Skip to content
BY-NC-ND 3.0 license Open Access Published by De Gruyter June 29, 2017

Britta Wendelstein. 2016. Gesprochene Sprache im Vorfeld der Alzheimer-Demenz: Linguistische Analysen im Verlauf von präklinischen Stadien bis zur leichten Demenz. Heidelberg: Universitätsverlag Winter. 199 S.

  • Peter Muntigl EMAIL logo

Reviewed Publication:

Britta Wendelstein. 2016. Gesprochene Sprache im Vorfeld der Alzheimer-Demenz: Linguistische Analysen im Verlauf von präklinischen Stadien bis zur leichten Demenz. Heidelberg: Universitätsverlag Winter. 199 S.


Dieses Buch befasst sich mit der Frage, wie linguistische Analysen gesprochener Sprache als diagnostische Hilfsmittel dienen könnten, um präklinische Stadien bis zur leichten Demenz zu identifizieren. Da es bisher sehr wenig Forschung zu sprachlichen Veränderungsprozessen gibt, die längere Zeitspannen, bestenfalls beginnend mit einem nicht pathologischen Zustand, umfassen, sind die Fragen und Ziele dieser Studie innovativ und einzigartig.

In Kapitel 1 wird erläutert, warum die gesprochene Sprache besonders aufschlussreich sein könnte für die Beschreibung von Sprachveränderungs- und schließlich Sprachabbauprozessen im Zuge einer Alzheimer Demenz (AD). Die vorliegende Studie richtet ihr Augenmerk auf biographische Interviews aus der ILSE-Studie, einer prospektiven Längsschnittstudie, die 1002 Probanden aus den Geburtsjahrgängen 1930–1932 und 1950–1952 einschloss. Es wird dargelegt, dass das sprachliche Verhalten von Probanden Hinweise auf die Kommunikationsfähigkeit und kognitive Verarbeitung geben kann.

In Kapitel 2 legt dar, inwiefern physische neuronale Abbauprozesse eine negative Auswirkung auf Sprache und Kognition haben. Die frühesten Studien beschäftigten sich mit Schädigungen bzw. Läsionen in spezifischen Hirnarealen und den daraus folgenden Aphasiebedingten Sprachstörungen, die von Broca und Wernicke bereits im 19. Jahrhundert untersucht wurden. Ausgehend von diesen frühen Studien wurde die Forschung durch die Hypothese geleitet, dass abgegrenzten Hirnarealen jeweils eine bestimmte Sprachfunktion zugeordnet werden kann. Die Autorin weist auf folgende Unterschiede zwischen Sprachabbauphänomenen bei Aphasie und AD hin: Zum einen treten Sprachprobleme bei Aphasien plötzlich auf, meistens hervorgerufen durch einen Schlaganfall, während sie bei AD-Erkrankten meist schleichend beginnen. Zweitens verschlechtert sich die Kommunikationsfähigkeit bei AD-Patienten, während sich bei Aphasie-Patienten die Sprachfähigkeit mit der Zeit verbessert. Drittens sind die Probleme bei einer Aphasie überwiegend sprachbezogen, während die Probleme bei AD auch sehr stark allgemein kognitive Verarbeitungsprozesse betreffen. Um dem neuropsychologischen Verarbeitungsprozess bei der Sprachproduktion und -rezeption Rechnung zu tragen, zieht die Autorin das Sprachproduktionsmodell von Friederici und Levelt (1988) heran, das ihr als Grundlage für die Erklärung des Sprachprozesses dient. In dem Modell werden Äußerungen formuliert, pragmatisch-konzeptuell verarbeitet und zergliedert. Zunächst widmet sie sich der Frage, welche Aspekte der gesprochenen Sprachproduktion besonders wichtig für die Analyse des sprachlichen Abbauprozesses bei AD-Erkrankten sind. Sie entscheidet sich für die Aspekte, die häufig in der Literatur behandelt werden: Lexik, Syntax und Aspekte der Pragmatik. Die lexikalische Ebene schließt hauptsächlich die Reichhaltigkeit des Wortschatzes und die Wortartenhäufigkeit ein. Die syntaktische Ebene umfasst die syntaktische Struktur; die pragmatische Ebene die inhaltliche Dichte, referenzielle Bezüge und Kohäsion.

