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Patrizia Sutter. 2017. Diatopische Variation im Wörterbuch: Theorie und Praxis (Studia Linguistica Germanica 127). Berlin, Boston: De Gruyter. xiv, 325 S.
In diesem Werk, das im Rahmen des internationalen Projekts „Variantengrammatik des Standarddeutschen“ entstanden ist, setzt sich die Autorin mit der Darstellung der nationalen bzw. regionalen Variation in ausgewählten einschlägigen Nachschlagwerken zur deutschen Sprache kritisch auseinander. Entsprechend den grundlegenden Zielen des Projekts untersucht sie in erster Linie die Bewertungen der in den nationalen Varietäten der deutschen Sprache vorkommenden Varianten in diesen Werken und analysiert die dort gebotenen Begründungen für diese Bewertungen. Vor allem wollte sie dadurch erkunden, ob sich in diesen Werken eine explizite oder implizite Diskriminierung bestimmter Varietäten oder Varianten in Bezug auf deren standardsprachlichen Status konstatieren lässt. So versteht sich das Werk als Beitrag zur aktuellen Diskussion um die Plurizentrizität bzw. Pluriarealität der deutschen Sprache und setzt sich somit klare sprachpolitische Ziele, indem es sich nachdrücklich für die Akzeptanz eines standardsprachlichen Pluralismus einsetzt. Dazu will die Autorin darlegen, wie die diatopische Variation in der Standardsprache in Wörterbüchern adäquat und sachgerecht repräsentiert werden kann, ohne einen bestimmten Gebrauch auf ungerechte Weise zu bevorzugen.
Das Buch zeichnet sich besonders durch seine sehr klare Strukturierung und außerordentliche Leserfreundlichkeit aus. Dieser Vorzug wird bereits in dem kurzen einleitenden Kapitel deutlich, welches das Hauptanliegen des Werks und dessen Aufbau zusammenfassend darstellt und rechtfertigt. Auch geht jedem der drei Teile und jedem größeren Unterabschnitt ein kurzer Absatz voraus, in dem der Stoff und die wesentlichen Hauptpunkte resümiert werden, und schließlich kommt dazu ein sehr detailliertes Inhaltsverzeichnis sowie ein ausführliches Sachregister – das Fehlen eines solchen ist leider ein häufiges Manko in deutschsprachigen linguistischen Arbeiten. So findet der Leser problemlos zu den Abschnitten mit den Fragestellungen oder Ergebnissen, die ihn besonders interessieren. Auch fällt es leicht, Angaben oder Befunde in verschiedenen Teilen der Arbeit aufzufinden, die man dann miteinander vergleichen kann.
Im ersten Hauptteil „Theorie“ werden die wichtigsten theoretischen Grundlagen erörtert, die für die Arbeit relevant sind, und zwar die Begriffe des sprachlichen Standards (Kapitel 2), der Plurizentrizität bzw. Pluriarealität (Kapitel 3), der Lexikographie bzw. Metalexikographie (Kapitel 4) und der Wörterbuchtypen (Kapitel 5). Für die Arbeit ist insbesondere die Definition von „Standard“ von zentraler Bedeutung, denn es geht hier um die Kriterien, nach denen Wörter (und evtl. auch andere sprachliche Elemente) in Nachschlagwerke aufgenommen werden, die sich ausdrücklich zum Ziel setzen, den aktuellen standardsprachlichen Gebrauch wiederzugeben. Die Autorin erklärt die Unterschiede zwischen normbezogenen und gebrauchsbezogenen Definitionen von Standardsprache, wobei sie mit Recht auf das Problem des normbezogenen Ansatzes hinweist (S. 18) und feststellt, dass dort „die (spontane) Mündlichkeit de facto aus dem Standardbegriff ausgeschlossen“ wird. In diesem Zusammenhang ist es aber zu bedauern, dass sie keine ausführliche Erläuterung der Termini „Nonstandard“ bzw. „Substandard“ bietet, obwohl sie diese weiterhin häufig verwendet und die Kriterien zur Bestimmung einer sprachlichen Form als (nicht-)standardsprachlich letztendlich den Ausschlag geben können für die Entscheidung, ob diese – sei es mit einem entsprechenden Vermerk – in ein Wörterbuch aufgenommen werden soll.
