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Hans-Georg Müller. 2016. Der Majuskelgebrauch im Deutschen. Groß- und Kleinschreibung. Theoretisch, empirisch, ontogenetisch (Germanistische Linguistik 305). Berlin, Boston: De Gruyter. 418 S.
Ein ganzes Buch über die Majuskelschreibung im Deutschen. Es verspricht im Untertitel, sich der Großschreibung theoretisch, empirisch und ontogenetisch zu widmen. Das Buch umfasst insgesamt zehn Kapitel, davon ein Einleitungskapitel und ein Schlusskapitel, also acht Inhaltskapitel.
Kapitel 2 und 3 sind inhaltlich umfassende Literaturkapitel, die sich als solche zu lesen lohnen. Kapitel 2 (Funktionen und Modelle des Majuskelgebrauchs) behandelt die historische Entwicklung der Großschreibung, die Behandlung derselben in den ersten beiden Orthographischen Konferenzen, die verschiedenen theoretischen Einordnungen (syntaktisch vs. wortkategorial) sowie die Darstellung von bereits durchgeführten Experimenten zur Großschreibung als Lesehilfe. Kapitel 3 nennt die verschiedenen Domänen der Großschreibung. Einiges Bekanntes lässt Müller durchaus in neuem Licht erscheinen (zum Beispiel die Majuskel als Mittel zur Fokussierung, worunter auch systematische Betrachtungen der Binnenmajuskel fallen).
In Kapitel 4 stellt Müller sein textpragmatisches Modell vor. Immer wieder gab und gibt es Bestrebungen, die Formgleichheit in der Sprache ernstzunehmen und auf ein (abstraktes) Prinzip zurückzuführen (eine Form – eine Funktion). In der Flexion hat das eine längere Tradition; für die Graphematik wurde dies besonders anschaulich in verschiedenen Veröffentlichungen von Primus (1993 und viele weitere) und Bredel (2008) am Komma gezeigt. Im Ergebnis gibt es nur ein Komma und nicht viele verschiedene und damit ist es kein Zufall, dass auf der Oberfläche vermeintlich verschiedene Konstruktionen mit dem gleichen Zeichen auftreten.
Bei der Majuskelsetzung wurde genau das bisher nicht gemacht. Zu sehr war man mit den vermeintlichen Schwierigkeiten der satzinternen Großschreibung (bzw. dem Teilbereich ‚Substantivgroßschreibung‘) beschäftigt, vermutlich weil sie erstens fehlerträchtig und zweitens eine Besonderheit des Deutschen ist. Müller findet nun für die verschiedenen Großschreibungen den gemeinsamen Nenner ‚Diskursreferent‘ (s. Kamp & Reyle 1993).
Den Bezug auf den Diskursreferenten kann man nach Müller mit zwei Tests operationalisieren – der anaphorischen Wiederaufnehmbarkeit und der Attribuierbarkeit (S. 124). Für Kerne von Nominalgruppen ist das unmittelbar einleuchtend. Entsprechend halten auch die kleingeschriebenen ‚Substantive‘ dem Gegentest stand:
Petra stand kopf. *Er schmerzte ihr hinterher. (S. 132) vs.
Petra stand auf dem Kopf. Er schmerzte ihr hinterher. (S. 133).
Verbindungen wie Gelbes Trikot sind nur insgesamt attribuierbar – das begehrte Gelbe Trikot vs. *das Gelbe begehrte Trikot (S. 140).
