Rezensierte Publikation:
Marcus Müller. 2015. Sprachliches Rollenverhalten. Korpuspragmatische Studien zu divergenten Kontextualisierungen in Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Sprache und Wissen 19). Berlin, Boston: De Gruyter. 377 S.
Bei der von Marcus Müller vorgelegten, 377 Seiten umfassenden Monographie „Sprachliches Rollenverhalten“ handelt es sich um die Publikationsfassung einer Habilitationsschrift, die der Autor an der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg eingereicht hat. Inhaltlich ordnet sie sich in neuere diskurslinguistische Strömungen der Germanistischen Linguistik ein. Genauer will der Autor seine Arbeit als ein Beitrag zur so genannten „Diskurspragmatik“ verstehen, also einer Variante der diskurslinguistischen Korpusanalyse, die erzielte Resultate quantitativer (und teilweise qualitativer) Textstudien hinsichtlich sprachhandlungsbezogener Implikationen auswertet. Auch wenn der Begriff der Pragmatik hier auf einen eher schmalen Ausschnitt funktionaler Eigenschaften sprachlicher Ausdrücke im Gebrauch beschränkt bleibt, ist die Abgrenzung von etwa diskurssemantischen oder -grammatischen Ansätzen hinreichend deutlich.
Das erklärte – und sehr ehrgeizige – Ziel der Monographie besteht darin aufzuzeigen, „dass und wie verstehensrelevante Musterbildungen sprachlichen Verhaltens an gesellschaftlich konstituierte Typen sprachlicher Kontexte gebunden sind“ (S. 11); dies geschieht, im empirischen Teil der Studie, am Beispiel der (andauernden) Bioethik-Debatte. Die großen Bezugspunkte, an denen sich die Arbeit orientiert und geradezu abarbeitet, sind im angeführten Zitat in nuce benannt. Dies ist zum einen eine breite linguistische Theorietradition, die versucht, Sprache in einer nicht-reduktionistischen Weise aus der „komplexen Voraussetzungssituation“ (Schmidt 1974: 104) kommunikativer Äußerungen heraus zu beschreiben (Stichwort „Verstehensrelevanz“); zum anderen der theoretische und praktische Anspruch, auch die kognitiven Ressourcen, die kommunikativ geteilt und selektiv ausgeschöpft werden, mittels korpuslinguistischer Verfahren zu identifizieren, um ihnen so analytisch Rechnung zu tragen (Stichwort „Musterbildung“). Weiter ist es die Berücksichtigung diskursiv-strategischer Vereinnahmungen dieser Ressourcen durch die SprachbenutzerInnen (Stichwort „sprachliches Verhalten“), und schließlich soll die reiche kontextuelle Einbettung sprachlicher Einheiten auch deshalb nicht vernachlässigt werden, weil sich an ihr ‚gesellschaftliche‘ Prägungen des Sprachgebrauchs ablesen und nachzeichnen lassen (Stichwort „Typen sprachlicher Kontexte“).
Müller geht es dabei um einen ganz bestimmten Typ von Kontext, nämlich um die soziale Rolle von SprachbenutzerInnen, die als „Metakontext“ (ebd.) begriffen wird, insofern sie steuernd auf andere Kontextdimensionen (wie Themenwahl, Sprachwahl etc.) zugreift. Aufgrund eines solch epistemologisch relevanten Verständnisses von „soziale Rolle“ spricht der Autor auch von „Diskursrolle“:
„Eine Diskursrolle ist eine durch ein sprachliches Etikett ausgedrückte Selbst- und/oder Fremdzuschreibung von Sprecherinnnen und Sprechern innerhalb eines Diskurses, die dadurch einer Akteursgruppe zuzuordnen sind, welche relativ zum Diskurs stabil ist.“ (S. 37)
Das empirische Programm und Erkenntnisinteresse, das die Monographie verfolgt, steht damit fest: Es geht darum, (a) sprachliche Etiketten, mit deren Hilfe Diskursrollen zugeschrieben und benannt werden, in Korpora systematisch aufzuspüren, und (b) sie im Detail unter Einbezug ihres je spezifischen diskursiven Kontexts zu beschreiben und dabei (c) insbesondere die Selbst- und Fremdzuschreibungen herauszustellen. Schließlich ist, wenn möglich, (d) der übergeordnete und potentiell systematische Bezug zu einer ganzen Akteursgruppe auszuweisen, für die die identifizierten Selbst- bzw. Fremdzuschreibungen charakteristisch sind. Dieser Mammutaufgabe nimmt sich der Autor im empirischen Teil der Arbeit an (Kapitel 3 bis 5), während die vorangehenden Kapitel 1 und 2 – immerhin 120 Seiten – ganz der theoretischen Grundlegung gewidmet sind.
