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BY-NC-ND 3.0 license Open Access Published by De Gruyter January 20, 2017

Nadio Giger. 2015. Generative Varietätengrammatik. Am Beispiel der Nominativ-Akkusativ-Variation im Schweizerhochdeutschen (Stauffenburg Linguistik 86). Tübingen: Stauffenburg. 371 S.

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Nadio Giger. 2015. Generative Varietätengrammatik. Am Beispiel der Nominativ-Akkusativ-Variation im Schweizerhochdeutschen (Stauffenburg Linguistik 86). Tübingen: Stauffenburg. 371 S.


Wie der Titel dieses aus einer Dissertation an der Universität Zürich hervorgegangenen Buchs bereits andeutet, strebt es drei grundsätzliche Ziele an: Erstens soll eine bestimmte Art der grammatischen Variation, nämlich die systematische Verwendung des strukturellen Kasus Nominativ (NOM) anstelle des strukturellen Akkusativs (AKK) in dafür spezifischen Kontexten, als Phänomen erklärt werden. Dieses wird, zweitens, als beispielhaft für Merkmale bestimmter Varietäten der deutschsprachigen Schweiz veranschaulicht, die zwar nicht normstandardsprachlichen Status genießen, sich jedoch durch überregionale Gemeinsamkeiten wie diese unter Schweizerhochdeutsch (im soziolinguistischen Sinne standardisierter Varietäten; Begriffe werden hier durchgehend wie im Original kursiviert) zusammenfassen lassen. Drittens soll diese Erklärung im Rahmen der Generativen Grammatik (GG) erfolgen, die vom Autor als dafür besonders geeignet angesehen wird, da sie sowohl universelle Eigenschaften des Sprachsystems als auch dessen individuelle Ausprägung zum Gegenstand hat.

Als illustrierendes Beispiel für das Phänomen wird eingangs in Anlehnung an einen Beleg aus dem Zürcher Tages-Anzeiger (28.07.07; S. 37) folgender Satz gegeben: „Ihr Coup bedeutet der bislang grösste Moment im Schweizer Schwimmsport.“ (S. 19). Im Anschluss werden folgende Kernfragen formuliert (ebd.):

„In welchen Phänomenbereichen findet sich im geschriebenen Schweizerhochdeutsch ein Nominativ anstelle eines Normstandard-Akkusativs? Wie lässt sich die Grammatikalität solcher Nominativ-Varianten generativ erklären? Welche varietäre Kompetenz von Schreibern innerhalb der deutschsprachigen Schweiz wird so zum Ausdruck gebracht? Und: Wie lässt sich Generative Grammatik überhaupt als eine Theorie auffassen, die Grammatikkompetenz in Bezug auf die Varietäten einer Einzelsprache erfasst – als eigentliche Varietätengrammatik also?“

Somit besitzt die Arbeit drei Dimensionen: eine grammatische, eine varietätenlinguistische und eine generative; die Untersuchung basiert auf Daten aus einem „Korpus von rund 1.000 Belegen aus dem Schweizerhochdeutschen“, wobei nicht die quantitative, sondern die qualitativ-theoretische Analyse im Mittelpunkt steht (S. 14).

Die Arbeit ist in zwei weiter untergliederte Themenblöcke geteilt; im ersten Teil werden die theoretischen, varietätenlinguistischen und grammatischen Grundlagen erläutert (Grundannahmen der Generativen Grammatik; die DP-Theorie; Generative Grammatik als Varietätengrammatik; Varietäten der deutschsprachigen Schweiz; Phänomen Kasus); der zweite Teil behandelt die vorgenommenen Untersuchungen zur Variation von NOM und AKK („Kongruenzkasus-Konstruktionen“; Appositionen; qualifizierende Adjektive mit Maßbezeichnungen; Kasusformenvariation). Fazit und Ausblick, Bibliographie, Abbildungsverzeichnis und Quellenverzeichnis der Sprachbelege schließen das Buch ab.

