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BY-NC-ND 4.0 license Open Access Published by De Gruyter January 22, 2018

Ekkehard Felder. 2016. Einführung in die Varietätenlinguistik (Germanistik Kompakt). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 176 S.

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Ekkehard Felder. 2016. Einführung in die Varietätenlinguistik (Germanistik Kompakt). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 176 S.


Gerade im deutschsprachigen Raum lässt sich ein starkes Interesse an einer „Varietätenlinguistik“ feststellen, die sich im Gegensatz etwa zur Dialektologie und zur Soziolinguistik einer umfassenden Beschreibung sprachlicher Variation in einer Sprachgemeinschaft widmet und die dabei von der Beschreibbarkeit sprachlicher Varietäten ausgeht, die sprachintern und -extern bestimmbar sind. Dabei wird – so auch hier – häufig auf die Tradition der Flydal-Coseriu’schen Varietätenbegriffe (Coseriu 1980) Bezug genommen, deren ursprüngliche Finalität in der Identifikation von syntopischen, synstratischen und symphasischen états de langue als Objekte der strukturellen Analyse bestand und die als Ausgangspunkt für neuere Ansätze dienen, die eine grössere Bandbreite kommunikativer Aspekte mit einbeziehen.

Der vorliegende Band bietet in diesem Sinne eine umfassende Einführung in die Varietätenlinguistik, die sich das Ziel setzt, neben traditionellen Varietätenfaktoren wie Raum, Gruppe und Situation auch eine Reihe weiterer Aspekte wie Medialität, Textualität, Fachsprachlichkeit und diachrone Verankerung zu einer umfassenden Synthese zusammenzuführen. Dies geschieht durch den ganzen Band hindurch auf der Basis eines eigenständigen, multidimensionalen Modells, das bereits zu Beginn vorgestellt und dann durch das ganze Buch hindurch immer wieder aufgerufen und detailliert erläutert wird.

Der Band ist in sechs Kapitel eingeteilt. Im ersten Kapitel werden einige Grundfragen der Varietätenlinguistik mit Bezug auf deutsche Beispiele aus verschiedenen sprachlichen Ebenen angerissen und der hier vorgeschlagene, multidimensionale Begriff der Varietät eingeführt sowie die Varietäten- von der Soziolinguistik abgegrenzt. Das Kapitel mündet in der erstmaligen Vorstellung des genannten Modells, das vier Dimensionen unterscheidet, die „Ausdruckssystem“, „Inhaltssystem“, „Medium und Medialität“ sowie „diachrone Entwicklung und synchrone Einordnung“ betitelt werden. Aus diesen vier Dimensionen ergibt sich ein Raster, das den Anspruch hat, ein Benennungsschema für alle möglichen variationellen Phänomene zu bieten. Beispiele sind etwa die gesprochene (Dimension Medium/Medialität) dialektale (Dimension Ausdruckssystem) Alltagssprache (Dimension Inhaltssystem) des Neuhochdeutschen (Dimension diachrone Entwicklung/synchrone Einordnung, S. 18) oder die geschriebene standardlektale Fachsprache des Neuhochdeutschen. In Kapitel 2 werden „Schlüsselwörter der Varietätenlinguistik“ vorgestellt und konzeptionell eingeordnet: u. a. Mehrsprachigkeit, Hochsprache, Standardsprache, Mündlichkeit/Schriftlichkeit, Nähe/Distanz, Text-/Gesprächssorte, Norm, Register, Stil, Idiolekt, Markiertheit und Diasystem. Kapitel 3 liefert eine zweite, nun ausführlichere Darstellung des Vier-Dimensionen-Modells und ein Analyseraster, demzufolge ein sprachliches Variationsphänomen zunächst bezüglich der sprachlichen Strukturierungsebene und dann bezüglich der genannten vier Dimensionen eingeordnet wird. Dabei taucht die Ebene des Textes hier einerseits als sprachliche Strukturierungsebene (S. 71), andererseits als Ebene des konkreten, situationellen Sprechens oder Schreibens (S. 77) auf. Es folgen zwei Kapitel, die Eigenschaften von Varietäten unter zwei Gesichtspunkten betrachten, nämlich Kapitel 4 unter dem Gesichtspunkt innersprachlicher Merkmale und Kapitel 5 bezüglich aussersprachlicher Merkmale. Während Kapitel 4 mit einer erneuten Illustration des Vier-Dimensionen-Modells endet, stellt Kapitel 5 am Ende eine Grafik vor, die als so genanntes „Varietäten-Auge“ die Faktoren zur Bestimmung einer Varietät synthetisiert. Das abschliessende sechste Kapitel beginnt erneut mit dem Vier-Dimensionen-Modell und der Diskussion um hinreichende und notwendige Faktoren zur Varietätenbestimmung, die dann im Laufe des Kapitels näher erläutert werden. Hier werden nun auch weitere Modelle der Varietätenlinguistik mit anderen Varietätendefinitionen knapp skizziert, doch bleibt es schliesslich bei der Hervorhebung der Vorteile des eigenen Modells, das zum Abschluss nochmals zitiert wird und auch bei den im Anschluss erneut abgedruckten zentralen Schemata dominiert.

