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Jana Reissen-Kosch. 2016. Identifikationsangebote der rechten Szene im Netz. Linguistische Analyse persuasiver Online-Kommunikation (Sprache – Politik – Gesellschaft 19). Bremen: Ute Hempen. xi, 199 S.
Jana Reissen-Koschs 2016 im Verlag Ute Hempen erschienene Studie ist die überarbeitete Version ihrer Dissertation aus dem Jahr 2015. Den Anlass für die Themenstellung lieferte das (Wieder-)Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremer Bewegungen in Deutschland, was die auch für die Sprachwissenschaft und deren Teilbereich „Sprache und Politik“ interessante Frage aufwirft, worin deren Erfolg begründet ist. Die Autorin äußert diesbezüglich die nachvollziehbare Vermutung, dass Rechtsextremisten bestimmte Kommunikationsstrategien verwenden, um Anhänger von ihren ideologischen Einstellungen zu überzeugen und sie durch Identifikationsangebote für sich zu gewinnen. Dazu nutzen sie in den letzten Jahren insbesondere die Möglichkeiten des Internets, über das vor allem Jugendliche in zunehmendem Maße zu erreichen sind.
Ausgehend von der Annahme, dass rechtsextremistische Gruppierungen kommunikationsstrategisch den Grundprinzipien von Werbung, PR und politischer Propaganda folgen, setzt sich Reissen-Kosch das Ziel, die spezifische Umsetzung dieser Prinzipien durch Rechtsextremisten zu analysieren. Der wesentliche Punkt in ihrer Arbeit besteht in einer empirischen Untersuchung rechtsextremistischer Internetauftritte, in der für diese signifikante Gestaltungskategorien und Formen des Besetzens von Wertewelten analysiert werden. Als Ergebnis soll transparent werden, auf welche Weise Rechtsextremisten andere anzusprechen und zu interessieren versuchen. Zwar schränkt die Autorin ein, dass es sich dabei nur „um eine Pilotstudie“ (S. xi) handle, im Zuge derer sie einen neuen Analyseansatz entwickelt, jedoch erweist sich gerade die Erprobung der empirischen Methodik als besonders spannender Aspekt der Arbeit.
Im ersten Abschnitt der Arbeit werden die „Genres“ (S. 1) Werbung, PR und Propaganda und die Übernahme von Marketing-Strategien in die Politik (Kap. 1.2) diskutiert sowie der Begriff der persuasiven Kommunikation erläutert. Dazu ist anzumerken, dass die Abgrenzung von Überzeugen und Überreden bzw. von Persuasion und Manipulation zwar durchaus gelingt, es fehlt jedoch einerseits ein Verweis auf Ortak (2004), wohl das Standardwerk zum Thema Persuasion im deutschsprachigen Raum, und andererseits wird davon ausgegangen, dass die typischen Strategien persuasiver Kommunikation stets auf das Überreden oder Überzeugen ‚Andersgläubiger‘ abzielen. Dies entspricht zwar dem allgemeinen Verständnis von Persuasion, gerade bei den im empirischen Teil der Arbeit analysierten Kommunikaten von Rechtsextremen stellt sich aber die Frage, ob sie nicht zumindest auch zur Verstärkung bereits vorhandener Einstellungen und so zur Intensivierung der Gruppenbindung bereits Überzeugter dienen sollen. Wenn dies an anderer Stelle (z. B. S. 34) auch anklingt, so fehlt dem Rezensenten eine differenziertere Thematisierung dieser weiteren Intentionen hinter der Verwendung sprachlicher Mittel der Persuasion.
In den Kapiteln 1.2 und 1.3 wird prägnant dargestellt, wie und warum moderne politische Kommunikation in demokratischen Systemen Marketing-Strategien übernommen hat. Dabei wird festgestellt, dass eine zielgruppenorientierte Kommunikationspolitik im politischen Feld von noch größerer Bedeutung ist als in der Wirtschaft (S. 11). Die Zielgruppendefinition und -orientierung rechtsextremer Kommunikation wird in der Folge (siehe v. a. Kap. 3.2) denn auch als grundlegender Ausgangspunkt für die Analyse herangezogen.
