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BY-NC-ND 3.0 license Open Access Published by De Gruyter November 30, 2016

Rosemarie Lühr, Harald Bichlmeier & Albert L. Lloyd. 2014. Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen. Unter der Leitung von Rosemarie Lühr erarbeitet von Harald Bichlmeier, Maria Kozianka und Roland Schuhmann mit Beiträgen von Albert L. Lloyd unter Mitarbeit von Karen K. Purdy. Band V: iba–luzzilo. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 1564 Spalten.

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Rezensierte Publikation:

Rosemarie Lühr, Harald Bichlmeier & Albert L. Lloyd. 2014. Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen. Unter der Leitung von Rosemarie Lühr erarbeitet von Harald Bichlmeier, Maria Kozianka und Roland Schuhmann mit Beiträgen von Albert L. Lloyd unter Mitarbeit von Karen K. Purdy. Band V: iba–luzzilo. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 1564 Spalten.


Im Mittelpunkt des Interesses der neuphilologischen Fächer stehen seit geraumer Zeit Fragen der Sprachstruktur und der kommunikativ-pragmatischen Funktion der Sprachen. Darüber ist die nicht weniger wichtige Frage, wie sich die Menschen ihre Welt mit Hilfe der Sprache überhaupt erst erschließen, mit welchen Wörtern sie also die Dinge der Welt benennen, etwas in den Hintergrund gerückt. Auf diesem Feld ist aber die etymologische Forschung die Königsdisziplin, denn die Etymologie war für die gebildeten Menschen der Antike und des Mittelalters der Schlüssel zur Welt und noch Leibniz hatte in diesem Sinne geplant, ein großes etymologisches Wörterbuch vorzulegen. Allerdings zeigt die Ety­mologie nicht, wie die Dinge „wirklich“ sind, sondern nur, wie sich eine Sprachgemeinschaft die Dinge – zumindest zum Zeitpunkt der Bildung eines neuen Wortes – erklärt hat. Es mag daher in der Folge der Linguistik de Saussures ein falsch verstandener „Arbitraritätsverdacht“ der Ausgangspunkt für das nachlassende etymologische Interesse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert gewesen sein. Doch liegt der Reiz heutiger etymologischer Forschung gerade darin, neben den Gemeinsamkeiten auch die möglichen einzelsprachlichen Unterschiede in der Versprachlichung der Welt herauszuarbeiten. Da sich die Ausdrucksseite und die Inhaltsseite eines Wortes durch einerseits lautlichen und andererseits kulturellen Wandel über die Jahrhunderte hinweg verändern, können die ursprüngliche Form und das ursprüngliche Benennungsmotiv ebenso wie die darauf folgenden einzelsprachlichen Veränderungen nur durch etymologische Forschung aufgehellt werden.

Diese Tradition wird in Deutschland vor allem durch das Etymologische Wörterbuch des Althochdeutschen (EWA) aufrecht erhalten. Dabei verdeutlichen die erfreulichen Fortschritte des EWA zugleich die derzeitige Schieflage der etymologischen Erforschung der deutschen Sprache insgesamt. Während für das Althochdeutsche mit seinen ca. 30.000 Lexemen inzwischen mit der Buchstabenstrecke A bis L fünf gewichtige Bände vorliegen, besitzen wir für das Neuhochdeutsche nur allenfalls drei einbändige Wörterbücher mit wissenschaftlichem Anspruch, die auf dem Buchmarkt konkurrieren, den deutschen Wortschatz aber jeweils nur in einer Auswahl erschließen können. Allein der fünfte Band des hier zu besprechenden Etymologischen Wörterbuchs des Althochdeutschen enthält auf 1564 Spalten mehr etymologische Informationen, als im einbändigen Kluge, Pfeifer oder Duden jeweils untergebracht werden können. Das auf zehn Bände angelegte Vorhaben, das an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften erarbeitet wird, ist daher zugleich das zentrale Hilfsmittel für ein künftig zu erstellendes mehrbändiges „großes“ etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, das dann selbst wieder zur Grundlage eines neuen einbändigen Handbuchs werden könnte. Ein solches etymologisches Wörterbuch kann aber heute nicht mehr von Germanisten allein ausgearbeitet werden; es wäre ohne die Unterstützung der Indogermanistik und Vergleichenden Sprachwissenschaft nur schwer vorstellbar, das zeigt nicht zuletzt der vorliegende Band selbst. Auch die großen Fortschritte gerade bei der Beschreibung der sprachlichen Ausdrucksseite lassen sich anhand der bisher erschienenen Bände des EWA verdeutlichen. Der erste, von Albert Lloyd und Otto Springer in Philadelphia erarbeitete Band war 1987 noch ein sprachhistorisch-germanistisch ausgerichtetes Wörterbuch mit indogermanistischer Beratung. Unter der Leitung von Rosemarie Lühr wurde das Wörterbuch dann schrittweise modernisiert und dem heutigen Stand der Indogermanistik angepasst. Während auf laryngalhaltige Ansätze anfangs verzichtet wurde, weil man der Ansicht war, dass Laryngale für die Beschreibung von germanischen Sprachstadien nicht erforderlich wären, wurden sie später zunächst in eckigen Klammern zusätzlich angeführt und werden jetzt ausschließlich verwendet. So sehr dies in wissenschaftlicher Hinsicht wegen der größeren Genauigkeit zu begrüßen ist, hat es doch die weniger erfreuliche Nebenwirkung, dass das Wörterbuch für heutige Studentinnen und Studenten der Germanistik – und wohl nicht nur für diese – kaum oder nur noch sehr mühsam zu benutzen ist. Die drei einbändigen deutschen etymologischen Wörterbücher bemühen sich daher weiterhin, ohne diese Notationen auszukommen.

