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Peter Eisenberg. 2017. Deutsche Orthografie. Regelwerk und Kommentar. Im Auftrag von Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Berlin, Boston: De Gruyter Mouton. viii, 117 S.
Peter Eisenberg. 2017. Deutsche Orthografie. Regelwerk und Kommentar. Im Auftrag von Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Berlin, Boston: De Gruyter Mouton. viii, 117 S.
Peter Eisenberg ist einer der wichtigsten Akteure im Feld der Rechtschreibdiskussion. Dort fordert er nicht nur die konsequente Ausrichtung auf das fundierende grammatische Wissen der Schreiber bzw. Leser, sondern er hat das mit seinen Handbuchdarstellungen auch greifbar gemacht, vor allem in seinem Grundriß der deutschen Grammatik (seit 1986), der in der jüngeren Bearbeitung in Bd. 1 ein ausführliches Kapitel zur „Wortschreibung“ ausweist (Eisenberg 2013). Seit 1987 war er in den Gremien zur Reform der Orthographie aktiv, trat aber 2013 unter Protest aus dem inzwischen gebildeten „Rat für deutsche Orthographie“ (im Folgenden abgekürzt: Rat) aus, als dieser sich weigerte, eine Durchforstung des mit der Reform 1996 widersprüchlich und undurchsichtig gewordenen Regelwerks i. S. seiner eigenen Vorschläge anzugehen. Diese waren seitdem vor allem im Wahrig zugänglich (Eisenberg 2002); jetzt hat er sie in etwas revidierter Form für die „Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung“ in Darmstadt neu vorgelegt.
Der Vergleich mit den „amtlichen“ Darstellungen macht die Leistung dieser Darstellung unmittelbar sichtbar. Statt einer Akkumulation von Rechtschreibschwierigkeiten mit einer Batterie von Fallunterscheidungen, wie sie die amtliche Regelung bis in die neue Version (Rat 2017) bestimmt,[1] zeigt Eisenberg die Leistung der Orthographie in dem auf, was an den Vorgaben regelhaft ist – auch bei den neueren Versionen. Es gibt nur einen alles in allem relativ marginalen Randbereich von uneindeutigen Verhältnissen, für die Eisenberg plausible Vorschläge macht und sie oft auch in Hinblick auf die darin liegende Dynamik der sprachlichen Verhältnisse als motiviert ausweist.
Dabei bleibt er in der Grundstruktur an den Vorgaben der Reform ausgerichtet (Rat 2011), denen gegenüber sein Text als erheblich abgespeckt und in den Formulierungen um einiges transparenter daherkommt. Angesichts der Tatsache, daß selbst der DUDEN in seinem Rechtschreibbuch die amtlichen Regelungen nicht mehr abdruckt, weil sie nur Verwirrung schaffen, empfiehlt sich Eisenbergs Darstellung für die Hand gerade von praktisch orientierten Nutzern: Seine souveräne Beherrschung der strukturellen Zusammenhänge kommt in der konzisen Formulierung seiner Regeln und der Auswahl von Beispielen zur Geltung.
Allerdings führt seine Anlehnung an Rat (2011) doch auch zu problematischen Kompromissen. Das beginnt bei der Grundfrage der Optimierung des Regelwerks in Hinblick auf Leser oder Schreiber. Programmatisch (und in der Wortwahl) optiert Eisenberg für den Schreiber (ausgehend vom Terminus Rechtschreibung), faktisch (und zu Recht) entscheidet dann aber doch die Funktion der Graphien für den Leser. Bei der Darstellung der phonographischen Komponente zeigt sich, daß die programmatisch eingenommene Schreiberperspektive nicht zielführend ist. Der schriftsprachliche Gegenstand ist dort durch die Möglichkeit des langsamen, auf Deutlichkeit abstellenden Vorlesens gegeben – mit der Abgrenzung zu artifiziellen „Überlautungen“ (S. 25), mit der leider häufig im Anfangsunterricht Verwirrung bei den Lernern gestiftet wird. In einem argumentativen Vorlauf diskutiert Eisenberg diese Fragen (vgl. S. 1–49).
