Reviewed Publication:
Silvia Bonacchi (Hg.). 2017. Verbale Aggression. Multidisziplinäre Zugänge zur verletzenden Macht der Sprache (Diskursmuster/Discourse Patterns 16). Berlin, Boston: De Gruyter. viii, 494 S.
Der von Silvia Bonacchi herausgegebene Band Verbale Aggression umfasst 494 Seiten und versammelt vielfältige Perspektiven auf den im Titel benannten Gegenstand. Linguistische Beiträge unterschiedlicher Philologien werden ergänzt durch psychologische, didaktische sowie kultur- und literaturwissenschaftliche Stimmen. Die 18 Beiträge gliedern sich in vier Teile, deren erster primär auf Ausdrucksformen verbaler Aggression abhebt, während der zweite verschiedene Praxisfelder fokussiert. Der dritte Teil des Bandes widmet sich ideologischer Hassrede on- und offline, der abschließende vierte Teil beleuchtet Inszenierungen verbaler Aggression auf politischer, diskursiver und literarischer Ebene. Diesen Blöcken vorangestellt ist ein Vorwort, das auf die einzelnen Beiträge vorbereitet und für diese einen gemeinsamen Rahmen etabliert. Dies gelingt in Form einer knappen Begriffs- und Forschungsgeschichte, in der Ansätze inner- und außerhalb der Sprachwissenschaft skizziert und mit Konzepten zu Aggressivität, Gewalt und Unhöflichkeit kontrastiert werden.
Beiträge zum Ausdruck verbaler Aggression
Den Auftakt bildet Topczewska (S. 35–50) mit einem sprechakttheoretischen Ansatz, der aggressive Sprechakte als soziales Phänomen begreift und neben dem Kriterium der „feindlichen Intention“ (S. 42) auch den perlokutionären Effekt in die Definition einbezieht. Illokutionär aggressive Akte werden damit unter demselben Etikett versammelt wie Aggression auslösende, aber auch Verunsicherung, Verletztheit etc. auslösende. Das Gewicht der jeweiligen Ebene changiert im Lauf des Aufsatzes: Eingangs nennt die Autorin die illokutionäre Rolle ein „weder notwendiges noch hinreichendes Kriterium“ (S. 36), später jedoch bezeichnet sie die Feststellung einer feindlichen Sprecherintention als „ausreichend, um von einem aggressiven Sprechakt reden zu können“ (S. 47), womit sie durchaus hinreichend erscheint. Topczewska wirft damit relevante Punkte zur Ergänzung bisheriger Definitionen auf, deren Entwirrung in Form scharfer kategorialer Abgrenzungen aber ein Desiderat bleibt.
Der nachfolgende Beitrag von Piskorska (S. 51–72) widmet sich expliziten und impliziten sprachlichen Angriffen aus relevanztheoretischer Sicht. Implizite Angriffe werden hier als mitunter stärkere Verletzungen herausgestellt, da die Beleidigung erst durch Implikaturen zustande kommt; Opfern wird damit die Verteidigung erschwert (S. 67). Gestützt wird die Argumentation durch konstruierte Beispiele, deren Beweiskraft Piskorska mit Ergebnissen aus der empirischen Forschung hinterlegt.
Wałaszewska (S. 73–88) befasst sich im Anschluss mit der offensiven Kraft von Tiermetaphern in allgemein-universellen sowie einzelkulturgebundenen Konzeptualisierungen, wobei sie offensiveness definitorisch nicht von Aggression abgrenzt. Traditionellen Erklärungsmodellen wie der Great Chain of Being stellt sie einen relevanztheoretischen Ansatz gegenüber, nach dem eine Gruppe schwacher Implikaturen die pragmatisch-poetische Modifikation steuert. Der vorgestellte Ansatz leuchtet ein, wird allerdings nicht in Form einer expliziten Problematisierung mit den zuvor vorgestellten Theorien in Beziehung gesetzt.
Technau (S. 89–122) präsentiert daraufhin eine Studie zum sozialen Phänomen Banter (Geplänkel/Frotzelei) und den vielfältigen Einflüssen auf dessen Erfolg und Evaluation. Dem Unterhaltungsfaktor spricht er dabei besonderes Gewicht zu. Aggression als mögliche Motivation kann offen oder verdeckt, reaktiv oder proaktiv zum Ausdruck kommen. In einer exemplarischen Analyse aus der in-group-Perspektive deckt er bemerkenswerte Hintergründe auf, problematisiert allerdings nicht die dabei mögliche Befangenheit. Mit Blick auf vorige Studien deutet seine Analyse auf eine mögliche sprachübergreifende Auswahl von Banter-Themen hin.