Die Entscheidung, im EWA anders zu verfahren, hat allerdings den großen Vorteil, dass die Geschichte der althochdeutschen Wörter nicht in einer nationalphilologischen Verengung auf die althochdeutschen und germanischen Abschnitte ihrer Entwicklung reduziert, sondern in einen europäischen, gelegentlich auch außereuropäischen Kontext eingebettet werden. Hier ist die Verwendung laryngalhaltiger Formen meist unerlässlich. Aber auch bei Lehnwörtern, die im vorliegenden Band recht zahlreich beim Buchstaben K erscheinen, begnügt man sich nicht, nur die Quelle der Entlehnung zu benennen. Kampfer und Köcher sind anschauliche Beispiele für sprachliche Beziehungen, die tief bis in den ost- und zentralasiatischen Raum hineinführen. So gelangen im Falle des Köchers Wort und Sache aus dem Hunnischen in den deutschen Sprachraum, wohin sie durch turktatarische Völker aus dem Altmongolischen vermittelt wurden (zur Sachgeschichte siehe auch O’Sullivan 2013: 193f.). Eine vergleichbar internationale Perspektive bietet unter den großen Wörterbüchern des Deutschen heute nur – bezogen auf die jüngere Sprachgeschichte – das Mannheimer Deutsche Fremdwörterbuch.

Wie sehr das Etymologische Wörterbuch des Althochdeutschen bei der etymologischen Erschließung auch der Lexeme der deutschen Gegenwarts­sprache hilfreich ist, zeigt die kurze, zufällig ausgewählte Buchstabenstrecke La- (Spalte 945–1082):

Hier begegnen ahd. lab, nhd. Lab; ahd. laba, nhd. in Labsal; ahd. labôn, nhd. laben; ahd. labunga, nhd. Labung; ahd. ladan, nhd. (be-)laden; ahd. ladôn, nhd. laden; ahd. ladunga, nhd. Ladung; ahd. lavendula, nhd. Lavendel; ahd. lâga, nhd. Lage; ahd. lacha, nhd. Lache; ahd. lachan, nhd. Lachen, Laken; ahd. lachan, nhd. lachen; ahd. lahs, nhd. Lachs; ahd. lahtar, nhd. in Gelächter; ahd. lak(e)rizia, nhd. Lakritze; ahd. lalôn, nhd. lallen; ahd. lam, nhd. lahm; ahd. lamb, nhd. Lamm, ahd. lamprîda, nhd. Lamprete (Fisch); ahd. lang, nhd. lang; ahd. langbartisc, nhd. lombardisch; ahd. langbeini, nhd. in langbeinig; ahd. langen, nhd. (er)langen; ahd. langez, nhd. Lenz; ahd. lango, nhd. lange; ahd. langsam, nhd. langsam; ahd. lant, nhd. Land (mit dem Sammelartikel lant-, der unter anderem ahd. lantgrâvo, nhd. Landgraf; ahd. lanthêrro, nhd. Landesherr; ahd. lantliut, nhd. Landsleute; ahd. lantman, nhd. Landsmann; ahd. lantreht, nhd. Landrecht; ahd. lantskaft, nhd. Landschaft; ahd. lantwerî, nhd. Landwehr enthält), ahd. lâo, nhd. lau; ahd. lappa, nhd. Lappen; ahd. lâri, nhd. lehr; ahd. last, nhd. Last, ahd. lastar, mhd. Laster; ahd. lastarlîh, nhd. lästerlich; ahd. last(a)rôn, nhd. lästern; ahd. latînisc, nhd. lateinisch; ahd. latta, nhd. Latte; ahd. lat(t)uh(ha), nhd. Lattich; ahd. laz, nhd. Latz; ahd. lâzan, nhd. lassen sowie ahd. lâzûrstein, nhd. Lazurstein.