Bei der Diskussion um die Plurizentrizität bzw. Pluriarealität der deutschen Sprache in Kapitel 3 kommt Patrizia Sutter mit gut fundierten Gründen zu dem Schluss, dass diese Modelle keineswegs konkurrierend sind, denn sowohl nationale als auch regionale Varianten können die Kriterien der Standardsprachlichkeit erfüllen. In Kapitel 4 folgt eine eingehende Darstellung der Grundsätze der Lexikographie und Metalexikographie. Dies ist, wie die Autorin klar macht, für die Analyse der untersuchten Wörterbücher wegen der in der Forschung mangelnden Einigkeit darüber, wie viele zentrale Begriffe gehandhabt werden sollen, absolut unabdingbar. Im fünften und letzten Kapitel des ersten Teils wird sodann eine präzise Typologisierung von Wörterbüchern vorgenommen. Diese soll die Grundlage für einen wissenschaftlich fundierten systematischen Vergleich zwischen den im zweiten Teil der Arbeit untersuchten Wörterbüchern bilden, die in Bezug auf Aufbau und Zielsetzung recht unterschiedlich sind.
Den Kern des Buches bildet der zweite Teil, in dem fünf Spezialwörterbücher der Gegenwartssprache in Bezug auf ihre Darstellung der diatopischen Variation eingehend analysiert werden, und zwar die zur Zeit der Untersuchung neuesten Auflagen des „Schweizerhochdeutsch-Dudens“ (Bickel & Landolt 2012), des „Variantenwörterbuchs“ (Ammon u. a. 2004), des „Zweifelsfälle-Dudens“ (Duden 2011), des „Österreichischen Wörterbuchs“ (ÖBV 2012) und des „Rechtschreib-Dudens“ (Duden 2013). Die erst nach der Drucklegung dieses Buches erschienenen, stark revidierten neuen Auflagen des „Variantenwörterbuchs“ (Ammon u. a. 2016), des „Zweifelsfälle-Dudens“ (Duden 2016) und des „Österreichischen Wörterbuchs“ (ÖBV 2016) konnte die Autorin nicht mehr berücksichtigen. Zusammenfassend ist zu sagen, dass die hier gebotenen Analysen aufschlussreich, sachgerecht und stets gut begründet sind. So hat Patrizia Sutter nach Möglichkeit mit einigen Herausgebern der untersuchten Bände längere Interviews geführt, von denen an relevanten Stellen wesentliche Auszüge wiedergegeben werden. Diese geben einen wertvollen und interessanten Einblick, wie die Herausgeber zu ihren Urteilen über sprachliche Varianten gekommen sind und nach welchen theoretischen Prämissen vorgegangen wurde. Dass die Arbeit der Herausgeber keineswegs leicht war, wird auf fast jeder Seite deutlich.