In Kapitel 3 beschreibt Wendelstein den klinischen Verlauf und die kognitiven Symptome bei AD, der häufigsten demenziellen Erkrankung (andere Demenzformen sind z. B. vaskuläre Demenz, frontotemporale Demenz und Lewy-Körper-Demenz). Wie die Autorin zu Beginn des Kapitels betont, unterscheidet sich eine AD bedeutend von einem normalen kognitiven Alterungsprozess. AD ist eine primär degenerative neurologische Erkrankung mit einem chronischen, nicht umkehrbaren, progressiven Verlauf, die nicht mit Altersvergesslichkeit gleichzusetzen ist. Eine Palette von Kriterien wird mit AD assoziiert. So werden Probleme in Bezug auf Gedächtnis, visuell-räumliche Verarbeitung, exekutive Funktionen und Sprache oft als zentrale Kriterien einer AD gesehen. Darüber hinaus können psychologische Begleitsymptome wie Depression und Apathie zum Vorschein kommen. Eine leichte kognitive Beeinträchtigung/LKB gilt oft als Vorstufe der AD. Die Autorin listet auch eine Reihe von protektiven Faktoren auf, die kompensatorisch auf die Leistungsfähigkeit von Personen mit AD wirken können. Diese Faktoren sind zum Teil biologisch (z. B. genetische Disposition, Geschlecht, Hirnvolumen) und zum Teil sozial/umweltbedingt/individuell bedingt (z. B. Bildungsstand, körperliche Aktivität, kognitive Aktivität, Ernährungsverhalten) und haben eine beeinflussende Wirkung auf die kognitive Reserve, die Fähigkeit des Gehirns, neurophysiologische Abbauprozesse zu kompensieren.

Kapitel 4 bietet einen Überblick über die bisherigen internationalen und deutschsprachigen Studien zu sprachlichen Auffälligkeiten, die im Verlauf einer leichten bis moderaten AD auftreten. Auf der lexikalischen Ebene sind zum Beispiel Wortfindungsstörungen, eine Reduktion des Wortschatzes und ein ungewöhnlicher Wortartengebrauch zu beobachten. Auf der syntaktischen Ebene treten häufiger Satzabbrüche und Schwierigkeiten mit komplexen Sätzen auf. Auch scheint die Produktion kürzerer Sätze erheblich erschwert. Auf der pragmatischen Ebene ist die Sprache durch einen niedrigeren propositionalen Gehalt gekennzeichnet, ebenso wie durch Defizite bei der Gestaltung referenzieller Bezüge und die mangelnde Verwendung von Konnektoren. Laut Wendelstein sind pragmatische Defizite „Schwierigkeiten, Äußerungen so zu gestalten, dass der Hörer sie verstehen kann, also Probleme, sich an die Bedürfnisse des Hörers anzupassen“ (S. 59). Wie die Autorin weiter ausführt, können pragmatische Probleme in den folgenden Situationen auftreten: a) bei inadäquaten Mengen an durch Sprache transportierter Information; b) bei fehlender Eindeutigkeit von sprachlichen Ausdrücken bei der Wahl referenzieller Bezüge; c) bei mangelnder Adäquatheit von Antworten; d) bei Schwierigkeiten im Beibehalten eines „roten Fadens“ im Sinne kohärenten Erzählens. Mögliche Ursachen der Sprachdefizite bei AD werden ebenfalls diskutiert. Zum Beispiel könnten die Schwierigkeiten bei der Verwendung von Pronomen und bei der Produktion von komplexen Sätzen mit einer Beeinträchtigung der Arbeitsgedächtnisleistung in Verbindung gebracht werden. Eine andere Erklärung für die Defizite auf der pragmatischen Ebene könnte sein, dass das gegenseitige Verstehen beeinträchtigt ist, „nämlich die Fähigkeit des Sprechers, die Perspektive des Hörers einzunehmen“ (S. 63f.) Im Forschungsüberblick des vierten Kapitels werden nur kernlinguistische Bereiche berücksichtigt. Studien, die sich mit Interaktion und Diskursanalyse beschäftigen, wurden außer Acht gelassen (siehe aber Davis & Guendouzi 2014; Schrauf & Müller 2014). Die Interaktion zwischen AD-Erkrankten und anderen Personen (z. B. Familienmitgliedern, pflegerisches Personal) ist aber eine besonders wichtige analytische Ebene, insbesondere, da damit ein Einblick gegeben werden kann, wie Probleme des Verstehens zustande kommen, aber auch, wie sie dann gelöst werden (oder nicht). Wie Deppermann (2008: 74) schon argumentiert hat, stellt der sequentielle Ablauf von mehreren Handlungen