Im Aufbau seines Regelwerks folgt Eisenberg der Vorlage (Rat 2011), greift dabei aber auf die seit gut 40 Jahren etablierte analytische Argumentation zurück: Buchstabenschreibung (S. 51–69, also Phonographie), Wortschreibungen (S. 69–92, also Getrennt- und Zusammenschreibung sowie Groß-/Kleinschreibung), Zeichensetzung (S. 92–106; im umfassenden Sinn, also anders als in der Kodifizierung üblich; er differenziert wortbezogene gegenüber satzbezogene Zeichensetzung). Deutlich vom eigentlichen Regelteil abgegrenzt behandelt er die graphische Wortbrechung am Zeilenende („Silbentrennung“, S. 106–109), die nur „Layout“-Optionen umfaßt und daher nicht zum genuinen Leistungsbereich der Orthographie gehört.
Eisenberg begreift sein Unternehmen als eine Reparatur der normativen Vorgaben in Rat (2011). In Nebenbemerkungen versucht er deutlich zu machen, „warum unsere Orthographie [...] gerade so und nicht anders geregelt ist“ (S. 14). Gegen die endemische Naturalisierung schriftkultureller Verhältnisse, die den Nährboden für normative Setzungen bildet, wäre es sicher besser gewesen, noch deutlicher zu machen, daß die Rechtschreibung zum Umgang mit den sprachlichen Ressourcen gehört und insofern in einem anderen gesellschaftlichen Koordinatensystem zu explizieren ist, als es für diese angenommen wird – die Frage der Normen läßt sich nur in einer solchen Differenz fassen. Gelegentlich merkt Eisenberg an, daß die Übernahme der Vorgaben von Rat (2011) problematisch ist (z. B. die geforderte Getrenntschreibung von <da sein>, S. 74, die generellen Zusammenschreibungen mit <irgend>, S. 82 u. a.) – aber i. S. seiner Zielsetzung, nur eine Reparatur vorzunehmen, hält er sich möglichst an sie.
Eisenberg richtet seine Darstellung konsequent auf die graphischen Strukturmuster aus (bei ihm „Schreibsilbe“ genannt, S. 28 u. ö.), die er „phonographisch“ auf ihre Lautierbarkeit hin betrachtet. In Hinblick auf die Vielfalt registrierbarer Muster kommt dabei die Ausrichtung an der Grammatik zum Zug (weshalb die Abgrenzung zur Wortschreibung letztlich auch nur eine heuristische Funktion hat): In der gedruckten ‚Standardsprache‘ lassen sich die paradigmatischen Verhältnisse in Formenfamilien gruppieren, mit den „verlängerten“ Formen als Exponenten (S. 26). Im Kernbereich des Wortschatzes zeigen diese ein trochäisches Muster, das Eisenberg konsequent für die Analyse der notorisch schwierigen Dehnungs- und Schärfungsschreibungen ansetzt, deren Behandlung nicht nur den Anfangsunterricht belastet. Für ihn fundieren die Dehnungsgraphien in der Auszeichnung der prominenten Silbe, wobei er die in diesem Fall kritische Markierung von gespannten Vokalen (bzw. ‚Langvokalen‘) paradigmatisch (als Default) an einen (phonetisch) offenen Silbenbau in den „verlängerten“ Formen bindet, der aber mit einer geschlossenen Schreibsilbe repräsentiert wird, also mit einem phonographisch epenthetischen „silbenschließenden“ <h> (also wohnen für [ˈvoː.nən]), das ggf. dann im Formenparadigma vererbt wird (also auch wohnt für [ˈvoːnt]). In einem kompakten Abriß führt Eisenberg diese Analyse auch für die weiteren Teilstrukturen vor.[2]