In diesem zweiten Teil geht es in erster Linie um das Hauptthema des Buches, nämlich die Einstellung zur diatopischen Variation im Deutschen und die Kennzeichnung der für eines der Vollzentren (d. h. Deutschland, Österreich und die Schweiz) typischen Varianten. Die Autorin zeigt überzeugend, dass diese Kennzeichnung in allen untersuchten Werken beträchtliche Mängel aufweist. Einige ihrer Kritikpunkte seien hier genannt: 1) Im relativ kleinen Schweizerhochdeutsch-Duden sollen ausschließlich standardsprachliche Helvetismen aufgenommen werden, die in geschriebenen hochdeutschen Texten vorkommen, aber 10 % der aufgeführten Lemmata werden als ,mundartnah‘ gekennzeichnet, ohne dass präzise Kriterien für diese Bezeichnung angegeben werden. In diesem Werk wird jedoch konsequent zwischen „deutschländischen“ und „gemeindeutschen“ Varianten unterschieden. Dagegen werden im Zweifelsfälle-Duden und im Rechtschreib-Duden Teutonismen nicht immer als solche markiert – im Gegensatz zu den Besonderheiten der Standardsprache in Österreich und der Schweiz. Wie Patrizia Sutter klar macht, ist es also immer noch der Fall, dass viele das deutschländische Deutsch für die Leitvarietät halten, während die Varietäten der anderen Vollzentren als Abweichungen davon gelten – und eventuell als nicht voll standardsprachlich. In der Tat wissen manche Deutsche nichts von der Existenz eines schweizerischen oder österreichischen Standarddeutsch, weil sie diesem nie begegnet sind. 2) Ein explizites Hauptziel des Variantenwörterbuchs war es, solchen Einstellungen entgegenzuwirken und das Bewusstsein für die Plurizentrizität der deutschen Sprache zu erhöhen, indem es sich vornahm, alle standardsprachlichen Wörter aufzunehmen, die in nur einem der deutschsprachigen Länder (bzw. in einer Region) verwendet werden. Patrizia Sutter begrüßt diese Zielsetzung im Prinzip, aber sie kann zeigen, dass auch hier die Bestimmung einer Variante als standardsprachlich problematisch wird, nicht zuletzt weil die Verfasser von einer normbezogenen Definition von Standardsprache ausgehen und viele vor allem informelle Varianten (ca. 10 % der Lemmata) als „Grenzfälle des Standards“ bezeichnen, ohne diesen Terminus zu präzisieren. 3) Im Gegensatz zum „Schweizerhochdeutsch-Duden“, der grundsätzlich nur Besonderheiten des Standarddeutschen in der Schweiz aufführt, versteht sich das Österreichische Wörterbuch als umfassendes Wörterbuch der deutschen Standardsprache in Österreich, insbesondere für den schulischen Gebrauch. Gemäß dieser Zielsetzung setzt es das Österreichische als Leitvarietät und verzeichnet die Unterschiede zu den anderen Ländern gemeinhin als „Abweichungen“, was Sutter (S. 172) mit Recht kritisiert. Im Großen und Ganzen beurteilt sie das Werk aber als leicht zugänglich und leserfreundlich, jedoch wurde es ihrer Meinung nach etwas unsystematisch ohne Bezugnahme auf ein verlässliches Korpus zusammengestellt. Außerdem werden die Kriterien für die Kennzeichnung der Lemmata als standardsprachlich, umgangssprachlich oder dialektal sowie deren Zuweisung zu einer bestimmten Region innerhalb von Österreich nicht mit der erforderlichen Präzision erläutert.
Im dritten Teil der Arbeit wird in Kapitel 11 ein Vergleich zwischen den untersuchten Wörterbüchern unternommen. Dies geschieht, indem einige Varianten ausgesucht werden, die mit verschiedenen diaphasischen oder diatopischen Markierungen in Bezug auf Standardsprachlichkeit versehen sind, wie z. B. ,landschaftlich‘, ,mundartnah‘ oder ,Grenzfall des Standards‘. Diese Angaben werden dann mit den Belegen im Korpus des Projekts „Variantengrammatik des Standarddeutschen“ verglichen, wobei sich klar herausstellt, dass die Markierungen in den untersuchten Wörterbüchern uneinheitlich und unsystematisch sind. Sie genügen selten den Ansprüchen einer echten wissenschaftlichen Präzision, sie sind für den Wörterbuchbenutzer wenig brauchbar und verraten nicht selten eine stillschweigende Annahme des Vorrangstatus des deutschländischen Deutsch. Die aufgeführten Beispiele sind hochinteressant. So stimmt die in vielen Nachschlagwerken wiederholte Behauptung nicht, dass bei der Dublette nutzen/nützen die umlautlose Variante vorwiegend im Norden des Sprachraums vorkomme, nützen dagegen im Süden, denn in der Tat ist nutzen überall gebräuchlicher. Es ist nur schade, dass die Autorin im Rahmen ihrer Arbeit nicht mehr Beispiele aus diesem Korpus bringen konnte.