Dazu tritt noch eine Reihe von Wörtern, die zwar nicht in der Standardsprache, aber in den verschiedenen deutschen Dialekten erhalten sind. So etwa ahd. laffa ‚Ruderblatt‘; ahd. laffan ‚lecken‘; ahd. lâgella ‚Fässchen‘; ahd. lâh ‚Grenzzeichen‘; ahd. lammila ‚Klinge‘; ahd. lanka ‚Niere, Lende‘, ahd. lanna ‚Webkette‘ und ahd. lâz1 ‚Zugeständnis‘. Die bis zum Neuhochdeutschen hin aus­gestorbenen Wörter dieser Buchstabenstrecke wie ahd. labal ‚Waschbecken‘, ahd. lâchi ‚Arzt, Ringfinger‘ oder ahd. lancsuht ‚Gelenkrheumatismus‘ u. a. sind deutlich in der Minderheit.

Genaue Zahlen für die ermittelten Einträge anzugeben fällt allerdings schwer, weil seit Band IV nicht immer ganz klar wird, welche Lexeme – wohl in platzsparender Absicht – zu Sammelartikeln zusammengefasst werden. Während in Band IV zum Beispiel in Spalte 96 Wörter wie gartlîh ‚zum Garten gehörend‘ und gartliod ‚chorischer Reigentanz‘ zusammengefasst wurden, obwohl sie zu verschiedenen Bedeutungen von gart gehören, findet sich in Band V in Spalte 1160 etwa das Lemma leitôn ‚führen, leiten‘ mit angeschlossenen verbalen Präfixbildungen. Dem schließt sich ein Sammelartikel an, der fortlaufend (nur mit Hervorhebung der jeweiligen Lemmata) leitzôha ‚Leithündin‘, leckāări ‚Schlemmer, Wüstling‘, das jan-Verb lecken ‚bewässern, benetzen‘ sowie leckispiz ‚Leckermaul‘ enthält, bevor mit leckôn wieder ein neuer Hauptartikel einsetzt. Ähnlich unglücklich auch in Spalte 957 die Zusammenfassung von ladunga ‚Einladung‘ und lavantarāări ‚Walker‘, die etwas unmotiviert zwischen den Hauptartikeln ladôn und lavantāări stehen. Die Beispiele ließen sich leicht vermehren; es scheinen oft Ableitungen und Komposita, die im Alphabet zwischen Simplizia stehen, zu solchen Sammelartikeln zusammengefasst zu sein. Die Qualität der einzelnen Deutungen bleibt davon aber selbstverständlich unberührt.