Das ist zweifellos ein möglicher und für die Verhältnisse in der geschriebenen (vor allem in der gedruckten) Standardsprache auch plausibler Vorschlag, zu motivieren durch die quantitativen Verhältnisse im gegenwärtigen Deutsch, bei dem das „silbenschließende“ <h> in neuen Formen nicht produktiv ist. Aber auch hier gilt, daß solche Analysen immer den Charakter von Kippbildern haben. Alternative Strukturierungen sind damit nicht aus der Welt, vor allem solche von Menschen, die versuchen, mit dieser ‚Standardsprache‘ zurecht zu kommen – nicht nur (aber insbesondere) Anfänger, die sich bemühen, sich einen Reim auf die schriftsprachlichen Regularitäten zu machen. Aufschlußreich sind hier die Schreibungen von Lernern in den ersten Schuljahren mit hypertrophen „Dehnungszeichen“, die zeigen, welchen Reim sie sich darauf gemacht haben. Bei Zweitkläßlern sind Schreibungen häufig wie (orthographische Abweichungen mit * markiert): der *Tohn, *einmahl, *roht (für die Farbe rot) u. dgl., auf der Folie von unmarkierten Schreibungen bei offener Silbe (wie z. B. Krone für [ˈkʁoː.nə]). Das zeigt ein duales System zu den Schärfungsschreibungen bei den ungespannten Vokalen: unmarkiert bei geschlossener Silbe (z. B. Holz für [ˈhɔlʦ]), aber markiert in offener (bei festem Anschluß an einen heterosyllabischen Anfangsrand wie bei tolle für [ˈtɔ.lə]). Auch unter diesen Prämissen lassen sich die paradigmatischen Verhältnisse (mit der Vererbung von Basisformen aus) entwickeln, also spiegelverkehrt zu oben: <wohnen> wegen wohnt für [ˈvoːnt], genauso wie <toll> wegen tolle für [ˈtɔ.lə].[3]
Es ist offensichtlich, daß Anfänger, die versuchen sich einen Reim auf die vorgefundenen Schreibungen zu machen, mit einem Gestaltschließungsmechanismus operieren, wie er für kognitive Aktivitäten grundlegend ist. Für diesen sind die Verhältnisse unterdeterminiert, weshalb sich unterschiedliche Lösungen bei den Schreibungen finden. Eine systematische Analyse (die auch für die didaktische Praxis hilfreich sein soll) muß dieses Feld an Optionen aufzeigen – und die normativen Setzungen als eine solche Option. Im besten Falle ist dies die systematisch zu verankernde Option (wie es Eisenberg für seinen Vorschlag auch versucht).
Aus Platzgründen kann ich hier nicht auf alle Abschnitte eingehen. Hervorzuheben ist die wohltuend klare Darstellung des leidigen Problems der „Fremdwort“-Schreibungen, für die Eisenberg inzwischen auch ein probates Handbuch vorgelegt hat (Eisenberg 2011). Bis auf marginale Fälle (in der Regel eingeschränkt auf Formen in spezialisierter Fachliteratur) handelt es sich um Subregularitäten der deutschen Orthographie, die auch auf der Folie von deren Grundstruktur durchsichtig werden (vgl. S. 54–62) – letztlich behält Eisenberg das mystifizierende Bezeichnungselement „fremd-“ nur aus taktischen Gründen bei.
Wortschreibungen sind in einem anderen, virtuellen Feld definiert als „Buchstabenschreibungen“: in einem Raum, der durch die grammatischen (paradigmatischen) Beziehungen zwischen Wörtern eröffnet wird, also nicht (nur) für einen gegebenen Textausschnitt (S. 30ff.). In diesem Feld hatte die Reform 1996 vor allem die Getrennt- und Zusammenschreibung völlig chaotisiert. Gegenüber der umfangreichen Auflistung feindifferenzierter Fallunterscheidungen in Rat (2011: 33–43) liefert Eisenberg nicht nur eine kompakte Strukturierung (S. 69–82), sondern macht am konkreten Beispiel auch deutlich, daß hier in vielen Fällen keine eindeutige Vorgabe erzwungen werden darf: Die Optionen einer Integration (Inkorporation) in ein komplexes Wort gegenüber der Kombinatorik in einem Syntagma sind schlechthin eine Ressource der Schriftsprache, die jede orthographische Regelung zu respektieren hat – ganz abgesehen von der Dynamik des Sprachwandels, die hier die Gefahr anachronistischer Vorgaben mit sich bringt. Sinnvoll ist die Identifizierung der kritischen Unsicherheitszone der „Kontaktstellung“ (z. B. S. 71), statt die Unsicherheiten gewissermaßen flächendeckend zu distribuieren.