Zum Inhalt der einzelnen Kapitel

Teil 1, „Fundierung“, beginnt mit dem Kapitel „Grundannahmen der Generativen Grammatik“. Zunächst werden die Begriffe Kompetenz und Performanz diskutiert und zu den strukturalistischen Termini Langue und Parole in Bezug gesetzt, deren wesentliche Merkmale sich in den kognitivistischen, nativistischen und individualistischen Grundannahmen der GG wiederfinden: Während die Langue den aufgrund angeborener Fähigkeiten individuell erworbenen Sprachkenntnissen entspricht, die man in der GG Kompetenz nennt, verweist der Begriff Performanz auf den „konkreten Sprachverwendungsmoment“ (S. 20), der sich bei de Saussure im Bereich der Parole befindet. Als nächstes werden die Komponenten des grammatischen Regelsystems in der GG beschrieben, wobei sich der Autor weitgehend auf Gallmann (1990) bezieht. Das verwendete generative Modell ist an das der Prinzipien & Parameter (Chomsky 1981 etc.) angelehnt, nicht an den Minimalismus der 90er Jahre (vgl. Chomsky 1995 etc.) oder an neuere Entwicklungen wie die Phasentheorie (Chomsky 2001 etc.), auf deren Neuerungen nur knapp hingewiesen wird. Diese Strategie scheint insofern legitim, als die technischen Feinheiten, die die Modelle unterscheiden, für die Erklärung des behandelten Phänomens nicht ausschlaggebend sind und diesen auch nicht widersprochen wird. Giger erklärt die Subkomponenten des generativen Systems (Lexikon, Syntax, PF und LF; S. 22), die auch noch in der heutigen GG grundlegend sind, und veranschaulicht die Interaktion von Lexikon und Morphosyntax anhand von Derivation, Komposition und Flexion des syntaktischen Wortes „LangschläfernN(Dativ Plural)“ (S. 30), wobei er sich wieder eng an Gallmann (1990) anlehnt. Gallmann (1990) bildet auch die Grundlage für weitere Ausführungen zur Syntax, wie z. B. bewege α, Barrieren, Θ-Rollen, Kasuszuweisung, Kommando-Beziehungen, Rektion und auch Bindung. Hier hätten m. E. einige Ausführungen weggelassen werden können, die in neueren Modellen nicht mehr angenommen werden und die für die hier angestrebte Erklärung nicht wesentlich sind. Jedoch stellt dieser Abschnitt, wie auch das darauffolgende Kapitel über die DP-Theorie, eine gelungene Zusammenfassung der Thesen von Gallmann (1990) dar, die vor dem Hintergrund der GB-Theorie entworfen wurden und die, entsprechend modifiziert, auch im minimalistischen Rahmen umgesetzt werden könnten. Eine solche Weiterführung wird in dieser Arbeit jedoch nicht thematisiert.

Bevor der Autor mit der Vorstellung der DP-Analyse beginnt, werden als Grundlage für spätere Ausführungen die Grundannahmen des P&P-Modells mit der Optimalitätstheorie (OT) in Beziehung gesetzt, biologische (nature) und kulturelle (nurture) Komponenten von Sprache verglichen sowie die semantische und pragmatische Kompetenz vor einem generativen Hintergrund beleuchtet (wiederum in Bezug auf die Saussure’schen Begriffe Langue und Parole). Wichtige Ergebnisse in Hinblick auf weitere Diskussionen sind die individuellen Ausprägungen von Langue und Parole („individuelle Langue“; S. 55), die biologisch und kulturell geprägt sind, sowie die Evaluator-Komponente, die durch die OT zur GG hinzugekommen ist.

