die Lemmata der Buchstabenstrecken D, K und N, um ein repräsentatives, analoges Vergleichsmodell bei den Wörterteiluntersuchungen zu haben. Bei der Untersuchung des Regelteils geht es primär um die Wörterbücher vor der Reform im Vergleich zur orthographischen Neuregelung nach 1996/2006.
Die Analysen umfassen die Kapitel 6 bis 17 in Nerius’ Werk und damit mehr als 200 Seiten. Das Korpus enthält folgende Wörterbücher: Duden: 1880, 1902, 1915, 1954, 1957, 1991, 2009; Ph. Brunner: 1894–1926; A. Vogel: 1902–1925; J. Weyde: 1902–1921; K. Erbe: 1902–1927; T. Matthias: 1902–1954; O. Basler: 1948–1960; Österreichisches Wörterbuch: 1951–2012; L. Mackensen: 1954–1990; Knaurs Rechtschreibwörterbuch: 1973–1991; Großes Wörterbuch Rechtschreibung: 1990–1991; Bertelsmann/Wahrig: 1996–2011 und Wahrig: 2011. In Anbetracht der mehr als ein Jahrhundert währenden Kontinuität des Rechtschreib-Dudens legt Nerius besonderes Augenmerk auf eine Analyse von ausgewählten Duden-Auflagen. Dass nicht alle 26 Auflagen berücksichtigt werden können, ist nachvollziehbar.
Die Ergebnisse der Wörterbuchanalysen werden in Kapitel 18 vorgestellt. Ein Schaubild (S. 282) gibt hier einen Gesamtüberblick zu den zwölf Rechtschreibwörterbüchern. Tabellarisch werden Seitenzahlen zum Wörter- und Regelteil sowie zu den Umtexten genannt, dazu die Anzahl der jeweils gebuchten Lemmata. Diese Tabelle stellt eine ausgezeichnete Übersicht dar. Eine weitere Tabelle auf S. 284 zeigt einen Abriss über die Umtexte, und eine dritte (S. 296) präsentiert Angaben zu den Lemmata. Nerius spricht von einer großen Variationsbreite (S. 283), die hier abgelesen werden kann, und von einer Tendenz des eigentlichen Rechtschreibwörterbuches hin zu einem „multivalenten Mehrzweckwörterbuch“ (S. 285).
Der Autor kritisiert in Kapitel 19 Lückenhaftigkeit und mangelnde Eindeutigkeit deutscher Orthographiewörterbücher und fordert die „Schaffung eines offiziellen, mit amtlicher Verbindlichkeit ausgestatteten deutschen Rechtschreibwörterbuches“ (S. 299), wie es in anderen europäischen Staaten bereits umgesetzt sei. Er betont, dass das Bemühen um Vollständigkeit und Anpassung an die amtlichen Vorgaben in Deutschland zweifellos vorhanden sei, Spielräume von den Autoren dennoch immer noch genutzt werden, um eigene Interpretationen zu verfolgen. Neben einem amtlichen Orthographiewörterbuch sieht Nerius auch weiterhin die Notwendigkeit von Wörterbüchern mit sowohl unterschiedlichen Schwerpunkten als auch unterschiedlichen Nutzern. Ein amtliches Wörterbuch sollte nicht zu einem Solitär erhoben werden.
Das amtliche Wörterbuch, das sich der Verfasser nach den angestellten Überlegungen vorstellt, sollte 60.000 bis 80.000 Lemmata umfassen. Ausgenommen sollten in der Regel sein: u. a. Fachwörter, Eigennamen und Regionalismen wie auch Helvetismen und Austriazismen (S. 304). Das Wörterbuch sollte auf Angaben zur Etymologie verzichten wie auf diasystematische Angaben; es sollte zudem glattalphabethisch sein. Als Herausgeber schlägt er eine wissenschaftliche Institution vor (z. B. eine Einrichtung wie die Gesellschaft für deutsche Sprache). Diese Forderung nach einem amtlichen Rechtschreibwörterbuch ist aber nicht autoritativ zu verstehen, wenngleich es gerade im letzten Kapitel so erscheinen könnte. Der Verfasser wünscht sich weiterhin eine facettenreiche Rechtschreibwörterbuchlandschaft für divergente Nutzergruppen, mit Einhaltung der amtlichen Vorgaben.
Zusammenfassend ergibt sich abschließend: DasDeutsche Rechtschreibwörterbuch bietet einen fundierten Überblick zur Geschichte des Orthographiewörterbuches. Einerseits wird der lexikographisch bewanderte Leser mit soliden Informationen versorgt, andererseits profitieren Lehrer und Studierende von der stringenten Aufarbeitung des Verlaufs der Orthographiegeschichte vornehmlich des 20. Jahrhunderts. Dass der Gedanke an ein elektronisches Rechtschreibwörterbuch allerdings auf nur knapp zwei Seiten abgehandelt wird – und das am Ende des Werkes –, erweckt den Eindruck, dass der Autor zwar, um zeitgemäß zu erscheinen, diese Möglichkeit erwähnt, nicht aber ernsthaft in Betracht zieht.
Literatur
Adelung, Johann Christoph. 1788. Vollständige Anweisung zur Deutschen Orthographie, nebst einem kleinen Wörterbuche für die Aussprache, Orthographie, Biegung und Ableitung. Leipzig: Weygand. Nachdruck Hildesheim, New York: Georg Olms, 1978.Search in Google Scholar
Augst, Gerhard & Burkhardt Schaeder (Hg.). 1991. Rechtschreibwörterbücher in der Diskussion. Geschichte – Analyse – Perspektiven. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang. Search in Google Scholar
Kühn, Peter. 1978. Deutsche Wörterbücher. Eine systematische Bibliographie. Tübingen: Max Niemeyer.10.1515/9783111377704Search in Google Scholar
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