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Jürgen Mittelstraß, Jürgen Trabant & Peter Fröhlicher. 2016. Wissenschaftssprache. Ein Plädoyer für Mehrsprachigkeit in der Wissenschaft. Stuttgart: J. B. Metzler. 50 S.
In dem hier zu besprechenden Büchlein legen die Autoren „Analysen und Empfehlungen“ (S. 7) zum Thema Wissenschaftssprache vor. Diese rühren aus den Resultaten einer von den Wissenschaftsräten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz initiierten Arbeitsgruppe her, die sich seit 2012 insgesamt sechs Mal zum genannten Thema an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zur Reflexion über die globale Situation der Wissenschaftssprache getroffen hatte. Die Arbeitsgruppe ist Teil einer engeren Zusammenarbeit der drei Akademien. Die drei Autoren bringen verschiedene Felder der Expertise zusammen: So ist Jürgen Mittelstraß Philosoph mit dem Schwerpunkt Wissenschaftstheorie, Jürgen Trabant Sprachwissenschaftler u. a. mit den Schwerpunkten Sprachphilosophie, Semiotik und Mehrsprachigkeit, während Peter Fröhlicher als Romanist einen eigenen Blick auf die komplexe Mehrsprachigkeitskonstellation in der Schweiz mitbringt.
Auf knapp fünfzig Seiten fassen die Autoren die Erträge ihrer Diskussionen zusammen, die wie folgt gegliedert sind: Zunächst steht ein mit „Sprache und Wissen“ überschriebener Abschnitt (S. 11–16). Danach werden „Historische Entwicklungen“ (S. 17–25) aufgearbeitet. Dann wird auf „Disziplinäre Unterschiede“ (S. 26–30) eingegangen. Es schließt sich ein Teil zu „Globalisierung und Sprachhegemonie“ (S. 31–34) an. Der darauf folgende Abschnitt trägt den Titel „Kritik der Einsprachigkeit – weitere Aspekte“ (S. 35–38), wonach abschließend „Empfehlungen“ (S. 39–43) ausgesprochen werden. Die Anmerkungen (S. 44–46) sowie das Literaturverzeichnis (S. 47–50) nehmen sich ähnlich kompakt aus.
Die Autoren haben für ihren Band ein handliches, überschaubares Format gewählt, das vor der Lektüre erwarten lässt, dass die vertretenen Thesen sich möglicherweise an ein breiteres Publikum richten. V. a. Jürgen Trabant hat in den letzten Jahren mehrere Bände vorgelegt, die sich explizit an einen nicht ausschließlich aus ExpertInnen bestehenden RezipientInnenkreis gerichtet haben (etwa Globalesisch oder was? Ein Plädoyer für Europas Sprachen 2014, bei dem der zum hier besprochenen Band analoge Titel auffällt). Diese Erwartung kann jedoch nicht erfüllt werden; das deutet sich schon beim Blick auf die Titel der einzelnen Abschnitte (s. o.) an. Die Autoren versuchen, einen äußerst dicht gehaltenen Überblick über die Entwicklungen im Bereich der Wissenschaftssprache zu geben und haben dabei doch eher ihre eigene Zunft im Blick als größere Verkaufszahlen und mediale Sichtbarkeit.
Im Folgenden blicken wir genauer auf die einzelnen Abschnitte: Im Abschnitt „Sprache und Wissen“ werden v. a. die Überlegungen Herders und Alexander von Humboldts zum Verhältnis von Sprache und Welt zueinander in Beziehung gesetzt. Etwas eng gefasst ist der Fokus auf den Bereich der „Theoriesprache“ (S. 12), andere fachsprachliche Aspekte werden hier nicht diskutiert. Die Repräsentation von Wissen und Erkenntnis durch Sprache wird im Folgenden sehr verdichtet dargestellt (S. 13–15). Die Schlussfolgerung, dass die Wissenschaft „viel zu facettenreich, zu vielschichtig, zu pluralistisch ist, wozu auch seine sprachliche Verfasstheit gehört, als dass [sie] in einer einzigen Sprache“ (S. 16) stattfinden könnte, wirkt in diesem Zusammenhang sehr unvermittelt.