Aufbau und Konzeption der Arbeit im Detail
Insgesamt umfasst die Monographie sechs Kapitel. Trotz der sehr kleinschrittigen Untergliederung (in vier Unterebenen) lässt sich die fundamentale Argumentationslinie über die Kapitelüberschriften schnell erschließen. Einem einleitenden Teil (Kapitel 1), in dem Ziel, Gegenstand und Methode auf wenigen Seiten vorgestellt werden, folgt ein sehr umfangreicher und inhaltlich interdisziplinär angelegter Theorieteil (Kapitel 2). Abgehandelt wird hier eine Vielzahl an Analysekategorien, die sich für die Arbeit als relevant erweisen (auch wenn das nicht immer sofort ersichtlich ist und es erst der Lektüre der Beispielanalysen in Kapitel 5 bedarf). Das Portfolio der Theorieanleihen ist bunt. Es umfasst, unter anderem, linguistische Fundamentalkategorien wie ‚sprachliches Verhalten‘, ‚soziale Rolle‘, ‚Indexikalität sprachlicher Zeichen‘ und ‚Diskurs‘. Daneben wird auch der Erklärung solcher Konzepte viel Raum gegeben, die in methodologischer Hinsicht – insbesondere mit Blick auf die Korpusstudie – zu reflektieren sind, so beispielsweise des Begriffes der „Kontextualisierung“ und der grundsätzlichen Unterscheidung von „Mündlichkeit“ und „Schriftlichkeit“ (und der damit einhergehenden Frage, inwiefern textuelle Eigenschaften an der Konstitution von Diskursrollen beteiligt sind).
Kapitel 3 und 4 bilden gleichsam das konzeptionelle Scharnier zwischen Theorie und empirischer (Korpus-)Analyse. Mit insgesamt 30 Seiten fällt dieser Zwischenteil eher schmal aus. Kapitel 3 widmet sich zunächst der Beschreibung der Untersuchungsdaten. Im Einzelnen wird dargelegt, (a) auf welche Korpora zurückgegriffen wird bzw. wie die Korpora aufgebaut wurden, (b) welche Eigenschaften sie aufweisen (Art und Umfang der Texte etc.) und (c) mit welchen (medienbezogenen, personenbezogenen) Metadaten sie versehen wurden, um einen möglichst differenzierten Zugriff auf Diskursrollen zu ermöglichen. Wesentlicher Bestandteil der Metadaten ist ein Set an „Rollenetiketten“ (S. 130), die der Autor ausgehend von den Diskursakteuren in der Bioethik-Debatte (qua Fremd- und Selbstzuschreibungen) identifiziert; dies sind ‚Arzt‘, ‚Betroffener‘, ‚Biologe‘, ‚Journalist‘, ‚Jurist‘, ‚Laie‘, ‚Philosoph‘, ‚Politiker‘ und ‚Theologe‘. Da Kontextualisierungspotentiale im Kontinuum von konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit herausgearbeitet werden sollen, bezieht Müller sowohl schriftsprachliche Daten (z. B. printmediale Texte) als auch gesprochensprachliche Daten ein. Um die Korpora auch statistisch nach Signifikanzen auswerten zu können, werden drei Vergleichskorpora herangezogen, nämlich neben dem Deutschen Referenzkorpus das „BootCaT“-Internetkorpus (bestehend aus einer Zufallsauswahl deutschsprachiger Texte aus dem Internet) und ein thematisches Textkorpus zum Bestehen und Fall der Berliner Mauer. Nicht thematisiert wird, inwieweit die Zusammenstellung dieser etwas heterogen anmutenden Vergleichskorpora statistisch plausible und valide Erhebungen erlaubt.
Das mit „Methode“ überschriebene Kapitel 4 hat den Charakter einer Präambel zu den Korpusanalysen, die im umfangreichen Folgekapitel durchgeführt und dokumentiert werden. Müller orientiert sich in seinen methodischen Ausführungen am State of the Art der modernen Korpuslinguistik und skizziert quantitative Analyseverfahren und -kategorien, die später Anwendung finden werden. Dazu gehören quantitative Analysen unterschiedlichster Art, von der Schlüsselwort- über Distributions- bis hin zu Kookkurrenzanalysen. Die eigentlichen Korpusanalysen in Kapitel 5 – gewissermaßen das Herzstück der Arbeit – wären zwar auch ohne diese methodischen Vorüberlegungen verständlich; gerade den nicht so sehr korpuslinguistisch geschulten LeserInnen sind diese aber eine wertvolle Hilfe.