Kapitel 3, „Die DP-Theorie“, stützt sich wiederum auf Gallmann (1990), dessen Theorie der kategoriell komplexen Wortformen Grundlage der später folgenden Kasus-Analyse ist. Auf Abney (1987), der hier zwar erwähnt, aber nicht im Literaturverzeichnis aufgeführt ist, wird ebenso wenig Bezug genommen wie auf einschlägige Arbeiten von Olsen (z. B. 1991) oder Haider (1992) zur DP im Deutschen. Diese sind zwar für die weiteren Ausführungen nicht unbedingt relevant, könnten aber an dieser Stelle sehr wohl erwartet werden. Nach einschlägigen Hinweisen auf die Parallelität funktionaler Kategorien im Nominalbereich (D-Elemente) zu denen im Satz (C- bzw. I-Elemente) wird die morphologische Selektion durch D erklärt (S. 63), die nach Gallmann (1990) aufgrund komplexer Kategorievererbung in manchen Fällen zu komplexen Wortformen führen kann: Pronomen (D/N) und Artikelwörter (D/A). Hierauf aufbauend können Generalisierungen wie die folgende gewonnen werden:

„Kasus-Übertragungsregel: Die Komponente D kann Kasusmerkmale nur dann auf die Komponente N übertragen, wenn D/N Teil einer Wortform mit adjektivischer Komponente ist.“ (S. 90; nach Gallmann 1990: 236)

Dies wird an folgenden Beispielen veranschaulicht (Nummerierung wie im Original):

(77) [DP1 ein Orchester [PP ohne [DP2 einen Dirigent-en ] ] ]

(78) [DP1 ein Orchester [PP ohne [DP2 Dirigent ] ] ]

(79) *[DP1 ein Orchester [PP ohne [DP2 Dirigent-en ]Singular ] ]

(80) [DP1 ein Orchester [PP ohne [DP2 Dirigent-en ]Plural ] ]

Während das Pluralaffix ohne Artikelwort unabhängig lizenziert ist (80), scheint das Kasusaffix von der Präsenz eines Artikelworts (also einer Kategorie D/A) abzuhängen. Gallmann (1990: 326) spricht hier von „Kasusindifferenz“.

Kap. 4 diskutiert die Frage der GG als Varietätengrammatik, dies ausgehend von einer allgemeinen Betrachtung der Termini Sprache, Varietät und Variation (S. 97ff.), wo wiederum auf die Begriffe der Langue und der Kompetenz Bezug genommen wird. Ebenso werden unterschiedliche Arten von Varietäten (bzw. Lekte), nämlich Dialekte und Soziolekte, aber auch Idiolekte, den sog. Standardvarietäten, Leitvarietäten oder auch Dachsprachen gegenübergestellt. Diese identifiziert der Autor als Elemente einer Langue wie auch als Elemente der Sprecherkompetenz. Somit können grammatische Varianten (wie auch andere Arten sprachlicher Variablen) Merkmale von Varietäten der Sprecherkompetenz darstellen, die generativ zu modellieren sind. Ebenso wird der gängige Irrtum diskutiert, dass die in der GG aus Gründen der Abstraktion oft vorgenommene Idealisierung des Sprechers/Hörers zugunsten einer homogenen Grammatikanalyse die Erklärung von Varianten erschwere; der Autor schlägt eine „schwache Homogenitätsannahme“ vor, die sich auf eine gemeinsame Kerngrammatik der Varietäten einer Einzelsprache beziehen soll (S. 109). Bezogen auf das sprachliche Wissen des individuellen Sprechers lässt dies die Produktion von Varianten in der Performanz eben dann zu, wenn diese Varianten zu dessen sprachlichem Wissen gehören. Verschiedene Ansätze generativer Varietätengrammatik werden diskutiert (u. a. CES – coexistent systems; Kanngießer 1972) und schließlich das Konzept makro- und mikroparametrischer Variation (u. a. Baker 2001) ausführlich dargestellt. Giger räumt ein, dass diese Betrachtung der Variation stark vom minimalistischen Programm geprägt sei, wo diese Parameter auf eine größere Anzahl funktionaler Kategorien bezogen werden können als im CP-IP- bzw. DP-Modell der GB-orientierten GG. Seine Entscheidung, die Modellierung nicht im minimalistischen Rahmen vorzunehmen, begründet er damit, dass nur im GB-Rahmen Fragen wie die für ihn zentrale Kasuszuweisung einen Schwerpunkt bilden (S. 121). Durch eine Diskussion des minimalistischen Konzepts der interpretierbaren und nicht-interpretierbaren Merkmale (zu Letzteren gehören auch die strukturellen Kasus NOM und AKK) wird jedoch gezeigt, dass der hier verfolgte Ansatz mit minimalistischen Annahmen kompatibel ist. Nach der Veranschaulichung der mikroparametrischen Variation anhand einschlägiger Beispiele wird in einer kurzen Vorausschau demonstriert, wie diese Variation in einem Modell mit Kasuszuweisung auf die Alternation von NOM und AKK als Kongruenzkasus bezogen werden kann.

