Reviewed Publication:
Diana & Alexandra L. Gebele Zepter (Hg.). 2016. Inklusion: Sprachdidaktische Perspektiven. Theorie, Empirie, Praxis (KöBeS – Kölner Beiträge zur Sprachdidaktik 11). Duisburg: Gilles & Francke.
Einleitung
Spätestens seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (2009) steht Deutschland vor der Aufgabe, sein Bildungssystem und damit auch sein Schulsystem inklusiv zu gestalten. Da Sprache sowohl Gegenstand als auch Medium von Lehr-Lernprozessen ist, ergeben sich auch für die Sprachdidaktik sowie die Linguistik als ihre Bezugswissenschaft neue wissenschaftliche Aufgaben. Die sprachdidaktische Forschung hat allerdings gerade erst mit der Bearbeitung der zahlreichen theoretischen und empirischen Desiderata hinsichtlich der Umsetzung eines inklusiven (Fach-)Unterrichts begonnen.
Eine Einführung in zentrale Fragestellungen einer inklusiven Sprachdidaktik und erste Antworten aus unterschiedlichen Disziplinen präsentieren Diana Gebele und Alexandra L. Zepter in dem vorliegenden Sammelband, der aus den vier Kapiteln 1. „Theorie und Diskurs“, 2. „Empirie und Diagnostik“, 3. „Unterricht und Förderung“ und 4. „Professionalisierung der Lehrer*innenbildung“ besteht. Die Autorinnen und Autoren der einzelnen Beiträge stammen u. a. aus der Sonderpädagogik, Inklusionspädagogik, Deutschdidaktik, Sprachheilpädagogik sowie der Grundschuldidaktik und bringen ihre je spezifischen Perspektiven auf das Thema ein.
Die Herausgeberinnen stellen in ihrer Einleitung in Bezug auf den inklusiven Fachunterricht die folgende, aus ihrer Sicht bislang empirisch unbearbeitete zentrale Frage: „Bedeutet die Potenzierung der Heterogenität ‚nur‘ eine graduelle Steigerung oder führt sie zu einer kategorisch neuen Lehr-Lern-Situation in unserem Fach?“ (S. 7).
Die Beiträge im Einzelnen
Aus der Perspektive der Pädagogik lautet die Antwort auf diese Frage, dass inklusiver Unterricht kein kategorisch andersartiger Unterricht als „herkömmlicher“ Unterricht ist. So zeigen Rolf Werning & Ann-Kathrin Arndt in ihrem Beitrag „Inklusive schulische Bildung – Grundlagen und Perspektiven“, der den Auftakt des ersten Kapitels „Theorie und Diskurs“ bildet, dass für den inklusiven Unterricht dieselben Qualitätsmerkmale gelten wie für guten Unterricht ganz allgemein. Der Beitrag stellt eine Einführung in den Diskurs um Inklusion im Bildungsbereich dar und zeigt u. a. auf, dass bis heute eine klare Definition des Begriffs fehlt (vgl. S. 21). Ganz grundsätzlich kann jedoch zwischen einem engen Inklusionsbegriff (Fokus auf Menschen mit Behinderungen bzw. sonderpädagogischem Förderbedarf) und einem weiten Inklusionsbegriff (Fokus auf Heterogenitätsmerkmale verschiedener Art) unterschieden werden (ebd.).
Im nächsten Beitrag mit dem Titel „Inklusive sprachliche Bildung – Perspektiven aus der Sicht der Sprachdidaktik“ beschreibt Michael Becker-Mrotzek die fachliche Ausgangslage für die Entwicklung eines inklusiven Deutschunterrichts und weist auf die vielen bestehenden wissenschaftlichen Desiderata hin. Er plädiert abschließend für die aus seiner Sicht alternativlose gemeinsame Bearbeitung dieser Desiderata unter Beteiligung der unterschiedlichen relevanten Disziplinen (Fachdidaktik, Bildungswissenschaft, pädagogische Psychologie, Sonderpädagogik).
