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BY-NC-ND 3.0 license Open Access Published by De Gruyter October 20, 2016

Kersten Sven Roth. 2015. Diskursrealisationen. Grundlegung und methodischer Umriss einer pragmatisch-interaktionalen Diskurssemantik (Philologische Studien und Quellen 247). Berlin: Erich Schmidt. 392 S.

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Rezensierte Publikation:

Kersten Sven Roth. 2015. Diskursrealisationen. Grundlegung und methodischer Umriss einer pragmatisch-interaktionalen Diskurssemantik (Philologische Studien und Quellen 247). Berlin: Erich Schmidt. 392 S.


Kersten Sven Roth stellt den Zuschnitt seiner Arbeit vor, indem er als Einstieg eine Passage aus dem Roman Perlmanns Schweigen von Pascal Mercier linguistisch deutet: Aussagen werden blind verstanden, ohne dass sie reflektiert werden. Nach nur wenigen Absätzen differenziert er diese Beobachtung: Aussagen werden situativ und interaktiv erworben und realisiert. Sie gehören aber zugleich diskursiven Wissensformationen an, die die sprachliche Realisierung der Aussagen strukturieren und prägen. Roth fokussiert auf den ersten Seiten eine Korrelation, die zwischen den individuellen Äußerungen und ihren konkreten situationsgebundenen Realisierungen einerseits und den kollektiven Wissensrahmen und ihrer intersubjektiven situationsübergreifenden Strahlkraft andererseits besteht. Davon ausgehend leitet er sein Vorhaben ab. Das, was er in der Romanpassage beobachtet, scheint er methodisch nur angemessen fassen zu können, wenn der Ansatz der Diskurssemantik durch pragmatische und interaktionale Aspekte erweitert wird (vgl. S. 20). Indem er die erkenntnisleitenden Fragen, die einem diskurssemantischen und interaktionslinguistischen Untersuchungsformat zugrunde liegen, skizziert, wird seine methodologische Zielsetzung nachvollziehbar. Mit dem diskurssemantischen Ansatz werden die diskursiven Wissensformationen, mit der interaktionslinguistischen Herangehensweise werden die situative Verankerung und die interaktive Realisierung von Aussagen analytisch miteinbezogen. Der Autor beschreibt die beiden Zugänge folgendermaßen:

„Entweder man geht von der Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprache und den Strukturen sozialen Wissens aus und sucht von hier aus einen Zugang zu dessen pragmatischer Dimension, oder aber man nimmt die pragmatischen Grundlagen sprachlicher Interaktion zum Ausgangspunkt der Überlegungen und fragt nach deren Beziehung zu situationsübergreifenden semantischen Strukturen.“ (S. 27)

Die erste Untersuchungsrichtung ordnet Roth dem diskurssemantischen Ansatz zu. Bei der zweiten verweist er auf interaktions- bzw. gesprächslinguistische Vorgehensweisen (vgl. ebd.). Mit anderen Worten: In interaktionslinguistischen Fragestellungen werden zunächst die pragmatischen Parameter fokussiert. Ausgehend von der Situierung der interaktiv realisierten Kommunikation wird die sprachliche Oberfläche gedeutet. Die Diskurssemantik ergründet über die sprachliche Oberfläche die mentalen Dimensionen des Diskurses, um ausgehend von Wissensformationen die Kontextualisierung der diskursiv geprägten Kommunikation zu deuten.

Unter Diskurssemantik subsumiert Roth alle Ansätze, die in der von Busse (1987) geprägten Tradition der HistorischenDiskurssemantik stehen (vgl. S. 29). Diese Forschungspraxis wird häufig auch unter dem Terminus Diskurslinguistik oder Linguistische Diskursanalyse gefasst. Er wähle die Bezeichnung Diskurssemantik, um den Stellenwert der Semantik hervorzuheben, der diese Disziplin präge. Unter Bezugnahme auf Foucault gelange die „Semantik, die gerade nicht von der Analyse ausdrucksseitiger Elemente ausgeht“ (S. 30), in den analytischen Fokus. Eine Wissensanalyse setze eine weite „Semantikauffassung“ (ebd.) voraus. Im Foucaultʼschen Sinne lassen sich Diskurse als Formationssysteme an der sprachlichen Oberfläche aufspüren: entweder als explizit artikulierte Aussagen in Form von ausdrucksseitigen Rekurrenzen oder als implizite, kaum bis gar nicht artikulierte Aussagen, die durch den Diskurs aber ebenso geordnet werden.