Im letzten Teil des ersten Kapitels wendet sich die Autorin den neuen Möglichkeiten der Kommunikation zu, die das Internet bietet. Die Darstellung ist soweit überzeugend, wie sie sich auf die schon länger vorhandenen Affordanzen des World Wide Web beschränkt. Neuere Entwicklungen hin zum Web 2.0 werden hingegen kaum berücksichtigt. Diese Einschränkung ist zwar einerseits folgerichtig, weil in der Arbeit nur herkömmliche Websites von rechtsextremen Gruppierungen analysiert werden[1], andererseits werden so die neuesten Strategien politischer Kommunikation im Internet nicht erfasst.
In Kapitel 2 folgen Überlegungen zum Rechtsextremismus und dessen spezifischen Kommunikationsstrategien. Als zentrales ideologisches Kennzeichen wird ein hierarchisch geprägtes Menschen- und Gesellschaftsbild nationalistischer und rassistischer Ausprägung angenommen (S. 20f.), das auch die Grundlage des Nationalsozialismus bildete. Reissen-Kosch zeigt aber nicht nur diese ideologischen Zusammenhänge auf (Kap. 2.3), sondern argumentiert – nach einer unter anderem an Maas (1984) und Niehr (2014) angelehnten Beschreibung des propagandistischen, speziell des sprachlichen Vorgehens der Nationalsozialisten –, dass der moderne Rechtsextremismus deren kommunikative Strategien übernimmt, um „Inhalte zu vermitteln, die einer objektiven Prüfung nicht standhalten“ (S. 27).
Während die Darstellung dieser Zusammenhänge im Kommunikationsverhalten zwischen Nationalsozialisten und rechtsextremistischen Gruppierungen trotz der Kürze sehr gut gelungen und aufschlussreich ist, vermisst man den Vergleich der jeweils hauptsächlich genutzten Medien bzw. ihres Einflusses auf die propagandistischen Kommunikationsprozesse. Zwar wird beschrieben, wie die Nationalsozialisten mittels des Radios eine Hörergemeinschaft inszenierten, die die verbreiteten Botschaften nur passiv empfangen konnte (S. 24), aber gerade deshalb fehlt ein Vergleich zum Internet, insbesondere zum Web 2.0 hinsichtlich dessen Möglichkeiten zur Interaktion.
In Kapitel 3 stellt die Autorin ihre Vorgehensweise vor, indem sie zunächst (Kap. 3.1) den Forschungsstand zur Sprache des Rechtsextremismus und insbesondere zum noch recht neuen Feld der Erforschung rechtsextremer Präsenz im Internet skizziert. Dabei hebt sie die Arbeit von Huck (2012) hervor, die im Rahmen einer kritischen Diskursanalyse unterschiedliche Internetpräsenzen zueinander in Beziehung setzt. Zugleich grenzt sie aber ihren eigenen Ansatz einer zielgruppenorientierten Analyse unter marketingstrategischen Gesichtspunkten davon ab, der den Fokus auf die Frage legt, wie in rechtsextremen Internetauftritten versucht wird, rechtsextremistisches Gedankengut für ideologisch heterogenere Zielgruppen zugänglich zu machen (S. 36).
Solche Zielgruppen werden im Marketing häufig nach soziodemografischen Merkmalen spezifiziert. In der vorliegenden Arbeit werden aber vornehmlich psychosoziale Gesichtspunkte als Kriterium für die Zielgruppenspezifikation herangezogen, weil diese ein besseres Verständnis von Verhaltensweisen ermöglichten (S. 40). Es geht also um die Feststellung von geteilten Werthaltungen, die eine Zielgruppe konstituieren. Die differenzierteste Methode einer derartigen Zielgruppenbestimmung bietet aus Sicht der Autorin der Semiometrie-Ansatz des Markt- und Meinungsforschungsinstituts TNS Infratest, den sie in Kapitel 3.3 erläutert. Kurz zusammengefasst beruht dieser Ansatz auf der Bewertung einzelner Begriffe durch Gruppen, aber auch Individuen, und einer Verortung der Begriffe wie Freundschaft im postulierten semantischen Werteraum mit den Hauptachsen Sozialität – Individualität und Pflicht – Lebensfreude. In diesen Werteraum sind 14 Wertewelten eingebettet, die einerseits durch die sie definierenden Werthaltungen, andererseits durch typische Lebensstile, Konsum- und Medienpräferenzen etc. geprägt sind. Mehrere dieser Wertewelten finden sich zumeist kombiniert in individuellen oder gruppenspezifischen Werteprofilen, was bei einer detaillierteren Zielgruppenspezifikation zu berücksichtigen ist.