„die systematische Grundstruktur der Herstellung von Intersubjektivität im Gesprächsverlauf dar: die Gesprächsteilnehmer [...] zeigen einander, wie sie die Interpretation des Gesprächspartners verstanden haben und ob diese im Einklang mit der eigenen ist.“

Die Beispiele von AD-Probanden in Wendelsteins Buch zeigen jedoch lediglich, wie diese Personen über ihre sprachlichen bzw. kognitiven Schwierigkeiten berichten bzw. wie bestimmte Sprachdaten von AD-Probanden atypisch oder defizitär sein könnten, aber nicht, inwieweit gewisse Äußerungen ein Problem für den Hörer darstellen und wie die Sprecher das Problem des Verstehens zu beseitigen versuchen.

In Kapitel 5 werden die Zielsetzungen, Fragestellungen und Hypothesen der Studie konkretisiert. Diese richten sich auf die lexikalische, grammatikalische und pragmatische Ebenen der gesprochenen Sprache. Das zentrale Ziel wird von der Autorin folgendermaßen beschrieben:

„aus den semistandardisierten Interviews der ILSE-Probanden prototypische Indikatoren für einerseits Alternsprozesse und andererseits die Entwicklung einer AD auf der sprachlichen Oberfläche zu identifizieren.“ (S. 69)

In Kapitel 6 werden die Daten der ILSE-Studie und das methodische Vorgehen vorgestellt. Bei den Probanden handelt es sich um Personen der Geburtsjahrgänge 1930–1932, die Testung erfolgte in einem Zeitraum von zwölf Jahren zu drei Messzeitpunkten (T1, T2, T3). Von 500 Teilnehmern entwickelten 26 Probanden eine AD in T3. Für die Stichprobe wurden acht AD-Probanden herangezogen, wobei nur fünf Biointerviews in T3 vorlagen. Zum Zeitpunkt T1 waren alle Probanden gesund, in T2 lag bei fünf eine LKB (i. e. leichte kognitive Beeinträchtigung) vor. Als Vergleichsgruppe dienten Probanden, die zum Messzeitpunkt T3 gesund waren. Die linguistischen Analysen wurden anhand von Transkriptionen von biographischen Interviews im Sinne von semi-standardisierten Leitfadeninterviews durchgeführt. Der nächste methodische Schritt bestand in der Erstellung von Korpora, die sowohl eine quantitative als auch eine qualitative Analyse ermöglichten. Die Bewertung der Signifikanz aller Ergebnisse erfolgte mit Hilfe von statistischen Analysen.

In Kapitel 7 werden die Ergebnisse präsentiert, also die Ergebnisse der lexikalischen, grammatikalischen und pragmatischen Untersuchungen, die signifikant, tendenziell bzw. nicht signifikant waren. Kapitel 8 schließt an mit einer Diskussion der Ergebnisse. Es konnten signifikante Unterschiede zwischen AD-Probanden und Kontrollprobanden festgestellt werden, insbesondere hinsichtlich der Verwendung von Konnektoren und der inhaltlichen Dichte der gesprochenen Sprache. Im Vergleich waren die Unterschiede auf der lexikalischen und syntaktischen Ebene eher marginal. Wie die Autorin hier darlegt, waren beim zeitlichen Verlauf der AD auch signifikante Unterschiede zu erkennen. Obwohl ein Rückgang der lexikalischen Reichhaltigkeit und Veränderungen beim Wortartengebrauch beobachtet werden konnte, zeigten sich keine signifikanten Veränderungen auf der syntaktischen Ebene. Zugleich aber konnte von der Autorin auf pragmatischer Ebene eine Veränderung bei der Verwendung komplexer Konnektoren festgestellt werden.

