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BY-NC-ND 3.0 license Open Access Published by De Gruyter July 14, 2016

Jens Philipp Lanwer. 2015. Regionale Alltagssprache. Theorie, Methodologie und Empirie einer gebrauchsbasierten Areallinguistik (Empirische Linguistik / Empirical Linguistics 4). Berlin, Boston: De Gruyter. x, 377 S.

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Rezensierte Publikation:

Jens Philipp Lanwer. 2015. Regionale Alltagssprache. Theorie, Methodologie und Empirie einer gebrauchsbasierten Areallinguistik (Empirische Linguistik / Empirical Linguistics 4). Berlin, Boston: De Gruyter. x, 377 S.


Diese Monographie bildet den Abdruck der weitestgehend unveränderten Fassung der Dissertationsschrift von Jens Lanwer, die an der Universität Münster entstanden ist. Datengrundlage der Arbeit sind Gesprächsaufnahmen, die im DFG-Projekt ‚Sprachvariation in Norddeutschland‘ (SiN; 2008–2012)[1] erhoben worden sind, in dem das Spektrum der Alltagssprache in Norddeutschland untersucht wurde. Lanwers Studie ist im Übergangsbereich von Gesprächs- und Areallinguistik angesiedelt und orientiert sich an gebrauchsbasierten Ansätzen der interaktionalen Soziolinguistik. Damit intendiert der Autor, „Erkenntnisse über die Strukturen arealsprachlicher Repertoires systematisch um die interaktionale Dimension anzureichern“ (S. 3), wobei er in methodischer Hinsicht vertikale Strukturanalysen mit lokalen Sequenzanalysen von Gesprächspassagen zusammenführt und vergleicht. Lanwers Arbeit ist geprägt u. a. von den Überlegungen Machas (2007) zur Pragmatik und Spracharealität sowie von den Ausführungen Elmentalers (2006) zum arealen Vergleich von Sprachlagenspektren. Mit seiner Arbeit möchte Lanwer eine Forschungslücke schließen, welche er im Fehlen einer „einheitlichen Methodologie zur systematischen, und vor allem diatopisch-kontrastiv ausgerichteten Analyse struktureller sowie funktionaler Aspekte vertikaler Sprachvariation in Alltagsgesprächen“ (S. 2) sieht. Ihm geht es also – im Vorwort beruft er sich auf Machas anschauliche Formulierung – um einen „Brückenschlag [...] zwischen [...] einer ‚Vogelperspektive‘ und einer ‚Froschperspektive‘ auf sprachliche Variation“ (vii). Dazu gliedert er seine Arbeit in drei Abschnitte: Theorie (S. 5–52), Methodologie (S. 53–105) und Empirie (S. 107–340), und schließt mit einer kurzen Diskussion (S. 341–345). Die Vorgehensweisen und Ergebnisse der einzelnen Abschnitte werden im Folgenden umrissen, bevor ein Resümee zur Arbeit folgt.

In einem umfassenden Theoriekapitel entwickelt Lanwer seinen gebrauchsbasierten Forschungsansatz (Kap. 2.1), wobei er auf allgemeine sprachtheoretische Grundlagen, auf Sprachvariation und Sprachpraxis sowie auf Modelle der Sprechgemeinschaft und des sprachlichen Repertoires eingeht. Er holt sehr weit aus, bettet seine komplexe theoretische Fundierung unter anderem in die sprachtheoretischen Grundlegungen von Coseriu, de Saussure, Bourdieu und Bühler ein und verknüpft diese mit aktuellen Theoriebildungen. Dabei versucht er, die „Interdependenz von Sprache, Interaktion und Raum“ (S. 5) im Blick zu behalten. Sprachliche Variation beschreibt Lanwer aus semiotischer Sicht als ein komplexes sprachliches Zeichen (vgl. Auer 1986: 105), als eine „Art Überlagerung von Zeichenfunktionen“ (S. 13), wobei er dies mit Kontrastierungspraktiken bei Code-Switching-Prozessen verbindet und dabei eine ‚Übercodierung‘ der primären denotativen Zeichenfunktion durch eine überlagernde Zeichenfunktion feststellt. Im Abschnitt zum Forschungskontext (Kap. 2.2) unterstreicht Lanwer das spezifisch Neue an seinem Ansatz: die Einbeziehung der „alltäglichen Sprachpraxis“ (S. 21f.) in areallinguistische Untersuchungen. Methodisch hat das für ihn zur Folge, dass er seinen Repertoireanalysen nicht elizitierte Sprachdaten zugrunde legt, sondern sich auf die Analysen der „konkreten Sprachpraxis“ (S. 27) beschränkt. Sprachvariation versteht er dabei „nicht primär als situatives, sondern eher als prozessuales Phänomen“ (S. 48).