Im dritten Beitrag werden erste konzeptionelle Überlegungen zum Umgang mit „Heterogenität im Deutschunterricht“ (Anne Berkemeier & Sabine Wilmes) vorgestellt. Die Basis zur Förderung individuell vorhandener Kompetenzen ist die Individualisierung des Unterrichts auf der Grundlage von Kompetenzeinschätzungen (vgl. S. 65f.). Die unterschiedlichen sprachlichen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler könnten durch sprachliche Differenzierung berücksichtigt werden, z. B. hinsichtlich lexikalischer und grammatischer Komplexität (vgl. S. 67).
Vor dem Hintergrund der Notwendigkeit, Lernmedien und -gegenstände sprachlich an die unterschiedlichen Voraussetzungen der Lernenden anzupassen und ggf. zu vereinfachen, stellt sich auch die Frage, welche Rolle „Leichte Sprache“ im schulischen Kontext spielen könnte. Bettina M. Bock problematisiert in ihrem Beitrag „‚Leichte Sprache‘ aus Perspektive einer inklusiven Sprachdidaktik“, dass diese bisher nicht auf die Ermöglichung von Kompetenzentwicklung ausgerichtet ist. „Leichte Sprache“ dürfe in einem didaktischen Kontext jedoch nicht als Zielnorm aufgefasst werden, „sondern sie kennzeichnet einen bestimmten Stand des Wissens und Könnens, der aber perspektivisch zu überwinden ist (transitorische Sprachform und Norm)“ (S. 85). Darüber hinaus mangele es an empirischer Forschung zur tatsächlichen Wirksamkeit „Leichter Sprache“ für Verstehensprozesse unterschiedlicher Zielgruppen (S. 103). Für die angewandte Linguistik eröffnet sich an dieser Stelle ein neues und gesellschaftlich sehr bedeutsames Forschungsfeld.
Die Herausgeberinnen des Bandes lenken in ihrem Beitrag mit dem Titel „Sprachsensibler Fachunterricht im inklusiven Kontext“ die Aufmerksamkeit darauf, dass sprachliche Kompetenzen die Grundlage für den Lernerfolg in jeglichem Fachunterricht sind. Ebenso wie zuvor Bock in Bezug auf den unterrichtlichen Einsatz „Leichter Sprache“ argumentiert hat, gehen die Autorinnen davon aus, dass sprachliche Unterstützung nicht nur zu einer Vereinfachung von Lerngegenständen führen darf, sondern immer dem Prinzip der Entwicklungsorientierung verpflichtet sein muss (vgl. S. 112). Ein besonderes Potenzial dafür sehen die Autorinnen in dem Scaffolding-Konzept, das in heterogenen Lerngruppen eine sprachliche Unterstützung unterschiedlicher Intensität ermöglicht.
Das zweite Kapitel des Sammelbandes („Empirie und Diagnostik“) befasst sich mit forschungsmethodologischen und diagnostischen Fragen inklusiver Bildung und wird mit dem Beitrag „Forschungsdesigns zur Untersuchung kausaler Beziehungen in den empirischen Bildungswissenschaften“ von Anja Schaefer, Pawel R. Kulawik & Jürgen Wilbert eröffnet. In diesem Beitrag werden verschiedene Forschungsdesigns mit unterschiedlicher Erklärungskraft für kausale Zusammenhänge vorgestellt und Vor- und Nachteile diskutiert. Da der Text sehr allgemein ausfällt und nicht speziell auf die Erforschung inklusiver Lehr-Lernprozesse eingeht, erschließt sich nicht ganz, warum der Beitrag gerade in diesem Sammelband vertreten ist.
Einschlägiger erscheint hier der Beitrag „Lautes Denken als Methode zur Forschung und Diagnostik in inklusionspädagogischen Handlungsfeldern“ von Moritz Börnert, Jana Grubert & Jürgen Wilbert. Die Autoren und die Autorin zeigen auf, warum sich Lautes Denken im Kontext von inklusivem Unterricht sowohl als Forschungsmethode als auch als Methode zur Initiierung selbstreflexiver Prozesse von Lehrkräften, zur Anregung bestimmter Denkprozesse bei Schülerinnen und Schülern sowie zur Förderung von Kompetenzentwicklung eignet.