Überzeugender hingegen gelingt zunächst die Darstellung der Abwendung vom Lateinischen als dominanter Wissenschaftssprache in Mittelalter und Früher Neuzeit seit dem 16. Jahrhundert durch die Volkssprachen (für die Entwicklung vom Lateinischen hin zum Deutschen vgl. v. a. Schiewe 1996). Hierbei werden die großen europäischen Entwicklungslinien insgesamt nachvollziehbar nachgezeichnet. Trotzdem kommt der nachfolgend zitierte Befund, nachdem man eine Seite vorher von Galilei, Bacon, Locke, Hegel und Diderot las, doch überraschend:
„Der erste Weltkrieg beschädigt die Stellung des Deutschen als internationaler Wissenschaftssprache, der zweite Weltkrieg vollendet ihren Verlust. Die deutschsprachige Wissenschaft kompensierte dies durch den raschen Übergang zur englischsprachigen Wissenschaft im internationalen Bereich.“ (S. 22)
Obwohl die Autoren in der zeitlichen Einordnung Recht haben mögen, kann der zweite Teil des Zitats nicht unkritisch stehen gelassen werden. Was ist ein ,rascher Übergang‘ und wie sieht dieser aus? Diese These ist viel zu vage. Es wird nicht zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit differenziert (wie es etwa bei der Philosophin Hannah Arendt interessant wäre, die auf ‚Deutsch‘ dachte, aber auf Englisch schrieb), und es wird nicht hinterfragt, ob es Fächer gab bzw. gibt, in denen das Deutsche weiter eine Rolle spielt(e) (die Germanistik als bestes Beispiel). Wichtig hingegen sind die Hinweise auf die Wirkungsmacht der Terminologie (am Beispiel der deutschsprachigen Philosophie und des Terminus Einbildungskraft, S. 24), die in der Ursprungssprache beibehalten wird.
Im Bereich der „Disziplinären Unterschiede“ wird der Einfachheit halber die Dichotomie von Natur- und Geisteswissenschaften zu Grunde gelegt (vgl. S. 27), obwohl elaboriertere fachsprachliche Differenzierungen bekannt sind (vgl. etwa die horizontale Gliederung in Roelcke 2010: 33, die u. a. Medizin, Technik und Recht mit einbezieht). Während für die Naturwissenschaften eine klare Tendenz zur Einsprachigkeit (Englisch) ausgemacht wird, tendierten die Geisteswissenschaften eher zur Mehrsprachigkeit (vgl. S. 29). Hier scheint implizit das im Titel des Bandes angekündigte Plädoyer für Mehrsprachigkeit auf. Implizit scheint die Mehrsprachigkeit neben dem Deutschen in diesem Zusammenhang v. a. auch das Französische zu umfassen (Trabant und Fröhlicher sind Romanisten!), denn beide Sprachen werden bei den Auswertungen der anglozentrischen Indices wie dem Web of Science (S. 29) nicht erfasst.
Damit ist der Boden zur Analyse der Globalisierungsperspektive bereitet. Mit der Dominanz des Englischen verbunden werden immer stärker um sich greifende Ökonomisierungstendenzen in den Wissenschaften zu Recht kritisiert. Dies gipfelt im Begriff der „Hegemonialität“ (S. 32) des Englischen. Aufgrund der tatsächlichen Sprachverwendung, die allzu oft ein bloßes „basic English“ (S. 32; Hervorh. i. O.) sei, habe dies (ebd.) den Charakter einer Karikatur des Englischen, einer Sprache, die per se – speziell im akademischen Gebrauch – natürlich reich genug an Ausdrucksformen sei, um in angemessener Weise als dominante Sprache der Wissenschaften und lingua franca gelten zu dürfen.
Die weiteren Aspekte der „Kritik der Einsprachigkeit“ (S. 35) sind u. a. eine höhere employability der anglophonen WissenschaftlerInnen, die bessere Jobchancen hätten, da sie auf Englisch publizierten. Dazu wird eine u. U. in Relation ungerechtfertigt weite Verbreitung von englischsprachigen Forschungsresultaten hinsichtlich ihrer Relevanz (im Vergleich zu möglicherweise relevanterer anderssprachiger Literatur, die aber nicht wahrgenommen wird) bis hin zu einer durch die betonte Monolingualität problematische „Horizontbegrenzung“ (S. 36) genannt; bei letzterer werden nicht-englische Texte ignoriert. Selbst die British Academy mache sich angesichts solcher Tendenzen für Mehrsprachigkeit stark (vgl. S. 36f.).