Wenn Roth von der Interaktionslinguistik spricht, meint er vor allem die interaktionslinguistische Bedeutungstheorie. Er bezieht sich hier insbesondere auf die Mannheimer Gesprächsforschung (vgl. S. 98). Bedeutung wird hier als „Ressource der Interaktion“ (S. 101) und „als lokales Phänomen“ (S. 105) verstanden. Die Herstellung von Bedeutung vollzieht sich demnach in der Interaktion und in der Situation. Roth verweist auf die „pragmatische Ausrichtung der Diskurssemantik“ (S. 34f.). Indem er den diskurssemantischen Ansatz mit interaktionslinguistischen Aspekten erweitert, nimmt er die Situierung der Aussagen im Kontext ebenso ernst wie die Strukturierung der Aussagen im Diskurs.

Die Zusammenführung der verschiedenen Forschungsrichtungen gelingt dem Autor besonders gut. Das zeigt sich im Besonderen in dem von ihm gewählten Terminus der Diskursrealisation, den er als Analysekategorie einführt und für sein diskurspragmatisches Erkenntnisinteresse fruchtbar macht. Unter einer Diskursrealisation versteht Roth einen „konkreten Beleg diskursiven Wissens, den die Äußerung dargestellt“ (S. 37). Sie „umfasst einerseits den semantischen Aspekt, den die Aussage darstellt, hat aber andererseits auch eine bestimmte sprachliche Form“ (ebd.). Der einzelnen Diskursrealisation kann „im Rahmen einer strikt an den Möglichkeiten diskursiven Wissens interessierten Diskurssemantik keine Bedeutung als eigenständigem Erkenntnisgegenstand“ (S. 42) zugeschrieben werden, dennoch ist die einzelne Diskursrealisation „als ein notgedrungen an situative Bedingungen geknüpftes sprachliches Phänomen“ (ebd.) anzusehen.

Roths Vorgehensweise ist eine integrative: Im zweiten Teil seiner Arbeit, in dem es um eine „[t]heoretische Grundlegung einer diskurspragmatischen Forschungspraxis“ (S. 25) geht, wählt er keine schlichte Gegenüberstellung, indem er die diskurssemantische und interaktionslinguistische Ausrichtung nacheinander erläutert. Stattdessen verweist er in den Kapiteln 2 („Diskurssemantik“) und 5 („Semantik in interaktionslinguistischer Perspektive“) stets auf den jeweils anderen Ansatz. Auf diese Weise führt er Aspekte aus den beiden Forschungsbereichen bereits im theoretischen Teil und an zentralen Stellen seiner Argumentation zusammen. Damit gelingt ihm, das im Titel explizierte Forschungsprogramm theoretisch zu fundieren.

In Kapitel 2 bis 5 entfaltet Roth weitere Konzepte, die für sein methodologisches Erkenntnisinteresse zentral sind. In Kapitel 3 bezieht er sich auf die Rhetorik, im Speziellen auf das Konzept des Orators. Er hebt dessen Funktion als „Urheber einer kommunikativen Handlung“ hervor, „der in einer gegebenen Situation und verbunden mit einer bestimmten Intention sprachlich auf einen im Prinzip bekannten [...] Adressaten einzuwirken versucht“ (S. 69). Diesen Gedanken kann Roth für seinen Entwurf einer pragmatisch-interaktionalen Diskurssemantik ebenso fruchtbar machen wie das Konzept des Aptums, denn welche Inhalte in welcher Art und Weise in einem Diskurs geäußert werden, ist abhängig von der Äußerungssituation (S. 74f.). In Kapitel 4 skizziert er das Konzept der teilnahmeorientierten Diskursrealisationen. Dieses impliziert eine Analyse „nicht-massenmedialer Diskursrealisationen“ (S. 80). Teilnahmeorientierte Diskursrealisationen lassen sich in der alltäglichen Kommunikation, die sich in Gesprächen nicht-öffentlich vollzieht, aufspüren (vgl. S. 80–95). Nach dem interaktionslinguistisch geprägten Kapitel 5 beleuchtet der Autor in Kapitel 6 verschiedene Methoden, die für seine TOR-Analyse (TOR steht für teilnahmeorientierte Realisationen; vgl. S. 95) fruchtbar gemacht werden können.