Kap. 5 geht auf die Dialektlandschaft der deutschsprachigen Schweiz ein, wobei zunächst eine grobe Unterteilung in kodifizierten Standard, Gebrauchsstandard und Nonstandard (S. 137ff.) erfolgt. Wieder wird auf die GG eingegangen und gezeigt, dass die Möglichkeit der Bildung einer Einzelsprache zwar in der UG angelegt ist, nicht aber deren Ausprägung; insbesondere durch die Parameterhierarchie sei die Koexistenz von Varietäten bzw. von Varianten, die jene manifestieren, im sprachlichen Wissen sogar wahrscheinlich. Kodifizierung bzw. Konventionalisierung eines Gebrauchsstandards schränkt diese ein und definiert auch diejenigen Varianten, die vom Standard abweichen: „Der Nonstandard lässt sich also in einem ersten Schritt ex negativo definieren“ (S. 152). In Anlehnung an Dürscheid & Businger (2006) wird nun gezeigt, wie in der für die Deutschschweiz prägenden Polyglossiesituation die Interferenz dialektaler und diastrataler Varietäten zu verschiedenen Ausprägungen Schweizer Umgangssprache im „schweizerhochdeutschen Kontinuum“ führt: standardferne schweizerhochdeutsche Umgangssprache, standardnahe schweizerhochdeutsche Umgangssprache, schweizerhochdeutscher Gebrauchsstandard und schließlich deutschschweizerischer Normstandard. So wie horizontale Interferenzen zu überregionalen Umgangssprachen führen können, gibt es bidirektionale vertikale Interferenzen, durch die sich die verschiedenen Ebenen des Schweizerhochdeutschen gegenseitig beeinflussen. Die hier behandelte Kasusvariation lässt sich in allen Varietäten des Schweizerhochdeutschen finden, außer im kodifizierten Standard.

Im letzten Kap. von Teil 1 wird nun noch auf das Phänomen Kasus im Allgemeinen eingegangen. Zunächst werden in Anlehnung an Dürscheid (1999) die verschiedenen Dimensionen des Kasusbegriffs unterschieden: grammatische Kategorienklasse, Kasusform, grammatische Einheit (i. e. eine kasusmarkierte Phrase); als nächstes wird der Begriff des abstrakten Kasus diskutiert, und zwar insbesondere in Hinblick auf koverte Kasusmarkierung (i. e. fehlende morphologische Kennzeichnung) und Kasusindifferenz (z. B. im Falle von [DP1 ein Orchester [PP ohne [DP2 Dirigent ] ] ], s. o. S. 78). Nicht ganz einleuchtend erscheint hier die Aussage, Sprachen würden sich in der Anzahl abstrakter Kasus unterscheiden (S. 175). Hier nimmt der Autor Bezug auf Blake (1994) sowie Haspelmath (2009) und das Konzept der core cases und peripheral cases, wobei sich Letztere dadurch auszeichnen, dass sie „nicht nur grammatisches Merkmal sind, sondern gleichzeitig auch in Bezug zu (...) einer thematischen Rolle stehen“ (ebd.). Gerade die Tatsache, dass sich im Sprachvergleich vor allem Letztere als entweder morphologisch oder syntaktisch, durch Partikeln bzw. Präpositionen, markiert herausstellen, zeigt doch, dass es nicht die Anzahl abstrakter Kasus sein kann, durch die sich die Sprachen unterscheiden, sondern lediglich die Anzahl morphologischer Kasus. Diese Frage ist jedoch nicht von Belang für die Richtigkeit der hier weiterverfolgten Unterscheidung von semantisch interpretierbaren und nicht-interpretierbaren Kasus; zu den Letzteren gehören die bei Giger behandelten strukturell vergebenen Kongruenzkasus in der DP, die weder der Markierung der syntaktischen Funktion (S. 198ff.) noch der thematischen Rolle (S. 203ff.) noch der Fokus-Hintergrund-Gliederung (S. 213ff.) dienen.