Äusserlich zeichnet sich das Buch durch die in Einführungen weit verbreitete Trennung von Haupttext und orientierenden Stichworten in Randkolumnen aus. Jedem Kapitel ist eine kurze Zusammenfassung vorangeschaltet; längere, wichtige Zitate im Text sind teilweise farbig unterlegt, die Grafiken sind gut aufbereitet und am Ende eines jeden Kapitels finden sich Übungsaufgaben sowie einige kurz kommentierte Literaturangaben. Der Anhang enthält ein kurzes Glossar von Begriffen zur Varietätenbeschreibung sowie ein Literaturverzeichnis und ein Sachregister.

Insgesamt stehen wir vor einer inhaltlich wie formal begrüssenswerten Initiative, deren Ziel es ist, einen kompakten Überblick über ein umfassendes und komplexes Themengebiet zu geben. Dabei geht es Felder wie gesagt in erster Linie um sein Modell und seine Definition von Varietät. Entgegen traditionellen Varietätenbegriffen, die sich etwa vorrangig auf dialektal oder soziolektal bestimmbare strukturelle Merkmale beziehen, wird hier Varietät definiert bezüglich der vier genannten Dimensionen. Das ganze Buch ist also eine Art von Plädoyer für das eigene Modell, um welches herum sich die einzelnen Kapitel aufbauen; ein Modell, dessen Vorteil gegenüber traditionellen Varietätenmodellen darin besteht, dass es zahlreiche Phänomene einbezieht, die in der Varietätenlinguistik immer wieder eine Rolle spielen, die aber nicht zentral zu sein scheinen. Auf der Basis des Modells werden dann bisherige Ansätze und auch terminologische Fragen diskutiert. So wird der Terminus Gemeinsprache als besonders präzise bezeichnet, weil er die Ausdrucksdimension Standard und die „semantische“ Dimension Alltag kombiniere (S. 136)[1]; Standardsprache hingegen sei wegen der fehlenden Inhaltsdimension weniger präzise. Aus ähnlichen Gründen werden Begriffe wie Umgangssprache oder Mediolekt abgelehnt. Eine der Begründungen ist:

„In der Sprachwissenschaft müssen wir allerdings feststellen, dass der Ausdruck Umgangssprache eine undefinierbare Mischung aus arealen (da vorzugsweise regionalen), sozialen (dort vorwiegend gruppenspezifischen bzw. substandardlichen) und medialen (hier meist mündlichen) Gesichtspunkten vermengt, ohne dass er eine Ordnung stiften kann“ (S. 140).

Felder liefert also ein Analyseschema, eine Art Baukastenprinzip, das durchlaufen wird und am Ende eine genaue Bestimmung von Varietäten in seinem Sinne bringt – und das darüber hinaus noch als epistemologisches Werkzeug dienen soll, das es erlaubt, angemessene von verwirrenden Termini zu unterscheiden. Damit scheint es für Studierende das zu bieten, was oft nachgefragt wird, nämlich Antworten auf komplexe Fragen. Dies ist ein durchaus löbliches Ziel, denn eine Aufgabe der Wissenschaft ist sicher, eine möglichst adäquate und mit terminologischer Schärfe fundierte Beschreibung der Objekte zu suchen. Es birgt jedoch auch Gefahren, wenn das zu beschreibende Objekt so komplex ist wie hier und wenn die Antworten eben auch nicht einfach sein können. Ich vermisse bei Felder immer wieder eine differenzierte Darstellung konzeptueller und terminologischer Diskussionen. Denn mehrfach wird dargestellt, was sich hinter einem Terminus verbirgt, ohne darauf hinzuweisen, dass scheinbar einheitliche Termini wie Stil, Norm, auch Umgangssprache, Standard, Gemeinsprache etc. in der Literatur ausgesprochen heterogen verwendet werden. Der Autor scheint davon auszugehen, dass hinter den Termini eine Art ‚objektiver Kern‘ steckt, doch ist ein solcher bei den unterschiedlichen Verwendungen in der Literatur oft nur schwerlich identifizierbar. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, zu Beginn einige Grundfragen der Terminologie und der Vielfalt der Erfassungsversuche des komplexen Gegenstandes explizit zu thematisieren. Bei manchen Termini scheint die Verwendung sogar fragwürdig, etwa bei der unklaren Differenzierung zwischen Diastratik und Diaphasik (vgl. u. a. S. 62 oder S. 66) oder wenn beim Begriff „Norm“ normative und deskriptive Aspekte zu wenig scharf abgegrenzt werden (S. 39) – um nur zwei Beispiele zu nennen.