Der Knackpunkt für die Charakterisierung von Diskursinstanzen sind aus meiner Sicht die Sätze und damit die Satzanfangsgroßschreibung. Nach Müller gilt auch für Sätze die Wiederaufnehmbarkeit (Fritz war schon mit dem Hund draußen. Das hat mich sehr verblüfft, S. 137) und die Attribuierbarkeit (Fritz war schon mit dem Hund draußen, was nicht alle Tage vorkommt, S. 137). So einleuchtend diese Beispiele sind, so bleiben aus meiner Sicht dennoch einige Fragen bei den Sätzen unbeantwortet; in einer Fußnote gibt Müller selbst den Hinweis eines anonymen Gutachters[1], dass möglicherweise auch Nebensätze anaphorisch wiederaufgenommen werden, folglich also auch mit einer Majuskel beginnen müssten. Müller bestätigt das, nennt aber als Argument, dass der Bezug dann schnell ambig werde. Wenn man bedenkt, dass Müller geradezu in dem ganzen Buch für seinen textpragmatischen Ansatz wirbt, wäre hier sicher noch mehr Überzeugungsarbeit nötig. So ist der Begriff ‚Ganzsatz‘ ja schon in der Amtlichen Regelung hoch problematisch und durchaus auch diskutiert worden. Da es in dieser Arbeit primär um die Majuskelsetzung – also um ein genuin schriftsprachliches Phänomen – geht, ist erstaunlich, dass hier nicht die Literatur zur Interpunktion verarbeitet wurde, allen voran sicherlich Bredel (2004) zum Punkt, wo gezeigt wird, wie wenig belastbar der Begriff ‚Ganzsatz‘ ist. Aus graphematischer Perspektive wird ein Ganzsatz durch die Anfangsgroßschreibung und den Punkt konstituiert; eine Konstruktion ist nicht an sich ein Satz (die ‚Online-Perspektive‘ bei Bredel). Man könnte also die Ansicht vertreten, die Anfangsgroßschreibung diene auch dazu, einen Diskursreferenten zu verdeutlichen. Es ginge also weniger um die Frage, ob es sich bei dem jeweiligen Satz um einen Diskursreferenten handelt, als vielmehr um die Frage, ob er (mit der Anfangsgroßschreibung) dazu gemacht wird. So oder so hätte es hier aber sicher geholfen, mehr Beispiele zu sehen, und zwar sowohl Sätze, die Diskursreferenten sind, als auch (Neben-)Sätze, die keine Diskursreferenten sind. Die Interpunktionsdiskussion hier gänzlich außen vor zu lassen, sehe ich als vertane Chance. Aber auch sonst fehlt meines Erachtens die Aufarbeitung eines linguistischen Satzbegriffs (zum graphematischen Satz auch Schmidt 2016), zumindest in Ansätzen. Hier macht es sich Müller insgesamt etwas zu einfach, gerade weil die Idee so faszinierend ist.
Weiterführend wäre auch eine historische Betrachtung der Satzanfangsgroßschreibung interessant, nämlich ob die Großschreibung von einigen Nebensätzen nach der Virgel mit diesem Gedanken erfassbar ist.
Ein zweiter Aspekt macht den vorliegenden textpragmatischen Ansatz sehr interessant: Er erfasst die Attribuierbarkeit in ihrer Funktion. Es ist inzwischen bekannt, dass mit dem Kriterium ‚Attribuierbarkeit‘ die satzinterne Großschreibung weitgehend erfasst werden kann. Es ist ein gut zu operationalisierendes Kriterium. Müller meint aber, dass Attribuierbarkeit nicht genuin syntaktisch sei (was kann attribuiert werden und warum?), und macht sie kurzerhand zu einem textpragmatischen Kriterium. Aber in der Konsequenz des Buches ist es eben doch ‚alter Wein in neuen Schläuchen‘, s. auch meine Kritik zu Kapitel 9.
Die Kapitel 5 und 6 können als Vorbereitung für die Kapitel 7 und 8 gelesen werden. In Kapitel 5 untersucht Müller die Behandlung der Großschreibung in Unterrichtswerken, und zwar sowohl in üblichen Schulbüchern als auch in sonstigen Übungswerken. Im 6. Kapitel werden die gängigen Rechtschreibtests hinsichtlich der Groß- und Kleinschreibung beschrieben.
In Kapitel 7 lässt Müller mit Hilfe neuronaler Netzwerksimulation prototypische Kriterien herausarbeiten. Es geht also um selbstlernende Systeme; die Beispiele, die Müller wählt, sind diejenigen aus seinem Orthografietrainer (www.orthografietrainer.net). Zunächst konstruiert er ein Gesamtsystem und stellt fest, dass die ‚besten‘ unabhängigen Kriterien [±Satzanfang], [±Derivationsaffix[2]] und [±Eigenname] sind (S. 227). Die zunächst scheinbar wenig hilfreichen ‚typischen‘ syntaktischen Kriterien [±Artikel] usw. erweisen sich in der Korrelation mit anderen Kriterien als durchaus hilfreich (S. 229). Interessant ist die Unterteilung in drei fragmentierte Netzwerke, in denen Müller den wortkategorialen Ansatz, den syntaktischen Ansatz und den textpragmatischen Ansatz ‚testet‘. Offenbar geht es bei den ersten beiden nur noch um die satzinterne Großschreibung (wortkategorial und syntaktisch); bei dem textpragmatischen Ansatz wird neben [±Attribuierbarkeit] auch [±Fokus] getestet, letzteres ist aber im Ergebnis laut Müller vernachlässigbar (S. 237). Der textpragmatische Ansatz erscheint als das zuverlässigste Teilnetzwerk mit dem wesentlichen Kriterium [±Attribuierbarkeit]. Wie gesagt ist das ein sehr interessantes Ergebnis – nun kann man vorbehaltlos für dieses Kriterium werben, aber es ist Vorsicht geboten, hierin ein innovatives Ergebnis zu sehen.