Im 12. Kapitel wird ein Fazit aus dem Vergleich gezogen, und hier werden die Mängel der untersuchten Wörterbücher in Bezug auf ihre Behandlung der diatopischen Variation im Deutschen und ihre ungenügende Beachtung der Plurizentrizität zusammenfassend dargestellt. Patrizia Sutter ist auf jeden Fall zuzustimmen, wenn sie schreibt, dass dem Benutzer klar aufgezeigt werden soll, „wie die Verfasser eines Wörterbuchs bei der Erhebung von Varianten vorgehen und nach welchen Kriterien sie die Standardsprachlichkeit der Varianten bewerten“ (S. 269). Diesen Punkt führt sie im 13. Kapitel „Handlungsempfehlungen und Ausblick“ weiter aus. Doch an dieser Stelle begegnet man noch einmal dem eingangs erwähnten Problem der Bestimmung von Standardsprachlichkeit, denn hier befindet man sich auf sehr unsicherem Terrain, vor allem weil die Einstellung dazu von (auch gebildeten) laienhaften Muttersprachlern und sprachwissenschaftlichen Experten sehr weit auseinandergehen kann. Durchschnittliche Benutzer erwarten von einem sprachlichen Nachschlagwerk, dass dieses sie über die verbindliche „korrekte“ Form informiert, denn nach der „Ideologie des Standards“ (vgl. Milroy & Milroy 1999) stellen sie sich die Sprache als unveränderlich und variationslos vor. Solche Vorstellungen über Sprache, die Watts (2011) mit Recht als Mythen bezeichnet, sind weit verbreitet und scheinen für menschliche Gesellschaften charakteristisch. Der Autorin ist natürlich grundsätzlich zuzustimmen, wenn sie eine gebrauchsbezogene Bestimmung von Standardsprachlichkeit vorzieht und dementsprechend schreibt, dass „als Hauptkriterium zur Einordnung einer Variante zum Standard oder zum Nonstandard die Vorkommenshäufigkeit herangezogen werden [kann]“ (S. 272). Bei der Standardsprachlichkeit geht es jedoch auch um eine gesellschaftliche Konvention, wobei die soziale Akzeptanz einer Form bzw. einer Variante auch eine bedeutende Rolle spielen kann. Im Deutschen kann man z. B. nicht immer sicher sein, ob im informellen Gespräch häufig verwendete Formen in der Tat als standardsprachlich angesehen werden – die Markierung ,umgangssprachlich‘ in vielen Nachschlagwerken scheint auf das Gegenteil zu verweisen. Und wenn man in einem österreichischen Restaurant Kartoffel auf der Speisekarte sieht und nicht Erdäpfel, hängt das sicher von der Vorstellung des Inhabers ab, was seine Kundschaft zu akzeptieren gewillt ist. So machen die Herausgeber von Wörterbüchern eine Gratwanderung, denn sie bewegen sich in dem engen Raum zwischen der sprachlichen Realität und den Erwartungen und Vorstellungen der Wörterbuchbenutzer.
Die Aufmachung des Buches ist im Großen und Ganzen exzellent, Druckfehler lassen sich kaum ausmachen, aber es muss gesagt werden, dass die Reproduktion der Beispiele aus den Wörterbüchern alles andere als gut gelungen ist. Diese sind nämlich in einer sehr kleinen Drucktype wiedergegeben, die darüber hinaus etwas blass ist, so dass der Rezensent sie eigentlich nur mit Hilfe einer Lupe lesen konnte. Bei diesem sonst sehr zu empfehlenden Buch ist das einfach schade.
Literatur
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