Skip to content
BY-NC-ND 3.0 license Open Access Published by De Gruyter September 2, 2016

Hiltraud Strunk. 2016. Einheitliche und einfache deutsche Orthografie. Die Geschichte einer (über)nationalen Idee. Hildesheim u. a.: Georg Olms. 322 S.

  • Dieter Nerius EMAIL logo

Das vorliegende Buch ist ein wichtiger Beitrag zur neueren deutschen Orthografiegeschichte. Es behandelt die Bemühungen und Vorgänge um die Schaffung der deutschen Einheitsorthografie und um die Neuregelung bzw. Reform der Rechtschreibung im Zeitraum zwischen 1870 und 1970, und zwar vorrangig unter dem Gesichtspunkt des Verhaltens und des Einflusses staatlicher Institutionen und Behörden in diesem Prozess. Das ist ein Aspekt, der bisher eher nicht im Zentrum orthografiegeschichtlicher Untersuchungen stand und der diese Publikation auch von vergleichbaren Arbeiten wie Küppers (1984), Jansen-Tang (1988) und Mentrup (2007) abhebt.

Das Buch ist im Kern in vier Hauptkapitel gegliedert, die dem Zeitverlauf bzw. der historischen Periodisierung folgen, nämlich

  1. Kaiserreich (1871 bis 1919),

  2. Weimarer Republik (1919 bis 1932),

  3. Drittes Reich (1933 bis 1945),

  4. Nachkriegszeit (1945 bis 1970).

Leider wird der Zeitraum der Vorbereitung und Realisierung der aktuellen Neuregelung der deutschen Rechtschreibung von den 1970er Jahren bis 2006 nicht mehr behandelt, obwohl das mit der erstmaligen Durchführung einer Orthografiereform seit 1901 und dem aufschlussreichen Verhalten staatlicher Stellen in diesem Prozess einen vorzüglichen und wünschenswerten Abschluss dargestellt hätte. Die Autorin begründet diesen Verzicht mit dem Hinweis darauf, dass „heutige Chronisten von diesen Ereignissen und Personen noch zu wenig Abstand haben, um diese auch nur annähernd objektiv beschreiben und beurteilen zu können“ (S. 299). Das kann man natürlich so sehen, bedauerlich ist diese Lücke aber trotzdem, zumal fast alle Dokumente auch des Verhaltens staatlicher Stellen der zunächst vier und schließlich drei deutschsprachigen Staaten für eine genaue Rekonstruktion der Vorgänge in dieser bisherigen Schlussphase der Entwicklung der deutschen Orthografie vorliegen und zugänglich sind.

Für ihren gewählten Untersuchungszeitraum geht die Autorin mit den einschlägigen Dokumenten und Unterlagen sehr sorgfältig um; ihre Aussagen basieren auf umfangreichen Archivstudien und 14 Zeitzeugeninterviews, sodass die Angaben durchweg sehr gut belegt sind und keine Zweifel zulassen, was gerade angesichts der bisherigen Auseinandersetzungen um die Orthografie und ihre Neuregelung besonders wichtig ist. Soweit die entsprechenden Dokumente nicht in ihrem Buch abgedruckt werden, sind sie in den entsprechenden Bänden der Reihe Documenta Orthographica des Olms Verlages enthalten, von denen zwei hier einschlägige auch von der Autorin selbst herausgegeben wurden.

Die vier Hauptkapitel des Buches werden eingerahmt von einem Prolog, der einen kurzen Blick in die deutsche Orthografiegeschichte vor dem hier behandelten Zeitraum bietet, und einem Epilog, der in sieben Punkten eine theoretische Verallgemeinerung und eine Bilanzierung der Auseinandersetzungen um die deutsche Rechtschreibung in dem betrachteten Zeitraum versucht und zum Schluss auf einer halben Seite den Fortgang der Orthografiereformbemühungen bis zum Abschluss 2006 erwähnt.