Reissen-Kosch argumentiert (S. 49f.), dass der Semiometrie-Ansatz insofern für eine sprachwissenschaftliche Analyse rechtsextremer Propaganda sinnvoll sei, als die für Marketingzwecke entwickelte, auf Werthaltungen beruhende Zielgruppenspezifikation auch für politische Überzeugungsarbeit bzw. deren Analyse nutzbar gemacht werden könne. Außerdem gehe die der Methode zentrale Grundannahme von einer Verknüpfung von Wörtern und Sätzen mit bestimmten Werten aus, wodurch sich ein direkter Anknüpfungspunkt für sprachwissenschaftliche Untersuchungen ergebe.
Ausgehend von den zuvor diskutierten theoretischen Grundlagen und auf Basis des semiometrischen Ansatzes führt die Autorin im zentralen Teil ihrer Arbeit eine empirische Analyse eines Textkorpus durch, das aus Websites parteiloser rechtsextremistischer Organisationen besteht, auf denen sich diese vorstellen und Zuspruch zu gewinnen suchen (S. 51). Das Korpus wird zunächst hinsichtlich der Zielgruppen der Kommunikation gruppiert. Die erste Unterteilung erfolgt dabei auf Basis des soziometrischen Kriteriums des Alters der anvisierten Zielgruppe, wobei sich 89 % der analysierten Websites an Jugendliche richten. Innerhalb dieser Gruppe ließen sich Reissen-Kosch zufolge (S. 65) aufgrund von Gestaltungsmerkmalen der Websites (z. B. die optische Aufmachung, das inhaltliche Angebot und der Name der Gruppe, die sich auf der Website präsentiert), von denen auf die jeweils fokussierte Zielgruppe geschlossen werden könne, drei Untergruppen mit verschiedenen Einstellungen gegenüber der Gesellschaft und den Möglichkeiten, diese zu verändern, unterscheiden: Revolutionäre, Gewaltbereite Revolutionäre und Intellektuelle Elite.[2] Für die verbleibenden, sich nicht vornehmlich an Jugendliche richtenden Websites werden auf derselben Grundlage einer interpretativen Analyse der Website-Gestaltung vier Zielgruppen angenommen: Konservative, Spirituelle, Der kleine Mann und Frauen. Die Zuordnung erscheint zunächst etwas intuitiv (vgl. S. 62), wird jedoch im Zuge der Analyse immer wieder validiert. So wird z. B. in Kapitel 4.2.1 untersucht, inwieweit sich die die jeweilige Website prägende Gestaltungskategorie (z. B. düster, urban, kämpferisch[3], friedlich, heimatverbunden etc.), d. h. der semiotisch induzierte erste Eindruck beim Betrachten einer Website, mit einer der Zielgruppen relationieren lässt, etwa indem sich düster, urban, kämpferisch gestaltete Websites hauptsächlich an die Zielgruppe der Gewaltbereiten Revolutionäre wenden.
Die Resultate in diesem Kapitel sind zwar in einigen Fällen nicht überraschend, aber doch interessant, weil sie die Zusammenhänge zwischen Zielgruppe und Gestaltung deutlich belegen. Anzumerken ist nur, dass manche der Balkendiagramme, mit denen die Ergebnisse veranschaulicht werden sollen, irreführend sind. Dies gilt z. B. für Abb. 21 (S. 86), die zu zeigen scheint, dass auf Websites, die sich an Gewaltbereite Revolutionäre richten, am häufigsten Audio- und/oder Videodateien zur Verfügung gestellt werden. Prozentual gesehen ist das aber auf den Seiten für Revolutionäre häufiger der Fall, was im Diagramm nicht erkennbar ist, da dieses auf den absoluten Zahlen beruht.