Im Abschnitt ‚Methodologische Vorüberlegungen‘ (Kap. 3.1) veranschaulicht Lanwer überzeugend die Probleme sowohl korrelativ-globaler als auch konversationell-lokaler Methoden zur linguistischen Datenanalyse. Während Erstere eine „deterministische Vorstellung eindeutiger Korrelationen von sozialen Gruppen/Situationstypen und bestimmten Sprachausprägungen“ (Elmentaler 2006: 6) vertreten, erlaube die „Kleinschrittigkeit der [konversationell-lokalen; M.S.] Analysen kaum stichhaltige Aussagen im Hinblick auf globalere arealsprachliche Repertoirestrukturen“ (S. 59). Eine Verbindung beider Ansätze im Sinne von Gilles (2003: 211f.) scheint für Lanwer jedoch nicht praktikabel, da er bei beiden „von außen an das Material herangetragene [...] Apriori-Kategorisierungen einzelner Varianten als bspw. ‚dialektal‘ oder ‚standardsprachlich‘“ (S. 59) konstatiert. Einen Ausweg aus diesem Dilemma sieht er in einer emischen Sichtweise auf Varietäten, bei der laienlinguistische Blickwinkel von Relevanz sind und es zur „Rekonstruktion von Teilnehmerkategorien“ (S. 67) kommen soll. Einen gebrauchsbasierten Varietätenbegriff betrachtet er dabei als zielführend. Methodisch verfolgt er daraufhin (Kap. 3.2) einen „analytischen Dreischritt bestehend aus Variablenanalyse, Kookkurrenzanalyse und Sequenzanalyse“ (S. 73) und kombiniert in diesen sowohl paradigmatisch als auch syntagmatisch ausgerichteten Analysen quantita­tiv-strukturelle und qualitativ-funktionale Untersuchungen. Er betont dabei erneut den induktiven Zugriff auf sprachliche Variation, ohne im Vorhinein schon standardsprachliche Varietäten zu bevorzugen (vgl. S. 81).

Im Empirie-Teil (Kap. 4.2) stellt Lanwer zunächst sein Korpus vor. Er verwendet die Daten des SiN-Projekts (siehe Fn. 1) und stützt sich auf insgesamt etwa drei Stunden Sprachmaterial – Mitschnitte von privaten Tischgesprächen – aus drei unterschiedlichen norddeutschen Dialektregionen (nordniederfränkisch [nnf.], westmünsterländisch [wml.] und nordbrandenburgisch [nbb.]) mit unterschiedlichen sprachhistorischen Entwicklungsprozessen, was auch „gegenwartssprachlich unterschiedliche Repertoirestrukturen erwartbar“ (S. 120) macht. In der Variablenanalyse (Kap. 4.3) fokussiert er auf zwölf phonologische Variablen (sieben im Bereich des Vokalismus, fünf im Bereich des Konsonantismus). Für jede Variable erstellt er arealspezifische Variantenprofile und bindet dies anschaulich an die existierende Forschung an. Die darauf folgenden Repertoireanalysen (Kap. 4.4) ergänzen die Untersuchungen zur horizontalen Variabilität des Sprachgebrauchs um Analysen zur vertikalen Strukturiertheit der unterschiedlichen arealsprachlichen Repertoires. Er geht für jede der Regionen gesondert vor und behandelt das Gesprächsmaterial aus einem Ort zunächst gesammelt, bevor er auch individuelle Repertoires analysiert und diese wieder an die Gesamtstruktur zurückbindet. Dabei gliedert er jeden der Abschnitte in Variablen-, Kookkurrenz- und Sequenzanalysen.