Um zu Teil 2 der Arbeit überzuleiten, bespricht Giger die für die folgende Analyse relevante Default-Kasuszuweisung sowie die Grundlagen der Kasusvariation. Im Deutschen ist der Kasus NOM derjenige, der zum einen sowohl formal als auch funktional am wenigsten markiert ist, des Weiteren dann verwendet wird, „wenn weder ein struktureller noch ein inhärenter, semantischer oder Kongruenzkasus auftritt“ (S. 221). Dies ist nicht in allen Sprachen gleich – im Englischen ist dies z. B. der AKK (Me, I like beans., S. 222; vgl. Schütze 2001: 210). Giger spricht hier von einer Kasus-Selbstzuweisung: „Quelle des DefKas ist der funktionale D°-Kopf. Er trägt ein Merkmal [DefKas] und fungiert als Kasuszuweiser an seine maximale Projektion DP.“ (S. 227)

(192) Definition Default-Kasus(DefKas) (S. 229)

DefKas ist ein abstrakter Kasus der Sprache Lx. Sein strukturelles Merkmal ist es, dass er in Form von Kasus-Selbstzuweisung von D° an DP übertragen wird gdw. der DP von außen kein anderer Kasus zugewiesen wird. Kategoriell wird er durch einen bereits vorhandenen Kasus der Sprache Lx repräsentiert. Die Möglichkeit zur Verwendung von DefKas ist ein UG-Prinzip (...) (und) unterliegt einzelsprachlicher Parametrisierung.

Diese etwas umständlich und wenig formell wirkende Definition trifft doch recht präzise, was man unter einem Default-Kasus verstehen kann. Im Folgenden wird die Typologie der Kasusvariation aus Dürscheid & Giger (2010: 171; nach Jacobs 2007: 45) aufgenommen:

(193) Typen von Kasusvariation (S. 232)

(a) disambiguierende Variation

(b) konstruktionsbedingte Variation

(c) freie Variation

(d) systembedingte Variation

Disambiguierende Variation gibt es z. B. bei sog. Wechselpräpositionen (Richtung vs. Ort); konstruktionsbedingte Variation tritt in Fällen wie Beispiel (78) (s. o.) auf (Kasusindifferenz im Falle einer DP ohne „adjektivischen Katalysator“; S. 233). Als Beispiel für freie Variation wird hier die manchmal optional verwendete Dativmarkierung nach Präpositionen genannt (für einen Dirigent(en)). Systembedingte Variation liegt schließlich vor, wenn sie Merkmal von Varietäten eines Systems ist.

Teil 2, „Untersuchungen zu Nominativ und Akkusativ“ (im Schweizerhochdeutschen), beginnt nun mit der Analyse von Kongruenzkasuskonstruktionen und widmet sich insbesondere den Fragen, ob es sich lediglich um Kasusformenvariation handeln könnte oder ob die Variation der Kasuskategorie vorliegt – was wiederum nach strukturbedingtem NOM oder DefNom (= Default-Nominativ) zu differenzieren wäre. Erstere Frage ist bezüglich der NOM-AKK-Variation insbesondere deshalb relevant, weil in der Literatur wiederholt festgestellt wurde, dass in bestimmten Varietäten des Schweizerdeutschen die formale Unterscheidung von NOM und AKK aufgegeben worden sei. Dass dies generell der Fall wäre, wird von Giger jedoch zurückgewiesen, da in den betreffenden Phänomenbereichen sowohl semantische als auch pragmatische Funktionen dieser Variation festzustellen seien. Im Normstandard tritt Kongruenzkasusvariation in AcI-Gefügen und in als-Konjunktionalphrasen auf (S. 242f.):

(202) Sie lässt [DP1 ihn]AKK [DP2 ihren Freund]AKK / [DP2 ihr Freund]NOM sein.