Sehr aufschlussreich für das Verständnis der geschilderten historischen Entwicklungen in der Orthografiefrage sind die an geeigneten Stellen eingestreuten biografischen Notizen zu zehn wichtigen Akteuren, die in den dargelegten Vorgängen eine wichtige Rolle gespielt haben, darunter Konrad Duden, Adalbert von Falk (preußischer Unterrichtsminister 1876), Konrad von Studt (preußischer Unterrichtsminister 1901), Bernhard Rust (Reichserziehungsminister 1933–1945), Wolfgang Steinitz, Willy Dehnkamp (Präsident der KMK 1954/1955), Paul Grebe und Theodor Frings.

Im ersten Hauptkapitel (Kaiserreich 1871 bis 1919) wird zunächst die orthografische Ausgangslage am Beginn der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts beschrieben, die durch beträchtliche Zersplitterung und erste regionale bzw. lokale Ansätze zur Entwicklung von Schreibungsnormen vor allem für das Bildungswesen gekennzeichnet war. Im Weiteren stehen die Vorbereitung, Durchführung und die Ergebnisse zunächst der I. Orthographischen Konferenz 1876 und dann der II. Orthographischen Konferenz 1901 im Mittelpunkt der Darstellung, beides Veranstaltungen, die auf Initiative staatlicher Stellen zustande kamen. Die Autorin arbeitet aber deutlich heraus, dass auch auf Seiten staatlicher Institutionen und politischer Verantwortungsträger in diesem Zeitraum sehr unterschiedliche Positionen in der „orthographischen Frage“ vertreten wurden und dass auch in der Presse schon damals unsachliche und diffamierende Äußerungen vorherrschten – ein Zustand, der sich auch in der weiteren Entwicklung im 20. Jahrhundert immer wieder zeigt. Jetzt ging es aber zunächst um die Schaffung und Durchsetzung einer einheitlichen orthografischen Regelung, die aus politischen, ökonomischen und kulturellen Gründen objektiv notwendig, aber aufgrund der bestehenden Differenzen nur durch staatliche Festlegungen und Verordnungen erreichbar war. Die Initiative dazu ergriff der preußische Unterrichtsminister Adalbert von Falk, der 1876 eine Konferenz von Fachleuten einberief, die eine solche Regelung ausarbeiten sollten. Diese beschränkten sich aber mehrheitlich nicht auf den Aspekt der Einheitlichkeit, sondern schlugen auch viele Veränderungen bisher üblicher Schreibungen vor. Das rief wiederum in der Presse, aber auch beim Reichskanzler Bismarck entschiedenen Widerstand hervor und der erste Einheitsansatz scheiterte.

Einzelne deutsche Länder entwickelten aber daraufhin eigene sogenannte Schulorthografien und so entstand für gut 20 Jahre auf dem deutschen Sprachgebiet die groteske Situation, dass alte und neue Regelungen (man sprach von Behördenorthografie einerseits und Schulorthografie, die aber auch nicht einheitlich war, andererseits) nebeneinander im Gebrauch waren. Erst um die Jahrhundertwende und nach dem Abgang Bismarcks wurde dies aufgrund des zunehmenden öffentlichen Drucks endlich geändert. Wiederum ergriff ein preußischer Unterrichtsminister, Konrad von Studt, die Initiative und berief 1901 eine II. Orthographische Konferenz ein, die ein neues Regelwerk mit einigen kleinen Veränderungen erarbeitete, das dann auf dem Wege staatlicher Verordnungen durch die einzelnen deutschen Länder, Österreich und die Schweiz als Einheitsorthografie durchgesetzt wurde. Damit war durch staatliches Handeln eine einheitliche deutsche Orthografie geschaffen worden; die von vielen gewünschte Vereinfachung der Rechtschreibung war dabei jedoch kein zentrales Anliegen mehr. Immerhin hatte aber der Staat mit diesem Vorgehen die Verantwortung für die orthografische Regelung übernommen und besaß sie nun natürlich auch für alle künftigen Veränderungen. Bedauerlicherweise zogen sich die staatlichen Stellen vor allem in Deutschland nach der Durchsetzung der Einheitsorthografie für Jahrzehnte weitgehend von dieser Verantwortung zurück und beschränkten sich darauf, immer wieder aufkommende Bemühungen zur Vereinfachung der Rechtschreibung zurückzuweisen. Alle diese Vorgänge werden von der Autorin überzeugend belegt.