Die einzelnen Beispielanalysen in Kapitel 5 richten sich konsequent auf das Datenmaterial selbst. Insgesamt ist dieser gut 150 Seiten umfassende Empirieteil ein zunächst etwas willkürlich erscheinendes, bei genauerer Betrachtung aber kohärentes Konglomerat von drei Einzelstudien (die durchaus auch unabhängig voneinander gelesen werden können). Ausgangspunkt der ersten beiden Untersuchungen bildet jeweils ein Schlüsselwort, nämlich einmal Mensch (Kapitel 5.1) und einmal können (Kapitel 5.2). Diese lexikalischen Einheiten fungieren als konzeptuelle Anker für das epistemologische Unterfangen, in gewissermaßen archäologischer Textarbeit (in lockerer Anlehnung an Foucault 1981) Diskursrollen Schicht für Schicht freizulegen und innerhalb ihrer textuellen Funktionszusammenhänge auszuweisen. Die dritte Studie gilt der schematischen Mehrworteinheit „APPR ADJA NN“, instantiiert etwa in Mehrworteinheiten wie „mit freundlichen Grüßen“ oder „mit menschlichem Leben“. Müller schließt hier an Beobachtungen an, die er unter konstruktionsgrammatischen Prämissen bereits andernorts ausgeführt und folgendermaßen zusammengefasst hat:
„man [stößt] immer wieder auf Muster, die in der sprachstatistischen Analyse eine klare Konturierung aufweisen, die aber in dem Moment als autonome syntaktische Segmente verschwinden, wenn man sich Instantiierungen des Musters ansieht.“ (S. 208)
Überraschend ist, dass sich in solchen von Müller (in Müller 2015) auch als „Geisterkonstruktionen“ bezeichneten Mustern Bindungen an Diskursrollen nachweisen lassen. Konkret zeigt Müller, dass die Füllung der Leerstellen der Konstruktion abhängig von der Diskursrolle (z. B. ,Politiker‘, ,Arzt‘ usw.) variiert. Bei der dritten Beispielanalyse handelt es sich so gesehen um eine konstruktionsgrammatisch motivierte Variante einer soziolinguistischen bzw. diskurpragmatischen Korpusanalyse.
Auf dem Weg zu einem neuen diskurslinguistischen Forschungsprogramm?
Wie die knappe Inhaltsübersicht schon andeutet, ist Müllers Studie nicht nur hinsichtlich ihrer theoretischen Grundlegung breit angelegt; sie liefert darüber hinaus auch neue Impulse für zukünftige diskurslinguistische Forschungsprojekte. Der analytische Fokus auf soziale Rollen als eine elementare diskurspragmatische Dimension muss dabei zumindest mit Blick auf die vorgenommene korpuslinguistische Operationalisierung als innovativ bewertet werden. Aber auch die theoretische Herleitung und Einordnung in die einschlägige Forschungsliteratur ist durchaus gelungen und regt zum Weiterdenken an. Auch wenn mitunter der Eindruck entstehen mag, dass hier viel – vielleicht zu viel – Energie und Platz für den Aufbau eines theoretischen Rahmens verwendet wird, der in den korpuslinguistischen Untersuchungen allenfalls als Orientierungsgröße, weniger aber als ein Ensemble konkreter Leitkategorien fungieren kann, so bleibt doch festzuhalten, dass sich an keiner Stelle die theoretischen Vorüberlegungen zu verselbständigen drohen. Gleichwohl haben sie einen Eigenwert, der sich unter anderem darin zeigt, dass sie neue Denkanregungen geben, die auch ganz unabhängig von den empirischen Analysen in Kapitel 5 Bestand haben: Inwiefern variiert das lexikalische und grammatische Inventar in Abhängigkeit von diskurspragmatischen Parametern? Wie ist die Wechselbeziehung zwischen Text und Kontext, vermittelt über sprachliche Zeichen, in konkreten diskurspragmatischen Zusammenhängen zu denken? Inwiefern steuern Diskursrollen die Wahl und Ausgestaltung von Konstruktionen und Frames? Die Liste an Forschungsfragen, die sich quasi natürlich aus Müllers Studie ableiten, ließe sich mühelos erweitern.
Müllers Monographie ist zweifelsohne ein weiterer Beleg dafür, dass sich die diskurslinguistische Forschung zwar auf einem guten Weg befindet und sich nicht nur institutionalisiert hat, sondern auch substantielle Fortschritte macht. Zugleich ist die Diskurslinguistik aber noch weit davon entfernt, den intrinsisch kontextuell gebundenen Charakter sprachlicher Zeichen auf allen Ebenen der sprachlichen und situationellen Einbettung ernst zu nehmen und in der Untersuchung zu berücksichtigen. Müllers Studie trägt dazu bei, im Bereich der Diskurspragmatik (und teilweise auch der Diskursgrammatik) eine weitere Forschungslücke zu schließen, und stellt dabei eindrücklich heraus, dass der Sprachgebrauch stets kodeterminiert von soziopragmatischen Parametern ist. Das ist vielleicht nicht der Entwurf eines neuen Forschungsprogramms, aber sicherlich die Weiterführung eines bestehenden. Es lohnt sich, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen.
Literatur
Foucault, Michel. 1981. Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main: Suhrkamp.Search in Google Scholar
Müller, Marcus. 2015. Geisterkonstruktionen. Zum Beispiel PPER ADV ADV. In: Alexander Ziem & Alexander Lasch (Hg.). Konstruktionsgrammatik IV: Konstruktionen als soziale Konstruktionen und kognitive Routinen. Tübingen: Stauffenburg, 217–224.Search in Google Scholar
Schmidt, Siegfried J. 1974. Texttheorie. Probleme einer Linguistik der sprachlichen Kommunikation. 2. Auflage. München: Fink.Search in Google Scholar
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