Eisenberg zeigt die Notwendigkeit der grammatischen Analyse, etwa bei dem besonders problematischen Bereich komplexer Wortformen, in denen (bei isolierter Betrachtung, also im Abgleich mit dem Lexikon) ein potentielles Substantiv identifiziert werden kann. Gegenüber der letztlich hilflosen Auflistung von unterschiedlichen Fällen ist es sinnvoll, daß Eisenberg hier systematischer vorgeht, indem er verschiedene Wortbildungsressourcen differenziert, die eine Zusammenschreibung begründen (z. B. verbale Rückbildungen von Nominalkomposita, S. 76; dazu auch Eisenberg 2013: 223–225). Die von ihm vorgeführten grammatischen Tests sollten auch für Nicht-Linguisten praktikabel sein.[4]
Die orthographische Kodifizierung stellt dagegen auf die Listung von Wortformen ab, die nach Wortarten typisiert werden, so auch Rat (2011/2017). Diese Sichtweise blockiert die Kodifizierungsdiskussion besonders bei den satzinternen Majuskeln. Insofern kann es hier nützlich sein, sich die Probleme in einem historischen Horizont verständlich zu machen. Auch Eisenberg gibt gelegentlich entsprechende Hinweise, allerdings zumeist ohne die dann nötigen Differenzierungen.[5] Gerade bei der Groß- und Kleinschreibung hätte er darauf verweisen können, daß sich hier in einem langen Prozeß die grammatische Fundierung in der Schreibpraxis, um die es Eisenberg ja geht, durchgesetzt hat (so auch explizit S. 40) – gegen die Grammatiker, die diese Fundierung lange (oft bis heute) nicht verstanden haben. Gegen seine grammatischen Prämissen rutscht Eisenberg hier doch auf der eingefahrenen Orientierung an Wörterbuchsortierungen aus (mit der Auszeichnung von „Hauptwörtern“, wie es früher hieß), obwohl er (selbstverständlich) seine lexikalische Sorte von auszuzeichnenden „Substantiven“ im Regelwerk durch eine grammatische Struktur ersetzt: als „Kern erweiterbarer Nominalgruppen“ (S. 41 u. ö.), wie es bei allen neueren sprachwissenschaftlichen Analysen angegangen wurde, die seit den 1980er Jahren in Angriff genommen wurden.[6] Nur der Rat glaubt nach wie vor, ohne eine solche grammatische Fundierung auskommen zu können: Bei ihm geht es darum „Wörter (...) zu kennzeichnen und (...) hervorzuheben“ (Rat 2011: 53).
Eisenbergs Anlehnung an den Rat ist offensichtlich taktisch motiviert: Die terminologische Verpackung soll möglichst wenig ‚anders‘ erscheinen, wenn man sie denn vernünftig füllt. Zu befürchten ist nur, daß gerade die anvisierten Nutzer seines Textes, die wie die meisten Lehrer(innen) schon in der Ausbildung Grammatikanalysen möglichst vermieden haben, das als Legitimation dafür nehmen können (werden), bei der gewohnten Art des Einübens von Wortformen zu bleiben. Dabei zeigt gerade die schulische Arbeit mit jungen Lernern, die man ermutigt, nach systematischen Strukturzusammenhängen für die in den Texten zu findenden satzinternen Majuskeln zu suchen, daß diese Fundierung bei einem unbefangenen Blick auch entdeckt werden kann. Hilfreich ist jedenfalls, daß Eisenberg den gerade die Didaktik verwirrenden Rückgriff auf den scheinbaren Prototyp Namen für großzuschreibende Substantive als Irreführung hinstellt – sie bilden einen Sonderbereich mit einem Zopf an Sonderproblemen (S. 85 und 90–91), gemeinsam mit anderen Sonderregeln wie bei den Höflichkeitsformen (S. 91–92). Als Folge seiner grammatischen Fundierung der Großschreibung (als markiertem Fall gegenüber dem Default der Kleinbuchstaben) erübrigt sich bei ihm der verwirrende Block der Regeln für die Kleinschreibung in Rat (2011).