Hervorzuheben ist, dass Roth immer wieder Bezug auf das Beispiel nimmt, das er im einführenden Teil zur Veranschaulichung heranzieht. Die Aussage Mestre ist hässlich aus dem Roman Perlmanns Schweigen und ihre linguistische Deutung führt wie ein roter Faden durch die theoretischen Überlegungen des zweiten Teils der Arbeit. Für empirisch ausgerichtete Leserinnen und Leser sind diese Passagen eine konkretisierende Leseunterstützung.

Im dritten Teil der Arbeit erfolgt die methodische Darstellung der fünf verschiedenen Ebenen der TOR-Analyse: die Sektoren-, die Aussagen-, die Format-, die Handlungs- und die Interferenzanalyse. Auch hier ist die Vorgehensweise eine integrative. Roth stellt die fünf Ebenen schrittweise vor, wendet sie aber gleichzeitig durch exemplarische Analysen an. Die Untersuchung basiert auf einem Korpus, das Daten der mündlichen Kommunikation umfasst. Die Datenerhebung erfolgte vom 10. November 2008 bis zum 14. Juli 2009 und wurde „sieben Mal zu verschiedenen Zeitpunkten, an verschiedenen Orten in Deutschland sowie mit unterschiedlichen Probandengruppen“ mit jeweils „drei bis sechs Interaktanten“ durchgeführt (S. 175f). Den Gruppen wurde dieselbe Aufgabenstellung gegeben. Sie sollten ein Gespräch über ein gemeinsames Thema (die Deutsche Bahn) führen, ein Statement erarbeiten und einen kurzen Vortrag vorbereiten. „Dem Vortrag selbst galt dabei nicht das primäre Interesse“ (S. 176). Roth analysiert vielmehr die Gespräche der Gruppen.

In dem ersten methodischen Schritt, der Sektorenanalyse, wird der Fokus auf die „thematische Begrenzung des Diskurses sowie seine subthematische Gliederung“ (S. 180) gerichtet. Auf dieser ersten Analyseebene geht es um „die Modellierung eines Diskurses als ein [...] flächiges Gebilde mit teils deutlich, teils weniger deutlich identifizierbaren Sektoren“ (S. 182). In der Aussagenanalyse wird untersucht, was über die verschiedenen Sektoren gesagt wird. Diese zweite Analysephase ist angelehnt an argumentationsanalytische Vorgehensweisen innerhalb der Diskurssemantik (vgl. S. 246). Die Formatanalyse nimmt die konkreten Diskursrealisationen in den Blick. Während auf der ersten und zweiten Ebene die inhaltsseitige Analyse im Mittelpunkt des Untersuchungsinteresses steht, werden nun auf der dritten Ebene die ausdrucksseitigen Diskursrealisationen fokussiert (vgl. S. 265). In der Handlungsanalyse gilt es sodann, eine dezidierte Interaktionsanalyse durchzuführen, die sich an dem „etablierte[n] konversationsanalytische[n] Modell zur Interaktionskonstitution“ (S. 291) orientiert. Auf dieser vierten Ebene wird untersucht, wie die Gespräche organisiert, gemeinsame Ziele konstituiert und Sachverhalte dargestellt werden, wie die Identität der Interaktanten und ihre Beziehung in die Bedeutungskonstitution miteinfließen, wie sich die Interaktanten an dieser beteiligen und wie Verstehen untereinander hergestellt wird (vgl. ebd.). In der Interferenzanalyse werden verschiedene Realisationstypen verglichen. Roth schlägt hier einen Vergleich zwischen TORs (teilnahmeorientierten Realisationen) und MMRs (massenmedialen Realisationen) vor (vgl. S. 314). Auf dieser fünften Ebene sollen qualitative Vorgehensweisen zur Analyse der TORs mit quantitativen Verfahren zur Untersuchung der MMRs verbunden werden. Bei der Anwendung dieser Ebene beschränkt sich Roth leider nur auf Spuren massenmedialer Bezugspunkte im TORs-Korpus. Eine Analyse auf der Grundlage eines MMRs-Korpus hätte sicherlich dazu geführt, diesen methodisch überzeugenden Schritt auch empirisch zu plausibilisieren. Auf diese Weise wäre die innovative Ausarbeitung des Fünf-Ebenen-Modells auf allen Ebenen exemplarisch angewendet und empirisch unter Beweis gestellt worden.