Besonders innovativ erscheinen dabei die Kookkurrenzanalysen, bei denen sich Lanwer auf Methoden der Dialektometrie beruft. So wendet er hier „strukturentdeckende statistische Verfahren der nicht-metrischen Multidimensionalen Skalierung (MDS)“ an (S. 90), welche ihm zur „Gruppierung von Objekten in Bezug auf Ähnlichkeiten oder Unterschiedlichkeiten“ in einem „als Wahrnehmungsraum bezeichneten Koordinatensystem“ (S. 90) dienen. Dabei spielen auch generations- und geschlechtsspezifische Alternanzen eine Rolle (siehe z. B. S. 299–302). In den jeweils darauf folgenden Sequenzanalysen prüft er anhand ausgewählter Beispiele detailliert, ob vertikale Kontrastpotentiale „in der Interaktion gesprächsfunktional eingesetzt werden“ (S. 195). In der Tat findet er zahlreiche solcher Kontrastierungen – Lanwer bezeichnet sie zu Recht als Code-Switching –, welche funktional meist diskursstrukturierend sind und etwa an „sequenzstrukturellen Schlüsselstelle[n]“ (S. 217), bei der „Etablierung des Rederechts“ (S. 322) bzw. als „metapragmatische Orientierungshilfe“ (S. 207) erscheinen. Teilweise werden sie aber auch zur „konversationelle[n] Akkommodation“ (S. 227) verwendet.

Danach (Kap. 4.4.4) liefert er einen arealen Vergleich der erarbeiteten Repertoirestrukturen. Während er bei den von ihm untersuchten Variablen im Bereich des Gebrauchsstandards „mehr oder weniger identische oder zumindest ähnliche Variantenkonfigurationen“ (S. 337) konstatiert, liefern seine Analysen zum ‚mittleren Bereich‘ zahlreiche Belege für „arealspezifische Gebrauchskonstellationen“ (S. 335), die „sowohl Unterschiede hinsichtlich der Merkmalsspezifik als auch hinsichtlich der Merkmalsfrequenz“ (S. 335) zeigen. Während die beiden ‚westlichen‘ Repertoirestrukturen (westmünsterländisch und nordniederfränkisch) als „weitestgehend kollabierter Variationsraum“ (S. 337; wml.) bzw. „gestaucht“ (S. 338; nnf.) charakterisiert werden können, da dort nur eine beschränkte Zahl vertikaler Variantenoppositionen beobachtet werden konnten – im wml. Repertoire sind sie sogar lediglich morphemgebunden –, zeichnet sich das ‚östliche‘, nordbrandenburgische Repertoire „durch die Verfügbarkeit zahlreicher vertikaler Kontrastmittel“ (S. 337) aus, mit einer „deutlichen vertikalen Distanz der ermittelten Verdichtungsbereiche“ (S. 337). Die West-Ost-Unterschiede erklärt Lanwer durch die „unterschiedlichen Entwicklungslinien der jeweiligen Vertikalisierungsprozesse“ (S. 337) und bewertet insbesondere den Einfluss des Berlinischen in Nordbrandenburg als das „Wirken einer urbanen Leitvarietät“ (S. 337). Hierbei handelt es sich einerseits um ebenfalls autochthone brandenburgische Dialektformen, die sich durch den Berliner Einfluss stabilisieren, andererseits aber auch um Übernahmen berlinischer Merkmale, was „innerhalb des nbb. Repertoires (potenziell) neue vertikale Kontraststrukturen eröffne[t]“ (S. 337). Interessanterweise kann Lanwer jedoch im nbb. Material „innerhalb des unteren Repertoirebereichs [...] i. d. R. keinerlei Funktionalisierung“ (S. 333) bei den sprachlichen Alternanzen feststellen, obwohl die „aus dem Berlinisch stammenden Merkmale quasi von unten in das nbb. Repertoire eindringen“ (S. 333). Dies spricht in der Tat für von Sprechern unbemerkten Sprachwandel ‚von unten‘ im Labov’schen Sinne (Labov 1994: 78).[2]