Im zweiten Hauptkapitel (Weimarer Republik, 1919 bis 1932) werden die vielfältigen und differenzierten Orthografiereformbemühungen vor allem von Vereinen und Verbänden der Lehrer und der Drucker und die stets negativen bzw. hinhaltenden Reaktionen der zuständigen staatlichen Stellen sowie die kontroversen öffentlichen Diskussionen in dieser Frage ausführlich beschrieben. Es wird gezeigt, wie auch die quasi halboffiziellen Reformbemühungen im Zusammenhang mit einer Neuordnung des Schulwesens nach dem I. Weltkrieg im Dickicht der staatlichen Instanzen des Reiches und der Länder und am Widerstand konservativer Kreise scheiterten. Geradezu grotesk mutet gegenüber dieser Zurückhaltung und Inaktivität des Staates in Bezug auf Änderungen der orthografischen Regelung der Aufwand an, den die Reichsregierung, der Reichstag und die Regierungen der deutschen Länder bei der Änderung der Schreibung von zwei Wörtern (Waage und Mehltau) betrieben, wie die Autorin anhand entsprechender Dokumente vorführt. Insgesamt brachte die Zeit der Weimarer Republik keinen Fortschritt in der Frage einer orthografischen Neuregelung.

Das dritte Hauptkapitel (Drittes Reich, 1933 bis 1945) behandelt ausführlich und mit vielen Belegen die Zeit des Nationalsozialismus und sein Verhältnis zur Orthografiereform. Dabei wird deutlich, dass sich die Ablehnung von Rechtschreibänderungen durch die staatlichen Institutionen auch in diesem Zeitraum fortsetzte und dass insbesondere die Naziführung um Hitler und Goebbels, aber auch der Reichsinnenminister Frick keine Rechtschreibreform wollten. Eine Ausnahme in der Nazihierarchie bildete in dieser Frage der Reichserziehungsminister Rust, ein ehemaliger Lehrer, der dreimal versuchte, Orthografieänderungen durchzusetzen, nämlich 1936, 1941 im Zusammenhang mit dem Frakturverbot durch Hitler und 1944 mit einem reichseinheitlichen amtlichen Regelwerk, das die bisherigen Länderregelwerke ersetzen sollte. Inhaltlich knüpfte er dabei an frühere Reformprogramme vor allem aus der Weimarer Zeit an, sodass man – zumal angesichts der Ideologieunabhängigkeit der Rechtschreibung – auch nicht von spezifischen Nazireformvorschlägen sprechen kann. Alle drei Reformvorstöße von Rust wurden, wie die Autorin detailliert belegt, von der Naziführung abgeblockt und schließlich wurden die Reformbemühungen von Hitler persönlich verboten.