Abschließend ist festzuhalten, dass Roth einen Ansatz erweitert, den Spieß (2011) mit ihrer Monographie Diskurshandlungen angelegt hat (vgl. Roth S. 315). Während Spieß Konzepte der Linguistischen Pragmatik zusammenträgt und eine pragmatische Begründung der Diskurslinguistik liefert, liegt mit der Monographie von Roth nun eine überzeugende Arbeit vor, in der das diskurspragmatische Erkenntnisinteresse weitergeführt wird. Sie lässt sich damit einer neuen Forschungstendenz zuordnen, die davon geprägt ist, dass Konzepte für die Diskurslinguistik fruchtbar gemacht werden, die aus der linguistischen Auseinandersetzung mit Gesprächen erwachsen sind. Hier wäre beispielsweise auch Müller (2015) zu nennen, der sich mit dem Rollenbegriff der interaktionalen Linguistik und Konversationsanalyse befasst und diesen für sein diskurs- und korpusanalytisches Untersuchungsdesign nutzt. Jacob (erscheint 2017) greift ebenso einen an Gesprächen orientierten Ansatz auf, indem sie Konzepte der Funktionalen Pragmatik mit Konzepten der Diskurslinguistik zusammenführt, um die kommunikative Praxis des Entscheidens zu untersuchen. Es ist zu erwarten, dass noch weitere Arbeiten entstehen, in denen konversations- und gesprächsanalytische oder interaktionslinguistische Konzepte mit dem diskurslinguistischen Paradigma verbunden werden. Die Arbeit von Roth hat dafür einen zentralen Beitrag geleistet.

Insgesamt ist festzuhalten, dass die Monographie vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstandes für den Bereich der Diskursforschung, die sowohl schriftliche und mündliche Kommunikation zum Gegenstand hat, einen neuen und ausgezeichneten methodischen Zugang bereithält, der auch für quantitative Analyseverfahren anschlussfähig ist. Darüber hinaus ist sie aufgrund des klaren Aufbaus, der grundständigen Theorie- und Methodendarstellungen und des empirischen Materials sehr lesenswert. Das Werk scheint vornehmlich für Studierende im höheren Semester sowie für Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler geeignet und bereichernd zu sein.

Literatur

Busse, Dietrich. 1987. Historische Semantik. Analyse eines Programms (Sprache und Geschichte 13). Stuttgart: Klett-Cotta.Search in Google Scholar

Jacob, Katharina. Erscheint 2017. (Sprache und Wissen) Berlin u. a.: De Gruyter.Search in Google Scholar

Müller, Marcus. 2015. Sprachliches Rollenverhalten. Korpuspragmatische Studien zu divergenten Kontextualisierungen in Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Sprache und Wissen 19). Berlin u. a.: De Gruyter.10.1515/9783110379068Search in Google Scholar

Spieß, Constanze. 2011. Diskurshandlungen. Theorie und Methode linguistischer Diskursanalyse am Beispiel der Bioethikdebatte (Sprache und Wissen 7). Berlin u. a.: De Gruyter.10.1515/9783110258813Search in Google Scholar

Online erschienen: 2016-10-20
Erschienen im Druck: 2016-12-1

© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 28.3.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2016-0031/html
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