Es handelt sich beim EWA insgesamt um eine höchst beeindruckende Leistung, die vor allem Lob, Unterstützung und Respekt verdient. Der Textsorte Rezension geschuldet folgen dennoch einige Anmerkungen, die aber nicht als Kritik, sondern nur als Diskussionsbeitrag verstanden werden sollen. Zu den seltenen Fällen, in denen mich die semantische Deutung nicht recht überzeugt, gehört das Lemma krank. Da die Bearbeiter sich hier gegen die einhellig bei Kluge, Pfeifer und im Duden vorgeschlagene Herkunft entscheiden, wäre ein Hinweis auf diese Deutung als ‚gekrümmt, gebeugt‘ zumindest angebracht. Im Falle des Igels, der gelegentlich auch als der „Besieger der Schlangen“ verehrt wurde, wird festgestellt, dass ahd. igil auf eine ursprüngliche Bedeutung „der zur Schlange gehörige im Sinne von Schlangen fressendes Tier“ zurückgehe. Da dies dennoch „nicht ein typisches Verhalten von Igeln“ (Sp. 24) sei, soll hier darauf hingewiesen werden, dass im Hebräischen das Wort für den Igel qippôd lautet und zur Wurzel qpd ‚zusammenrollen, sich zusammenziehen‘ gehört. Dieses Motiv, das charakteristische Zusammenrollen des Igels als Schutz vor Feinden, könnte auch für die indogermanischen Sprachen gelten, denn auch in diesem Falle wäre eine „Benennung nach der Eigenschaft des Igels“ (Sp. 24), nämlich sich im Zusammenrollen zu verhalten wie eine Schlange, gegeben. Hingewiesen sei schließlich noch auf einige mit kn- anlautende Wörter im Althochdeutschen, die verdickte Gegenstände bezeichnen. Das Wörterbuch nennt knebil ‚Knebel‘, kneo ‚Knie‘, knet ‚Klumpen‘ (in einem Sammelartikel mit kneorada und kneorado ‚Kniescheibe‘), knodo ‚Knoten‘, knocho ‚Knochen‘, knollo ‚Klumpen‘, knopf ‚Knopf‘, knotz ‚Knoten, Knorren‘, knouf ‚Knoten, Schwertknauf‘, knubil ‚Fingergelenk, Knöchel‘, knuchil ‚Knöchel‘, knutil ‚Knüttel, Knüppel‘. Bezieht man das Neuhochdeutsche mit ein, ließe sich die Liste leicht erweitern, etwa durch Knäuel, Knobel, Knödel, Knorpel, Knospe, Knüppel, Knust und Knute.Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt, der sich dann lautsymbolisch weiter ausgebreitet hätte, ist vermutlich idg. *ĝón-u/ĝén-u ‚Knie‘, das auch vorliegt in lat. genu ‚Knie‘ und heth. genu-/ganu- ‚Knie, Geschlechtsteil, Geschlecht, Sippe‘, wobei das Hethitische bereits auf das „Geschlechtsteil“ als „verdicktem Gegenstand“ verweist. Das zieht auch die sonst nicht leicht zu deutenden Wörter ahd. knabo, knappo ‚Knabe‘, kneht ‚Knecht‘ und knuosal ‚Geschlecht‘ in diese Sphäre. Eine „Übertragung“ von Bedeutungen auf andere Bereiche wird vereinzelt auch im EWA nicht ausgeschlossen, so Spalte 627f. unter knabo, knappo, wo der Anschluss an das unter knubil ‚Fingerkuppe‘ behandelte Paradigma damit gerechtfertigt wird, dass „auch bei anderen Wörtern wie kneht ‚Kind, Sohn‘ eine Übertragung von [!] Holzstück auf Menschen stattgefunden hat“ (Spalte 628). Es ist aber wohl eher nicht das Holzstück, sondern das männliche Geschlecht als verdickter Gegenstand, das für weit mehr Kn-Wörter das gemeinsame Merkmal bildet. Die gelegentlich erwogene und aus semantischen Gründen dann besonders nahe liegende Verbindung mit der Wortgruppe um ahd. kind wird in Spalte 637 aber aus „lautgesetzlichen Gründen“ abgelehnt. Die „Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze“ kann aber in den natürlichen Sprachen auch nicht mehr als eine – wenngleich oft plausible – Arbeitshypothese sein.

Die abschließenden Bemerkungen sollten an Beispielen zeigen, auf welchen Feldern die Vergleichende Sprachwissenschaft und die Germanistik wieder ins Gespräch kommen können. Das Etymologische Wörterbuch des Althochdeutschen bietet auch dafür eine unschätzbare Grundlage. Die Fachwelt schuldet den Bearbeitern, der Sächsischen Akademie und auch dem Verlag großen Dank.

Literatur

Deutsches Fremdwörterbuch.1995. Begonnen von Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler, 2. Aufl., völlig neu erarbeitet im Institut für Deutsche Sprache, Bd. 1. Berlin, New York: De Gruyter. (Zuletzt 2010.Bd. 7, unter der Leitung v. Herbert Schmidt, Berlin, New York: De Gruyter)Search in Google Scholar

O’Sullivan, Angelika. 2013. Waffenbezeichnungen in althochdeutschen Glossen. Sprach- und kulturhistorische Analysen und Wörterbuch (Lingua Historica Germanica 3). Berlin: Akademie-Verlag.10.1524/9783050064345Search in Google Scholar

Online erschienen: 2016-11-30
Erschienen im Druck: 2016-12-1

© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License.

Downloaded on 24.3.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2016-0041/html
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