Das vierte Hauptkapitel (Nachkriegszeit, 1945 bis 1970) erfasst die wichtigsten Orthografiereformbestrebungen des Nachkriegszeitraums und ihr Scheitern auf der politischen Ebene. Das beginnt nach einleitenden Bemerkungen zu den Verhältnissen in Österreich und der Schweiz mit den Vorschlägen des Berliner Vorausschusses 1946 aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) unter maßgeblicher Mitwirkung von Wolfgang Steinitz, die aber von westdeutscher Seite nicht aufgegriffen bzw. boykottiert wurden. Es setzt sich fort in einer ausführlichen Beschreibung der Tätigkeit der „Arbeitsgemeinschaft für Sprachpflege“, einer Gruppierung von Vertretern der vier deutschsprachigen Staaten, die 1954 die Stuttgarter Empfehlungen vorlegte und damit ein großes öffentliches Echo fand. Auch diese Bemühungen versandeten in der häufig sehr unsachlichen öffentlichen Auseinandersetzung und der ihr folgenden Zurückhaltung und Inaktivität der zuständigen staatlichen Stellen. Immerhin hatte die heftige Auseinandersetzung um die Stuttgarter Empfehlungen dem Problem der Rechtschreibreform aber so große öffentliche Aufmerksamkeit verschafft, dass sich nach einer gewissen Zeit doch eine staatliche Institution der BRD, die KMK, vor allem dank der Initiative des Bremer Schulsenators Dehnkamp veranlasst sah, 1956 einen „Arbeitskreis für Rechtschreibregelung“ zu berufen, der den Auftrag erhielt, Vorschläge für eine mögliche Orthografiereform auszuarbeiten. Ihm gehörten Vertreter von einschlägig betroffenen Vereinen, Verbänden und Berufsgruppen der BRD an, darunter auch eine Reihe von Sprachwissenschaftlern. Die Autorin beschreibt nun akkurat die Tätigkeit dieses Arbeitskreises bis zur Vorlage seiner Reformvorschläge, der Wiesbadener Empfehlungen, im Jahre 1958. Diese Vorschläge fanden aber im Plenum der KMK insbesondere durch den Widerstand Bayerns und auch beim letztlich zuständigen Bundesinnenminister keine Zustimmung. Auch die 1961 vorgelegte Stellungnahme Österreichs zu diesen Vorschlägen war vor allem in Bezug auf die Groß- und Kleinschreibung nicht zustimmend, während die 1963 abgegebene Stellungnahme der Schweiz die Vorschläge fast vollständig zurückwies. Seitens der DDR wurde keine offizielle Stellungnahme zu den Wiesbadener Empfehlungen abgegeben. So verlief auch diese erstmals von einer staatlichen Stelle gestartete Initiative wieder im Sande und die Reformbemühungen wurden offiziell eingestellt. Abgesehen von den fortdauernden Aktivitäten privater Verbände und Vereine wurden sie erst mehr als ein Jahrzehnt später auf wissenschaftlicher Ebene und mit neuen Forschungsansätzen wieder aufgenommen, was aber in dem hier zu besprechenden Buch nicht mehr behandelt wird.

Die Arbeit von Strunk erläutert und belegt überzeugend, dass staatliche Institutionen sich zwar bei der Schaffung der deutschen Einheitsorthografie aktiv engagierten, obwohl es auch dabei erheblichen Widerstand konservativer Kreise gab, dass aber die maßgebenden staatlichen Stellen sich danach und bis zum Ende des hier behandelten Zeitraums in Hinsicht auf die Weiterentwicklung und Vereinfachung der Rechtschreibung sehr zurückhaltend oder ablehnend verhielten. Erst im Laufe der 1970er Jahre und in der Folgezeit im Zusammenhang mit der Vorbereitung der orthographischen Neuregelung von 1996 begann sich das allmählich etwas zu ändern, was dann in einer künftigen Untersuchung dargestellt werden sollte.

Insgesamt überzeugt das vorliegende Buch durch einen klaren Aufbau, eine präzise Darstellung auf der Grundlage sorgfältiger Recherchen und eine sich daraus ergebende schlüssige Argumentation. Es wird für die weitere Auseinandersetzung mit Fragen der Orthografieentwicklung unverzichtbar sein.

Literatur

Jansen-Tang, Doris. 1988. Ziele und Möglichkeiten einer Reform der deutschen Orthographie seit 1901. Frankfurt a. M.: Peter Lang.Search in Google Scholar

Küppers, Hans-Georg. 1984. Orthographiereform und Öffentlichkeit. Zur Entwicklung und Diskussion der Rechtschreibreformbemühungen zwischen 1876 und 1982. Düsseldorf: Schwann.Search in Google Scholar

Mentrup, Wolfgang. 2007. Stationen der jüngeren Geschichte der Orthographie und ihrer Reform seit 1933. Zur Diskussion, Texttradition und Rezeption, unter Mitwirkung von Kerstin Steger. Tübingen: Gunter Narr.Search in Google Scholar

Nerius, Dieter u. a. 2007. Deutsche Orthographie. 4., neu bearb. Aufl. Hildesheim: Georg Olms.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2016-9-2
Erschienen im Druck: 2016-12-1

© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License.

Downloaded on 28.3.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2016-0020/html
Scroll Up Arrow