(203) Er empfindet sich als [DP2 guter Freund]NOM / [DP2 guten Freund]AKK

Im schweizerhochdeutschen Gebrauchsstandard (wie auch in der Umgangssprache) findet sich zudem Variation bei Objektsprädikativen (auch bei als‑Objektsprädikativen) sowie bei als-Adverbialen und als-Appositionen, wie folgende Belege zeigen (S. 243):

(204) Man nennt ihn auch der kleine Amarone. (Speisekarte Hostellerie Geroldswil-Zürich, 8.5.08)

(205) Er betrachtet die Münchner als einer der Topfavoriten der Champions League (...).(Tages-Anzeiger, Zürich, 17.12.11, S. 68)

(206) Als kleiner Vorgeschmack erhalten Sie in der Beilage den aktuellen Top-Value Prospekt von HP. (Werbebrief, 23.04.02)

(207) (...) einen Holzbau, was ihn als ehemaliger Schreiner besonders freute. (www.tagblatt.ch; 9.5.09)

In Anlehnung an Stowell (1981) und Basilico (2003) analysiert der Autor diese Konstruktionen als small clauses (SC), also als Phrasen mit propositionaler Interpretation ohne eigene vollständige Finitheitsspezifikation, deren Spezifikatoren und Komplemente via Kongruenz auch nach Bewegungsprozessen beide den Kasus tragen sollten, der dem SC entweder durch das übergeordnete I° (NOM) oder ein einbettendes Verb (AKK) zugewiesen wurde (S. 250f.). Hierbei nimmt er Bezug auf die Diskussion des semantischen Beitrags der Kopula zur Interpretation des Gesamtausdrucks von Prädikativkonstruktionen (S. 251) und das minimalistische Konzept des feature sharing (S. 253) sowie auf die Diskussion vergleichbarer isländischer Daten in Anlehnung an Sigurðsson (1991). Das Kapitel über Kongruenzkasuskonstruktionen endet mit einer recht interessanten Erörterung des Phänomens vor dem Hintergrund der Hypothese mikroparametrischer Variation, indem wiederum verschiedene Dimensionen der Standardisierung sowie das Vorkommen der Kasusvariation in den Standardvarietäten verglichen werden (S. 269ff.); hieraus folgert Giger das Wirken eines mikroparametrischen Merkmals [-KonKas] (kein Kongruenzkasus) als varietäre Konstruktionsbedingung.

Kap. 8 untersucht das Auftreten des Phänomens in Appositionen, zunächst in sog. lockeren Appositionen, deren syntaktische, semantische und auch prosodische Besonderheiten anhand von Beispielen aus dem bundesdeutschen Standard demonstriert werden. Die Konstruktionen werden wiederum als SCs analysiert, diesmal mit PRO-Subjekten (S. 285f.), und es erfolgt eine vergleichende Betrachtung des Schweizerhochdeutschen, wo im Gegensatz zum Schweizer Standard auch in Appositionsphrasen mit Artikelwort Kasusvariation stattfinden kann.

(357) Der Regierungsrat wählt [...] Dr. Eugen Gruber, der bekannte Verfasser zahlreicher historischer Publikationen. (www.rav-zg.ch/index.php?id=19; 12.12.11)

Im Anschluss werden partitive Appositionen vom Typ zwei Tassenschwarzen Kaffees/von schwarzem Kaffee/schwarzen Kaffee untersucht, wo im Schweizerhochdeutschen ebenfalls Variation herrscht (S. 300):

(357) Also trank ich mit Vergnügen eine Tasse heißer Tee im Pass-Restaurant. (www.schleppi.ch/patrick/cycle/tours/t1995-de.htm; 1.1.15)

Wiederum erfolgt eine SC-Analyse unter Annahme eines mikroparametrischen Merkmals [-KonKas] als varietärer Konstruktionsbedingung (S. 301).

Kap. 9 beschäftigt sich hierauf mit qualifizierenden Adjektiven mit Maßbezeichnungen, für die eine kompositionelle Analyse vorgeschlagen wird (S. 305).