In Kapitel 4.2.2 wird mittels einer Inhaltsanalyse untersucht, welche Wertewelten in welchem Umfang auf den einzelnen Websites vorrangig besetzt werden. Auf die sehr differenzierten Ergebnisse der Analyse kann hier nicht eingegangen werden, nur so viel: Insgesamt werden am häufigsten die Wertewelten dominant, traditionsverbunden und kämpferisch angesprochen, am seltensten bzw. überhaupt nicht lustorientiert, erlebnisorientiert, religiös[4] und kulturell (S. 99).
Ergänzt wird diese Analyse durch eine Überprüfung der Websites dahingehend, welche der Wertewelten häufiger miteinander verknüpft werden, welche kaum oder gar nicht (Kap. 4.2.2.3 u. 4.2.2.4) und welche sich daraus ergebenden Werteprofile am häufigsten angesprochen werden (Kap. 4.2.2.5). In Kapitel 4.2.3 erfolgt des Weiteren eine Relationierung der vorab definierten Zielgruppen mit Werteprofilen und der sprachlichen und inhaltlichen Gestaltung der Websites, insbesondere der darauf befindlichen Selbstdarstellungstexte. So sprechen z. B. Websites, denen die Gewaltbereiten Revolutionären als Zielgruppe zugeordnet wurden, vor allem das dominante Werteprofil an.
Mit ihrer empirischen Analyse hat die Autorin einen speziellen Einblick in die rechtsextremistische Internet-Propaganda geliefert, den sie in Kapitel 4.3 und im Fazit zusammenfasst. Die analysierten Websites richten sich zwar vor allem an eine Zielgruppe mit einem von der Wertewelt dominant geprägten Werteprofil, aber auch Zielgruppen mit anderen Werteprofilen sollen angesprochen werden (S. 159), was belegt, dass rechtsextremistische Propaganda versucht, Gruppen mit unterschiedlichen Werthaltungen zu erreichen.
Die eigentlich für den Marketing-Bereich entwickelte Methode der Semiometrie erweist sich als gewinnbringend für die Analyse politischer Kommunikation. Abgesehen von einigen kleineren Kritikpunkten handelt es sich daher um eine interessante und aufgrund des methodischen Ansatzes innovative Arbeit. Als Manko kann einerseits die fehlende Berücksichtigung rechtsextremer Präsenz in den Social Media moniert werden. Andererseits wurde, was man der Autorin aber nicht vorwerfen kann, die Arbeit vor der Flüchtlingsbewegung fertiggestellt, die möglicherweise Änderungen der Ausrichtung rechtsextremer Propaganda bewirkt hat. Es wäre sicher interessant, hierzu eine vergleichende Analyse folgen zu lassen.
Insgesamt ist die Arbeit von Reissen-Kosch jedenfalls allen an Sprache und Politik, an persuasiver Kommunikation und an der Analyse rechtsextremistischer Propaganda Interessierten zu empfehlen, darüber hinaus auch höhersemestrigen Studierenden als Beispiel einer innovativen empirischen Untersuchung.
Literatur
Huck, Katrin. 2012. Stacheldrahtsprache. Sprachliche Grenzziehungen der extremen Rechten im Internet. Stuttgart: ibidem.Search in Google Scholar
Maas, Utz. 1984. Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand. Sprache im Nationalsozialismus. Opladen: Westdeutscher Verlag.10.1007/978-3-322-96994-1Search in Google Scholar
Niehr, Thomas. 2014. Einführung in die Politolinguistik. Gegenstände und Methoden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.10.36198/9783838541730Search in Google Scholar
Ortak, Nuri. 2004. Persuasion: Zur textlinguistischen Beschreibung eines dialogischen Strategiemusters. Tübingen: Max Niemeyer.10.1515/9783110933246Search in Google Scholar
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