Abschließend (Kap. 5) liefert Lanwer eine kurze Diskussion, in der er seine theoretischen Überlegungen, methodologischen Konsequenzen und empirischen Befunde zusammenführt und einen Ausblick liefert.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Lanwers Ausführungen zu den unterschiedlichsten Theoriediskussionen, auf die im Laufe der Arbeit immer wieder Bezug genommen wird, das hohe theoretische Bewusstsein des Autors belegen. Manches hätte hier für die Druckfassung der Arbeit jedoch auch gestrafft werden können. Eine Kürzung etwa des historischen Exkurses zur Vertikalisierung (Kap. 2.2.2), in dem auf den ersten Seiten größtenteils Handbuchwissen repliziert wird, hätte der Lesbarkeit der Arbeit sicherlich nicht geschadet. Wichtige Darstellungen im Methodenkapitel hätten dafür etwas detaillierter sein dürfen. So ist das Kapitel, in dem das methodische Vorgehen bei der Kookkurrenzanalyse vorgestellt wird (Kap. 3.2.2), äußerst voraussetzungsreich und wohl nur unter Rückgriff auf weitere Literatur – auf diese wird durchaus verwiesen – vollständig nachvollziehbar. Der Empirieteil dagegen ist sehr anschaulich und gut lesbar gestaltet. Auf eine Zusammenfassung verzichtet Lanwer und liefert dafür eine kurze Diskussion. Die zahlreichen Ergebnisse der Studie hätten jedoch durchaus eine etwas ausführlichere Zusammenschau verdient, die ebenfalls den Zugriff auf die komplexe Arbeit erleichtert hätte.

Die Beschränkung der Datengrundlage auf einige Tischgespräche aus drei Regionen sowie die Analyse einiger häufiger vorkommender phonologischer Variablen ist im Rahmen dieser Arbeit völlig nachvollziehbar; es ist geradezu beeindruckend, welche gleichzeitig detaillierten und weitreichenden Ergebnisse Lanwer aus seinen Daten ableitet. Im Laufe der Arbeit hätte allerdings vielleicht stärker auf die beschränkte Generalisierbarkeit der Ergebnisse verwiesen werden können, wenn etwa „Das nnf. Repertoire“, „Das wml. Repertoire“ und „Das nbb. Repertoire“ (S. 230; S. 274; S. 334) vorgestellt werden, die bei einer anderen Auswahl von Sprechern womöglich jeweils eine deutlich andere Gestalt angenommen hätten. Zudem weist der Autor am Schluss (S. 344) darauf hin, dass die Berücksichtigung weiterer Erhebungssituationen wohl umfassendere Repertoirestrukturen hervorgebracht hätte – im Bd. 1 des Norddeutschen Sprachatlas wurden neben den Tischgesprächen etwa auch Vorleseaussprache und Interviews untersucht (Elmentaler & Rosenberg 2015: 70). Nicht ganz verständlich ist dann aber, warum Lanwer elizitierte Sprachdaten lediglich als „aufschlussreiches ‚Vergleichsmaterial‘“ (S. 27, Fn. 55) betrachtet und nicht als relevant für die Erstellung vollständig(er)er Repertoirestrukturen.

Lanwers Studie ist als äußerst innovativ zu charakterisieren. Ihm gelingt in der Tat, wie er abschließend resümiert, „eine generelle Perspektivverschiebung, die dem konkreten Sprachgebrauch bereits in der Theoriebildung eine [sic] anderen Status zuweist“ (S. 341). Seine Ergebnisse belegen überzeugend die vielfältige alltagssprachliche Variationspraxis in Norddeutschland.

Literatur

Auer, Peter. 1986. Konversationelle Standard/Dialekt-Kontinua (Code-Shifting). In: Deutsche Sprache 14, 97–124. Search in Google Scholar

Elmentaler, Michael. 2006. Sprachlagenspektren im arealen Vergleich. Vorüberlegungen zu einem Atlas der deutschen Alltagssprache. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 73, 1–29.Search in Google Scholar

Elmentaler, Michael & Peter Rosenberg. 2015. Norddeutscher Sprachatlas (NOSA). Band 1: Regiolektale Sprachlagen (Deutsche Dialektgeographie 113.1). Hildesheim: Georg Olms.Search in Google Scholar

Gilles, Peter. 2003. Zugänge zum Substandard: Korrelativ-globale und konversationell-lokale Verfahren. In: Jannis K. Androutsopoulos & Evelyn Ziegler (Hg.). „Standardfragen“. Soziolinguistische Perspektiven auf Sprachgeschichte, Sprachkontakt und Sprachvariation. Frankfurt am Main: Peter Lang, 195–215.Search in Google Scholar

Labov, William. 1994. Principles of Language Change. Volume 1. Internal Factors (Language in Society 20). Malden/Mass.: Wiley-Blackwell.Search in Google Scholar

Macha, Jürgen. 2007. Pragmatik und Spracharealität. Eine dialektologische Forschungsskizze. In: Niederdeutsches Wort 47, 317–326.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2016-7-14
Erschienen im Druck: 2016-12-1

© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License.

Downloaded on 28.3.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2016-0017/html
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