Aus linguistischer Perspektive am interessantesten in diesem Kapitel ist der Beitrag Monika Rothweilers mit dem Titel „Spezifische Sprachentwicklungsstörung und früher kindlicher Zweitspracherwerb: Grammatische Defizite und Konsequenzen für die Diagnostik“. Rothweiler zeigt anhand unterschiedlicher Studien zum Grammatikerwerb auf, dass eine Spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES) entgegen anderer Annahmen bei zweisprachigen Kindern nicht stärker ausfällt als bei einsprachigen Kindern. Genau wie einsprachige haben auch zweisprachige Kinder mit SSES im Deutschen Schwierigkeiten mit der Subjekt-Verb-Kongruenz und bei der Besetzung der finiten und nicht-finiten Verbpositionen. Die präsentierten Ergebnisse sind eine wertvolle Grundlage, um Über- oder Unterdiagnosen von SSES bei zweisprachigen Kindern zu vermeiden.
Zentral für die Sprachdidaktik ist das vierte Kapitel des Sammelbandes, das Beiträge zu den Themen „Unterricht und Förderung“ vereint. Deutlich wird in diesem Kapitel auch die Rolle unterschiedlicher linguistischer Teildisziplinen (z. B. Kognitive Linguistik, Textlinguistik) als Bezugswissenschaft für die Sprachdidaktik. Den Auftakt des Kapitels bildet der Beitrag „Vermittlung strategischer Lesekompetenz im inklusiven Unterricht“ von Andreas Mayer. Nach der Präsentation von linguistischen Erkenntnissen zum Textverständnis illustriert Mayer Lesestrategien, die sich zur Förderung der Lesekompetenz von schwachen Leserinnen und Lesern eignen.
Die nächsten zwei Beiträge des Kapitels widmen sich dem Schreiben. Überzeugend plädieren Sascha Zielinski & Michael Ritter in ihrem Beitrag „Der erweiterte Textbegriff im inklusiven Deutschunterricht“ anhand eines (medial) schriftlichen Erzähltextes und drei medial mündlicher, aber konzeptionell schriftlicher Versionen dieses Erzähltextes für eine Erweiterung des unterrichtlichen Schreib- und Textbegriffes. Die Analyse dieser unterschiedlichen Texte eines Erstklässlers zeigt, dass das Erzählen als sprachliche Handlungsform dem Lernenden im Medium der Schriftlichkeit große Schwierigkeiten bereitet, nicht aber in den mündlich produzierten Versionen.
Auch Benjamin Uhl beschäftigt sich mit dem Schreiben narrativer Texte in der Grundschule und stellt in seinem Beitrag „Zwischen Grammatik und Text – zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Gemeinsames sprachliches Lernen mit Geschichtenplänen“ das Förderinstrument des Geschichtenplans vor. Geschichtenpläne visualisieren die Grundstruktur eines erzählenden Textes durch eine Kombination aus Bild-Text-Elementen und eignen sich damit insbesondere für die Förderung von sprachlich schwachen Kindern in den Bereichen textuelles, grammatisches sowie ästhetisches Lernen. Im Sinne des Scaffolding ermöglicht die allmähliche Reduktion der Vorgaben zu Struktur, sprachlichen Mitteln und Inhalt der Erzählung außerdem das gemeinsame Lernen in leistungsheterogenen Gruppen.
Katrin Hee stellt in ihrem Beitrag „Der Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören: Möglichkeiten und Herausforderungen eines inklusiven Unterrichts am Beispiel Erzählen“ die Teilkompetenzen des mündlichen Erzählens sowie entsprechende Fördermöglichkeiten in den Mittelpunkt. Ähnlich wie Zielinski & Ritter mit Bezug auf den Textbegriff plädiert Hee für eine Erweiterung des Erzählbegriffs, „der auch dialogische Formen des Erzählens genauso wie non- und paraverbale Elemente einschließt“ (S. 338). Sie erkundet in ihrem Beitrag explizit Möglichkeiten zum Ausbau der Erzählfähigkeit von Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt Sprache (vgl. S. 322), allerdings ohne diesen präzise zu definieren. Deutlich wird dies beispielsweise in der Aussage, dass Sprachentwicklungsstörungen „auch von Laien erkannt werden können” und somit auch sonderpädagogisch unausgebildete Lehrkräfte passende Fördermaßnahmen entwickeln könnten (vgl. S. 319). Diese bedürfen in der Regel jedoch einer differenzierten Diagnostik und sprachtherapeutischer Maßnahmen (vgl. Schöler & Welling 2007).