Wortschreibungen überschreiben ggf. die phonographischen Laut-Buchstaben-Zuordnungen, wie es oben schon für die paradigmatische Vererbung von Sondergraphien angesprochen ist (Eisenberg behält die germanistisch eingefahrene, aber nicht unproblematische Rede von einem „morphologischen Prinzip“ bei, z. B. S. 67 u. ö.). Vor dem Hintergrund der häufigen didaktischen ‚Entgleisungen‘ können die Formulierungen hier nicht deutlich genug sein, um der verbreiteten Tendenz entgegenzuwirken, grammatische Strukturen des Umgangs mit der Sprache auf die Lautung zu projizieren. Das macht allerdings auch den von Eisenberg benutzten Terminus der „Explizitlautung“ problematisch, so z. B. wenn er von einer solchen bei extrapolierten grammatischen Konstrukten wie z. B. [muntər] für den Stamm im Paradigma der Adjektivformen zu munter (S. 29) spricht.[7] Auch die Projektion von zugrundeliegenden Prozessen ist letztlich mystifizierend (auch wenn sie im generativistischen Fahrwasser inzwischen üblich ist): z. B. ist <chs> eine distributionell eingeschränkte Graphie für [ks], deren Kontexte Eisenberg auch angibt – da „wird kein Frikativ zu einem Plosiv“ (S. 59).
Ein nach der verunglückten Reform 1996 weiterhin strittiges Feld ist die Interpunktion. Die Akkumulation von ad-hoc-Vorschriften hatte die alte Regelung, wie sie im Rechtschreib-DUDEN fixiert war, einigermaßen unbrauchbar (und in sich widersprüchlich) gemacht. Die Reform hatte hier mit dem Brecheisen angesetzt und diese Reglungen z. T. einfach außer Kraft gesetzt (mit teilweiser Freigabe der Kommasetzung). Seitdem wird an einer Neuregelung laboriert. Für die neuere Diskussion wurden die Arbeiten von Beatrice Primus (und im Anschluß daran die von Ursula Bredel) wichtig, auf die auch Eisenberg zurückgreift. Vor allem Primus hat stringente Vorschläge für eine möglichst ökonomische Regelformulierung gemacht und dabei das sog. „paarige Komma“ über Bord gehen lassen.[8] Auch wenn das intellektuell ein reizvoller Versuch ist, stellt sich die Frage nach dem Status der so extrapolierten „Regeln“. Das paarige Komma ist eine Hilfestellung für den Leser von verdichteten und damit sehr komplexen schriftlichen Texten, neudeutsch also eine parsing-Hilfe.[9] So figuriert es in den Arbeiten zu einer funktionalen Durchforstung der Rechtschreibvorgaben (z. B. Zimmermann 1969), und so habe ich es auch in meinen eigenen Vorschlägen aufgenommen (s. zuletzt auch Maas 2015). Die Formulierung der entsprechenden Regularitäten sollte beim paarigen Komma allerdings die rechte Markierung als Default vorgeben, die ggf. durch Markierungen, die aus anderen Gründen stehen (Schlußzeichen, ggf. auch Kommata), überschrieben werden.