Kapitel 9 und 10 fassen die wichtigsten Ergebnisse zusammen und listen einige pragmatische Implikationen der Studie auf, wie zum Beispiel, dass die identifizierten linguistischen Phänomene eine entscheidende Rolle in der Frühdiagnostik von AD spielen können, was möglicherweise zu einer Verlangsamung oder gar einer Verhinderung der Konversion von LKB zu AD führt. Der Autorin zufolge könnten die Ergebnisse dieser Studie auch die Qualität der Kommunikation zwischen AD-Erkrankten und anderen Personen in ihrem Umfeld verbessern und dadurch Missverständnisse in Grenzen halten und dem hohen Leidensdruck, der oft mit dieser Krankheit verbunden ist, entgegenwirken.

Zusammenfassend lässt sich eine positive Bilanz ziehen: Die Studie wirft einen innovativen Blick darauf, wie sich Sprachabbauphänomene über einen längeren Zeitraum in präklinischen Stadien bis zur leichten Demenz entwickeln. Ein weiterer und notwendiger Schritt würde die Interaktionsebene einschließen, um beobachten zu können, ob und wie lexikalische, syntaktische und pragmatische Marker tatsächlich Verstehensprozesse im Gespräch beeinträchtigen. Da es bereits Studien gibt, die aus der Perspektive der Konversationsanalyse unterschiedliche interaktive Profile von Personen mit AD und Personen mit einer funktionellen Gedächtnisstörung beschreiben (Elsey u. a., 2015; Jones u. a., 2015), wäre es nur von Vorteil, wenn die Interaktionsebene auch in der Frühdiagnostik in Betracht gezogen würde.

Literatur

Davis, Boyd H. & Guendouzi, Jacqueline A. (Hg.). 2014. Pragmatics in Dementia Discourse. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing.Search in Google Scholar

Deppermann, Arnulf. 2008. Gespräche analysieren: Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS.10.1007/978-3-531-91973-7Search in Google Scholar

Elsey, C., Drew, Paul, Jones, Danielle, Blackburn, Daniel, Wakefield, Sarah, Harkness, Kirsty, Venneri, Annalena & Reuber, Markus. 2015. Towards diagnostic conversational profiles of patients presenting with dementia or functional memory disorders to memory clinics. In: Patient Education & Counseling 98, 1071–1077.10.1016/j.pec.2015.05.021Search in Google Scholar

Friederici, Angela & Willem Levelt. 1988. Sprache. In: Klaus Immelmann, Klaus Scherer, Christian Vogel & Peter Schmoock (Hg.). Psychobiologie: Grundlagen des Verhaltens. München: Psychologie-Verlags-Union, 648–671.Search in Google Scholar

Jones, Danielle, Drew, Paul, Elsey, Christopher, Blackburn, Daniel, Wakefield, Sarah, Harkness, Kirsty & Reuber, Markus. 2015. Conversational assessment in memory clinic encounters: interactional profiling for differentiating dementia from functional memory disorders. In: Aging & Mental Health 20, 500–509.10.1080/13607863.2015.1021753Search in Google Scholar

Schrauf, Robert W & Nicole Müller (Hg.). 2014. Dialogue and Dementia. Cognitive and Communicative Resources for Engagement. New York: Psychology Press.10.4324/9781315851747Search in Google Scholar

Published Online: 2017-6-29
Published in Print: 2017-12-4

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

This article is distributed under the terms of the Creative Commons Attribution Non-Commercial License, which permits unrestricted non-commercial use, distribution, and reproduction in any medium, provided the original work is properly cited.

Downloaded on 28.3.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2017-0014/html
Scroll Up Arrow