Das Kapitel „Unterricht und Förderung“ schließt mit einem Beitrag von Matthias Knopp, der sich mit „Wortschatzvermittlung im Deutschunterricht – unter besonderer Berücksichtigung inklusiver Lehr-Lern-Kontexte“ beschäftigt. Unter Rückgriff auf Erkenntnisse der Kognitiven Linguistik beschreibt er zunächst die Struktur und Funktionsweise des mentalen Lexikons. Anschließend werden Grundlagen zu Wortschatzerwerb und -vermittlung dargelegt. Knoop beendet seinen Beitrag mit Überlegungen zu potenziell gewinnbringenden Konzepten zur Wortschatzvermittlung in stark heterogenen Lerngruppen.
Den Abschluss des Sammelbandes bildet schließlich das Kapitel „Professionalisierung der Lehrer*innenbildung“, das einzig den Beitrag „Entwicklung von Lehrerprofessionalität unter inklusiver Perspektive – Impulse für eine reflexive Praxis“ (Bianca Roters & Susanne Eßer) umfasst. Reflexionskompetenz ist laut den Autorinnen ein zentraler Bestandteil von Lehrerprofessionalität in inklusiven Lernumgebungen. Sie stellen deshalb ein Unterrichtsentwicklungsmodell für den binnendifferenzierenden Englischunterricht (vgl. S. 381) vor, das für Reflexionsprozesse von (angehenden) Lehrerinnen und Lehrern genutzt werden kann, und illustrieren dies am Beispiel des Forschenden Lernens.
Fazit
Nach dem Überblick über die einzelnen Beiträge möchte ich schließlich auf die von den Herausgeberinnen eingangs in Bezug auf eine inklusive Sprachdidaktik gestellte Frage zurückkommen: „Bedeutet die Potenzierung der Heterogenität ‚nur‘ eine graduelle Steigerung oder führt sie zu einer kategorisch neuen Lehr-Lern-Situation in unserem Fach?“ (S. 7). Nach der Lektüre des Sammelbandes bleibt der Eindruck, dass die Entwicklung hin zu inklusivem Unterricht nicht zu einer kategorisch neuen Situation für die Sprachdidaktik führt. Im Großen und Ganzen wird in den Beiträgen auf bereits bestehende und bewährte Konzepte zurückgegriffen; dies zeigt sich insbesondere im dritten Kapitel hinsichtlich der Vorschläge zur Umsetzung inklusiven Sprachunterrichts. Nichtsdestoweniger wird in allen Beiträgen deutlich, dass es bisher an empirischer Forschung zur Wirksamkeit dieser Unterrichtskonzepte in stark heterogenen Gruppen fehlt. Dazu gehören für die Sprachdidaktik auch Forschungsergebnisse aus der Linguistik, wie es sich beispielsweise im Bereich der „Leichten Sprache“ zeigt (vgl. den Beitrag von Bettina M. Bock). Auch wenn genuin linguistische Forschung in diesem Sammelband nicht im Mittelpunkt steht, so können sich interessierte Linguistinnen und Linguisten mit dieser Publikation gleichwohl einen guten Überblick über den Diskurs und den Stand der Forschung im Bereich des inklusiven Sprachunterrichts und damit über mögliche Forschungsdesiderata für die Linguistik verschaffen.
Literatur
Schöler, Hermann & Alfons Welling (Hg.) 2007. Sonderpädagogik der Sprache (Handbuch Sonderpädagogik, 2 Bände). Göttingen u. a.: Hogrefe. Search in Google Scholar
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