Empfehlungen
Die abschließend formulierten Empfehlungen umfassen die folgenden Punkte: Es wird zusammenfassend erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch, dazu historisch-heuristisch und antiökonomistisch gegen die wissenschaftliche Einsprachigkeit argumentiert. Die Autoren plädieren erstens für eine „Institutionalisierung einer gestuften Mehrsprachigkeit in der akademischen Lehre“ (S. 41). Dies meint eine Heranführung an die Wissenschaften in den jeweiligen (landeseigenen) Kultursprachen, bevor der Schritt hin zur Rezeption von Wissenschaft auch in anderen Sprachen gegangen wird. Zweitens wird die „Beibehaltung und Förderung von Publikationsformen in den tradierten Wissenschaftssprachen“ (ebd.), inklusive der Monographie, eingefordert. Drittens steht die Öffnung der (siehe oben) als problematisch empfundenen anglozentrischen Zitationsindices für die anderen Sprachen und die separate Einführung eines europäischen Index (zum existierenden nicht unproblematischen ERIH-Index, vgl. Hall 2015, wird an dieser Stelle keinerlei Position bezogen). Viertens wird, v. a. zu Gunsten der Geisteswissenschaften, stärker eine Berücksichtigung der nachhaltigen Wirkung von Publikationen gefordert. Damit ist gemeint, dass in den Geisteswissenschaften potenziell öfter Forschungen erst nach Jahren ,entdeckt‘ und wichtig werden, während solche in den Naturwissenschaften eher völlig überholt sind. Fünftens steht eine Forderung nach der qualitativen Einschätzung wissenschaftlicher Beiträge (auch) dahingehend, wie die Texte außerhalb des englischen Sprachraums wahrgenommen werden. Warum diese Forderung nicht direkt mit dem dritten Punkt (Indices) verknüpft ist, erschließt sich hier nicht. Sechstens wird die Übersetzung zentraler Publikationen aus dem Englischen in andere Sprachen und von „tradierten Wissenschaftssprache[n] in andere tradierte Wissenschaftssprachen“ (S. 42) gefordert. Das emergente Chinesisch ist hier aus meiner Sicht (noch) außen vor, denn nach meiner Lesart gehört es nicht zu den ,tradierten Wissenschaftssprachen‘, so wie die Autoren diese verstehen. Abschließend steht die zentrale Forderung, dass man als AutorIn in der scientific community unabhängig von der gewählten Sprache „gelesen und verstanden wird“ (ebd.).
Insgesamt diskutiert der Band viel Relevantes, manchmal aber zu verdichtet, um weiter in die auch populäre Diskussion hineinzuwirken, in der oft genug die Emotio über die Ratio dominiert. Unverständlich scheint mir die Nicht-Berücksichtigung von Ulrich Ammons (2015) Band zur Stellung der deutschen Sprache in der Welt, der auch zur Situation des Deutschen als Wissenschaftssprache Stellung bezieht. In jedem Fall wird es den Autoren gelingen, mit ihrer Publikation – auch durch die Kürze und Prägnanz – neue InteressentInnen aus dem Fach für die Thematik zu gewinnen.
Literatur
Ammon, Ulrich. 2015. Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt. Berlin, Boston: De Gruyter.10.1515/9783110241075Search in Google Scholar
Hall, Christopher. 2015. Aufgaben, Gefahren und Aussichten für die deutsche Wissenschaftssprache im 21. Jahrhundert. In: Michael Szurawitzki et al. (Hg.). Wissenschaftssprache Deutsch – international, interdisziplinär, interkulturell. Tübingen: Gunter Narr, 163–175.Search in Google Scholar
Roelcke, Thorsten. 42010. Fachsprachen. Berlin: Erich Schmidt.Search in Google Scholar
Schiewe, Jürgen. 1996. Sprachenwechsel – Funktionswandel – Austausch der Denkstile. Die Universität Freiburg zwischen Latein und Deutsch (Germanistische Linguistik 167). Tübingen: Max Niemeyer. 10.1515/9783110941029Search in Google Scholar
Trabant, Jürgen. 2014. Globalesisch oder was? Ein Plädoyer für Europas Sprachen. München: C. H. Beck.10.17104/9783406659911Search in Google Scholar
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