Die Frage ist, ob der Primus’sche Minimalismus den praktischen Fragen der Rechtschreibung gerecht wird.[10] Faktisch kommt auch Eisenberg bei seiner Durchforstung der Interpunktion nicht ohne die Paarigkeit der Kommasetzung zur syntaktischen Durchgliederung aus. So ist auch bei ihm ein „schließendes Komma“ an den entsprechenden Stellen gefordert, z. B. S. 103, wie ohnehin Einschübe in diesem Sinne paarig ausgegrenzt werden (bei Eisenberg Regel 65, S. 102–104). In dieser Hinsicht ist es aufschlußreich, daß die Texte vieler Schreiber (gerade auch wenig geübter) hypertrophe Kommata zeigen (und nicht nur fehlende gegenüber der geltenden Norm). Die Interpunktion verdankt schließlich ihre Bezeichnung der Praxis einer nachträglichen Markierung von Niederschriften, bei der diese nochmal gelesen wurden – und d. h. bei komplexen Passagen ‚geparst‘ werden mußten, wofür diese Zeichen zwischen (lat. inter) die lautorientierten Wortschreibungen eingetragen wurden. So verfahren Schreiber heute noch – gerade auch ungeübte, die ohne solche Strukturierungshilfen schnell aussteigen. Vor diesem Horizont sollte die Frage der paarigen Interpunktionszeichen diskutiert werden.
Die Ausgrenzung der Wortbrechung aus der Orthographie macht Sinn – nicht zuletzt in Hinblick auf die Konfusionen in der Didaktik, die mit dem leider auch von Eisenberg beibehaltenen Terminus der „Silbentrennung“ verbunden sind, der suggeriert, daß die Fundierung in der Lautstruktur der gesprochenen Sprache liege. Gegenüber der (im Deutschen) schlicht unsinnigen Annahme von den Trennungen nach Silbengrenzen, die sich im Gesprochenen ‚von selbst ergeben‘, wie es früher im DUDEN zu lesen war, ist es allemal ein Gewinn, wenn es bei Eisenberg heißt, daß es um eine Gliederung geht, die beim „langsamen Vorlesen“ auch lautierbar ist (S. 48) – außer bei festem Anschluß an einen heterosyllabischen Silbenanlaut: Hier ist die Wortbrechung nur an der „Schreibsilbe“ festzumachen, die in der Eisenbergʼschen Modellierung ja geschlossen ist. Konsequent, aber für die Benutzer vermutlich wenig hilfreich, führt Eisenberg diese Fälle denn auch nicht bei 3.6 „Silbentrennung“ auf. Besser wäre es, phonographische Bezüge ganz zurückzufahren und diesen Bereich als ästhetische Optionen der Wortschreibung zu behandeln, einschließlich evtl. Fremdmarkierungen, die dann allerdings auch nicht wie Päd-agoge kategorisch vorgegeben werden sollten (S. 107, R. 69).[11]
Auch hier ist das Grundproblem die normative Setzung. Wenn Eisenberg bei seiner R. 71 vermerkt, daß Brechungen wie *ne-blig nicht zugelassen sind, ist das eine unzulässige Vorgabe. Die geforderte Brechung neb-lig stützt sich auf eine Syllabierung [ˈneːp.lɪç], neben der aber durchaus auch [ˈneː.blɪç] vorkommt: ausgerichtet auf die Silbengrenze im Grundwort [ˈneː.bəl], die dann auch in der Ableitung reproduziert wird. Statt solcher Setzungen (gegen die Eisenberg in seinen grundsätzlichen Bemerkungen heftig angeht, s. o.) sollte es darum gehen, den Raum der Variation aufzubereiten und durchsichtig zu machen, auf den die Schreiber (und eben auch die Leser) zugreifen.