Was die Textsorte betrifft, so scheint mir, dass das Ziel einer Einführung sein sollte, einen möglichst klaren und umfassenden Überblick über ein Fachgebiet zu geben. Dazu gehört m. E. vor allem die kritische Darstellung des Wissensstandes und die Problematisierung von unterschiedlichen Auffassungen (vgl. in diesem Sinne Sinner 2014). Daher ist fraglich, ob es sinnvoll ist, den Hauptfokus einer Einführung auf ein eigenständiges und durchaus auch eigenwilliges Modell zu legen, das hier den roten Faden und das Gerüst bildet und um das herum das ganze Buch aufgebaut ist. Dieses Modell wird systematisch abgearbeitet; es wird jedoch als solches nicht problematisiert und kritisch gegenüber anderen Modellen abgewogen; es wird also so getan, als handle es sich um den im Fachgebiet üblichen Standard, der als solcher zentraler Inhalt einer Einführung sein müsste. Dabei steht der Text in formaler Hinsicht nicht nur durch die erwähnten äusseren, grafischen Elemente, sondern auch durch den didaktischen Ton, die Exemplifizierung mit der fiktiven Person „Lilo Lingue“ und ihrer Biographie, die umfassenden gliedernden und überleitenden Teile, die Suche nach lesernahen Beispielen und den fast exzessiven Hang zur Wiederholung durchaus in der Tradition einführender wissenschaftlicher Texte, wenngleich manche Textpassagen etwas verklausuliert und allzu fremdwortlastig wirken.

Nun wäre jenseits der Textsortenfrage dem Rezensenten vielleicht der normative Charakter des Buches weniger aufgefallen, wenn das vorgestellte Modell ihn mehr überzeugt hätte, doch scheint dieses die Komplexität der Varietätenproblematik durch die zahlreichen genannten Einzelphänomene zwar zu erfassen, dann aber durch die eher holzschnittartige Trennung der vier Dimensionen deren komplexe Verzahnung eher zu verwischen. Da taucht wie gesagt etwa das Phänomen Text an zwei verschiedenen Stellen und in zwei verschiedenen Zusammenhängen auf, ohne dass dem Leser erklärt würde, was das eine mit dem anderen zu tun hat; oder es wird über „Mündlichkeit“ und „Schriftlichkeit“ und „Nähe“ und „Distanz“ gesprochen, aber dann dort, wo die Unterscheidung „Medium“ und „Konzeption“ wichtig wäre (etwa S. 70/71, wo es um weil und obwohl und Verbstellung geht und dabei eben nicht nur um das Medium), diese Unterscheidung nur unbefriedigend berücksichtigt. Und wenn der Begriff der Umgangssprache kritisiert wird, dann müsste auch gesagt werden, dass die „Vermischung“ der Kriterien auch daher kommt, dass eben die hier getrennte Ausdrucks- und Inhaltsseite empirisch miteinander korrelieren (wie integrative Modelle wie das zitierte Nähe-Distanz-Modell ja auch zu zeigen versuchen). Das heisst nicht, dass ein Modell wie das hier vorgestellte grundsätzlich abzulehnen wäre, es zeigt sich aber, dass die Nebeneinanderstellung von Phänomenen, die in den Objekten nicht getrennt sind, nicht unbedingt deren wahre Komplexität zu erfassen vermag.

Insgesamt bleibt mein Fazit also leider skeptisch, und trotz der ansprechenden Aufbereitung und der die Lesenden immer wieder erfreuenden klaren und überzeugenden Textabschnitte kann ich das Buch als Einführung eher nicht empfehlen. Hingegen erscheint es mir ein interessanter Beitrag zur Varietätenlinguistik, der insbesondere im letzten Kapitel, wo die Vorteile des vorgestellten Modells auch gegenüber anderen Vorschlägen abgegrenzt und diskutiert werden, Defizite bisheriger Modelle und andererseits Wege hin zu einer multidimensionalen Varietätenlinguistik aufzeigt.

Literatur

Coseriu, Eugenio. 1980. ‚Historische Sprache‘ und ‚Dialekt‘. In: Joachim Göschel, Pavle Ivić & Kurt Kehr (Hg.). Dialekt und Dialektologie. Ergebnisse des Internationalen Symposions „Zur Theorie des Dialekts“. Marburg/Lahn, 5.–10. Sept. 1977. Wiesbaden: Franz Steiner, 106–122, online unter: www.coseriu.de/publi/coseriu162.pdf. Search in Google Scholar

Sinner, Carsten. 2014. Varietätenlinguistik. Eine Einführung. Tübingen: Gunter Narr.Search in Google Scholar

Published Online: 2018-01-22
Published in Print: 2018-11-27

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 License.

Downloaded on 30.9.2023 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2018-0001/html
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