Im folgenden 8. Kapitel untersucht Müller nun die Schreibungen empirisch, die ihm www.orthografietrainer.net geliefert hat. Von jedem Teilnehmenden liegen wenigstens dreißig Schreibungen vor. Sie werden in jeder denkbaren Hinsicht untersucht – nach Alter, Geschlecht, Schulform usw. Auch dieses Kapitel ist lesenswert. Aus den Ergebnissen leitet Müller dann ‚semantische, morphologische, syntaktische, pragmatische‘ Typen von Schreibern und Schreiberinnen ab. Im Folgenden werden Kompetenzstufen gebildet, die dann wiederum interpretiert werden. Alles ist sehr überzeugend dargestellt und man sieht, dass die Kompetenzstufe 4 (die Schreibung Jung und Alt) von vielen nicht erreicht wird. Auch hier findet Müller heraus, dass Attribuierbarkeit bis in die höchste Kompetenzstufe wirkt. Dieses Kriterium reicht also aus. Es ist allerdings das Kriterium, das bisher unter ‚syntaktischem‘ Ansatz in der Didaktik behandelt wird – denn die Treppen’gedichte‘ (in der Zeile werden Substantive erweitert) operieren ja genau mit dem Kriterium der Attribuierbarkeit (und nicht mit dem der Attribuiertheit). Es geht hier also darum, darauf hinzuweisen, dass der in der Didaktik mühsam durchgesetzte syntaktische Ansatz terminologisch durch Müller anders gefasst wird. In der Sache bestätigt er, dass der Ansatz der richtige ist.
Das 9. Kapitel (Ontogenese und didaktische Deutung der Daten) ist aus meiner Sicht etwas zu optimistisch. Müller hat nachgewiesen, dass der Erwerb der Großschreibung semantisch beginnt. Aber beginnt er natürlicherweise semantisch oder beginnt er semantisch, weil alle Lehrwerke (und damit vermutlich auch Großteile des Erstschreibunterrichts) so beginnen? Müller schreibt selbst, dass „gegenständliche Konzepte den kindlichen Erfahrungsraum dominieren und erst mit der weiteren Entwicklung zunehmend um abstraktere Diskursinhalte erweitert werden“ (S. 350), aber die Kinder, die schreiben lernen, haben eben diese Erweiterung schon in der gesprochenen Sprache. Das ist deswegen keineswegs trivial, weil ja permanent entschieden werden muss, wie man an die Großschreibung heranführt. Und in der didaktischen Literatur gibt es eine Vielzahl von Fachleuten, die vor dem semantischen Prinzip warnen, auch und gerade zu Beginn. Denn der semantische Ansatz erfordert nach einer gewissen Zeit ein Umlernen, das offenbar nicht jedem gelingt. Ist es nicht viel besser, hier gleich syntaktisch (eben mit Treppen’gedichten‘) zu lernen? Müllers eigene Überlegungen für Planungskonzepte im Unterricht gehen letztendlich einen anderen Weg, weil ihm die Funktion der Attribute sehr wichtig ist. Seine Überlegungen sind sicherlich wichtig; ich sehe nur nicht, inwiefern nicht genau dies mit den Treppen’gedichten‘ bereits geleistet wird.
Müller hat empirisch gezeigt, dass Attribuierbarkeit ein gutes Kriterium ist. Er verwendet allerdings viel Energie auf das Etikett ‚textpragmatisch‘, aber an der Stelle, wo das Textpragmatische richtig erklärt werden müsste – nämlich in Bezug auf Sätze, und zwar nur ‚Ganzsätze‘ als Diskursinstanzen –, bleibt der gebotene Erklärungsrahmen zu knapp.
Dass ich hier so harsch kritisiere, hat allein den Hintergrund, dass der ganze Bereich ein Minenfeld ist. Müller zeigt sehr deutlich, und zwar auf allen Ebenen, dass Attribuierbarkeit gut funktioniert. Nehmen wir seine Gedanken auf, aber geben wir nicht ohne Not den Begriff ‚syntaktischer Ansatz‘ auf!
Literatur
Bredel, Ursula. 2004. Zur Geschichte der Interpunktionskonzeptionen des Deutschen – dargestellt an der Kodifizierung des Punktes. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 33, 179–211. Search in Google Scholar
Bredel, Ursula. 2008. Die Interpunktion des Deutschen. Ein kompositionelles System zur Online-Steuerung des Lesens. Tübingen: Max Niemeyer. Search in Google Scholar
Kamp, Hans & Uwe Reyle. 1993. From Discourse to Logic. Dordrecht: Springer Netherlands. 10.1007/978-94-017-1616-1Search in Google Scholar
Müller, Hans-Georg. 2014. Zur textpragmatischen Funktion der Groß- und Kleinschreibung im Deutschen. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 42, 1–25. Search in Google Scholar
Primus, Beatrice. 1993. Sprachnorm und Sprachregularität: Das Komma im Deutschen. In: Deutsche Sprache 21, 244–263. Search in Google Scholar
Schmidt, Karsten. 2016. <Der graphematische Satz.> Vom Schreibsatz zur allgemeinen Satzvorstellung. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 44, 215–256. Search in Google Scholar
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