Mit Eisenbergs kompakter Synopse der geltenden Rechtschreibregeln ist die normative Bezugsgröße der Diskussion deutlich greifbar. Damit stellt sich aber die Frage nach deren Status umso klarer. Dieser kann nicht mehr einfach aus der Vergangenheit fortgeschrieben werden. Das gesellschaftliche Feld, in dem Orthographie definiert ist, ist ins Rutschen geraten. Bis ins 18. Jhd. war Deutsch (als mehr oder weniger standardisierte Form) neben der Alltagssprache definiert, die (soweit nicht auch nichtdeutsche Varietäten gesprochen wurden: Friesisch, Sorbisch u. a.) dialektal artikuliert war. Dialekte waren ggf. deutsch – aber nicht eine Varietät des Deutschen.[12] Dieses war in gewisser Weise ein fremder Gegenstand – und als solcher auch klar abgegrenzt: Deutsch war als Schriftsprache definiert – in Konkurrenz zu dem bis ins 17. Jhd. dominierenden Latein. Als solches konnte es auch ausgesprochen werden – wie es im südlichen Sprachraum auch heute noch heißt: Es konnte ‚nach der Schrift‘ gesprochen werden.[13]
Diese älteren diglossischen Verhältnisse blieben noch bis weit ins 20. Jhd. bestimmend, wo sie letztlich erst mit dem Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen aufgelöst wurden (gewachsene Mobilität, ethnische Durchmischung insbes. durch die Flüchtlinge nach dem Weltkrieg, elektronische Medien auch als Modelle des gesprochenen Deutsch u. dgl.). Inzwischen sind die Verhältnisse völlig anders ausgerichtet – der große Anteil an Menschen mit nicht-deutscher Familiensprache ist nur der kleinste Faktor dabei. Auch bei deutscher Familiensprache ist das Variationsfeld nicht mehr durch eine eindeutige Vorgabe Deutsch definiert. Die in der Germanistik breit diskutierten polyzentrischen Ausrichtungen des Sprachraums verdecken das mehr, als sie es zeigen: Die Ausrichtung an einer normativen Zentrierung steht infrage. Diesen Verschiebungen muß aber eine Darstellung der Orthographie Rechnung tragen, die auch deren Grundlagen durchsichtig machen will, wie es Eisenberg unternimmt.[14]
Selbstverständlich sind der Variation Schranken gesetzt (zur Leserorientierung steht i. d. R. die grammatisch definierte graphische Wortausgrenzung nicht infrage). Aber das erzwingt nicht eine mit Sanktionen bewehrte normative Vorgabe. Deutsch läßt sich heute nur noch als Familie von Varietäten verstehen. Das muß Konsequenzen für die Orthographieanalyse haben (und damit auch für die Deutschdidaktik): Die Fundierung muß in diesem Varietätenraum erfolgen (s. o.). Von der Norm abweichende Schreibungen beruhen zumeist auf möglichen (sinnvollen) Bemühungen um eine Kontrolle der schriftsprachlichen Ressourcen.[15] Die Kompetenz im Umgang mit einem solchen flexiblen System stellt erhebliche Anforderungen, weil es nicht mehr genügt, schematische Vorgaben zu memorieren. Anfänger brauchen Hilfestellung – in Ausrichtung auf ein einigermaßen durchsichtiges Referenzsystem, das (wenn es beherrscht wird!) auch Überschreibungen erlaubt.
Für ein solches Referenzsystem macht Eisenberg überzeugende Vorgaben, wie gezeigt: vor allem bessere als in der „amtlichen“ Regelung. Aber dieses Referenzsystem muß als eine Variante unter möglichen sichtbar gemacht werden. Wie Eisenberg es vorführt, ergeben sich Anhaltspunkte für seine Etablierung durch die Analyse der Produktivität der aus den Varietäten extrapolierten Regularitäten: Diese und nicht willkürlich gesetzte Normen müssen den Ausgangspunkt bilden (vgl. S. 16), ohne daß an ihnen aber ein System abzulesen wäre. Entsprechend scharf verwahrt sich auch Eisenberg gegen die Anmaßung der Kodifizierer, „Herr der Orthographie“ zu sein (S. 36 u. ö.).
Ein nicht unwichtiger Aspekt ist dabei die historische Rekonstruktion des Varietätenraums, in dem sich das moderne Referenzsystem ‚herausgemendelt‘ hat. Eisenbergs heftiges Eintreten für eine (und nur eine) Orthographie ist in der Sache nicht verkehrt. Problematisch ist nur der autoritative (mit Sanktionen bewehrte) Status: Ziel muß sein, sie als sinnvolle Vorgabe (eben ein Referenzsystem) sichtbar zu machen – wie es Eisenberg faktisch auch erfolgreich unternimmt. Daran kann (muß) eine systematische Orthographieforschung anschließen.[16]
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