(370) Propositionale Struktur von Der Würfel ist einen Kubikmeter groß:

Proposition 1: ‘Der Würfel ist groß.’

Proposition 2: ‘Dabei ist/beträgt seine Größe einen Kubikmeter.’

Hierdurch eröffnet sich wieder die Möglichkeit der SC-Analyse, bei der Kasusvariation als Konstruktionsvariation betrachtet werden kann.

(386) Die etwa ein Meter hohe Ballerina aus Bronze trägt [...].(www.nzz.ch, 2.11.11)

Hier schließt sich die Analyse einer im schweizerhochdeutschen Gebrauchsstandard ebenfalls auftretenden Kasusformenvariation an (Kap. 10), die direkte Objekte betrifft:

(402) Mit Evdokia Kadi schickt Zypern ein wahrer Vamp an den ESC. (www.20minuten.ch; 23.5.08)

Es erfolgt eine Erklärung mit Bezug auf die Θ-Theorie sowie auf informationsstrukturelle Merkmale: Der Autor versucht zu zeigen, dass diese Formenvariation dann auftritt, wenn ein direktes Objekt auch Proto-Agens-Merkmale im Sinne von Dowty (1991) trägt (S. 326) und/oder wenn dadurch Defokussierung angezeigt wird (S. 330). Zuletzt erfolgt in diesem Kapitel eine OT-Analyse von Varianten partiell ‚nominativischer‘ AKK-DPs folgenden Typs:

(435) Einen guter Ratgeber für den Anfänger habe ich mit dieser Internetadresse gefunden.

Der Gewinn dieses Kapitels ist ganz offensichtlich, dass weitere Phänomenbereiche, in denen Kasusvariation vorkommt, zwar nicht als Kategorienvariation zu erklären sind, sich jedoch durch unabhängige Erklärungen motivieren lassen. Somit ist die Kasusvariation im Schweizerhochdeutschen nicht einfach grundsätzlich freie Variation der strukturellen Kasusformen oder gar Anzeichen für den Verlust der Unterscheidung von Subjekts- und Objektskasus, sondern ein oberflächlich zwar einheitliches Phänomen, das jedoch in verschiedenartigen Konstruktionen auftritt, für die es jeweils unterschiedliche strukturelle Erklärungen geben kann.

Insgesamt lässt sich festhalten: Das Ziel, die NOM-AKK-Variation als Eigenheit der überregionalen Schweizer Varietät Schweizerhochdeutsch im Rahmen der GG zu erklären, ist m. E. in dieser Arbeit erreicht worden. Der Autor argumentiert schlüssig dafür, dass in diesen Varietäten nicht einfach die Unterscheidung zwischen den beiden strukturellen Kasus verloren geht. Vielmehr ist in Form von mikroparametrischer Variation konstruktionsspezifisch zum einen die Realisation der Kongruenzkasusmerkmale in anderer Weise eingeschränkt als in der Standardvarietät; zum anderen gibt es, wie im Fall der Verwendung des Nominativs als Komplementkasus, davon unabhängige Erklärungen für die Variation. Zwar kann man hinsichtlich verschiedener Analysen anderer Ansicht sein (so ist z. B. die SC-Analyse für die hier besprochenen Kongruenzkasus-Konstruktionen nicht unabhängig als die geeignetste, vereinheitlichende Strukturanalyse motivierbar), doch ist der Ansatz originell, innovativ und im Großen und Ganzen sorgfältig und schlüssig begründet und stützt sich (wenngleich, wie oben angemerkt, bisweilen nicht ganz umfassend) auf die einschlägige Literatur zu den jeweiligen Teilaspekten. Die Arbeit ist informativ und ansprechend ausgearbeitet; in jedem Fall wird sie für alle, die sich mit den Themen Varietätengrammatik, Plurizentrik, parametrische Variation und Nominalsyntax befassen, eine gewinnbringende Lektüre sein.

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Published Online: 2017-1-20
Published in Print: 2017-12-4

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 29.11.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2017-0004/html
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