Bonacchi & Andreeva (S. 123–144) nähern sich demselben Phänomen unter dem Etikett der mock impoliteness und stellen eine Pilotstudie aus einem Produktions- und einem Perzeptionsexperiment zu phonetischen Merkmalen im Deutschen und Polnischen vor. Nicht ein einzelnes Merkmal, sondern ein Merkmalsbündel zeigt sich dabei für die En- und Dekodierung der Valenz ausschlaggebend. Sie stellen damit mehrere traditionelle Annahmen der Phonetik infrage, zu denen im Beitrag kritisch Stellung bezogen wird.
Der erste Teil des Bandes schließt mit Bąks (S. 145–170) Beitrag zu offener und verdeckter Aggression in Dysphemismen und Euphemismen. Bąk geht nicht von Euphemismen und Dysphemismen per se aus, sondern von euphemistischen und dysphemistischen Sprechakten. Er zeigt, dass lokutionär euphemistische Akte auch illokutionär dysphemistisch gebraucht werden können und umgekehrt, was jeweils zu unterschiedlichen Graden verhüllt oder verschleiert werden kann.
Beiträge zu verbaler Aggression in Praxisfeldern
Im zweiten Teil des Bandes werden Funktionen und Auswirkungen aggressiver Sprache in Praxisfeldern untersucht. Den Einstieg machen Adler & Buchholz (S. 171–208), die bisherige Aggressionskonzepte der Psychotherapie kritisieren und das Konzept der kommunikativen Gewalt ins Feld führen, wonach Gewalt erst in der erzeugten Reaktion einer Handlung erkennbar wird (S. 177). An Beispielen aus Therapiesitzungen werden turn-taking-Konflikte und Reparaturen beleuchtet, in denen Empathie in konversationeller Ko-Produktion aufscheint. Aus diesen subtilen, unbewussten Formen der Gewalt leiten die AutorInnen einen erhöhten Bedarf an Transkripten im Vergleich zu Gedankenprotokollen psychotherapeutischer Sitzungen ab.
Olpińska-Szkiełko (S. 209–218) wendet sich daraufhin dem Feld der Fremdsprachendidaktik zu. Sie erläutert, weshalb die gängige Praxis der Fehlerkorrektur hinsichtlich der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden als aggressiv empfunden werden kann. Am Ende des Artikels gibt die Autorin einige Anregungen zur Veränderung dieser Praxis in Richtung einer motivierend-informierenden Korrektur, die als Hilfeleistung in den Lernprozess integriert ist und nicht erst als Wertung an dessen Ende steht.
Der letzte Beitrag dieses Teils von Szczęk (S. 220–241) untersucht Absageschreiben auf Bewerbungen vor dem Hintergrund der (Un-)Höflichkeitstheorie, unterschiedliche Formen der Ablehnung werden analysiert und klassifiziert. Eine definitorische Trennung von Unhöflichkeit und Aggression nimmt Szczęk nicht vor (vgl. S. 237). Sie verankert diese Konzepte in Anlehnung an Bonacchi (2012) jeweils auf der illokutionären Ebene, lässt aber die Bewertung durch andere Sprechteilnehmer als diagnostisches Kriterium zu (S. 220).
Beiträge zu Ideologie und Hassrede
Die Beiträge des dritten Teils befassen sich mit symbolischer Gewalt, Hassrede und rassistischer Ideologie (vgl. S. 24). Tenchini (S. 245–268) leitet diese Themengruppe mit einem Beitrag zur aggressiven Kraft von Ethnophaulismen wie Zigeuner ein. Den Fokus setzt sie dabei auf die wörtliche Verwendung der Ausdrücke; die übertragene Verwendung mit assoziierten Stereotypen blendet sie explizit aus. Sie stellt einen vielversprechenden Ansatz der Multi-Akt-Semantik vor, wonach bei der Verwendung von Ethnophaulismen mehrere Sprechakte zugleich vollzogen werden, von denen einer ein Verachtung ausdrückender Expressiv und somit nicht Teil der wahrheitskonditionalen Äußerungsbedeutung ist.
Es folgt Sepp (S. 269–288), der unter Rückgriff auf Judith Butlers (2006) Analyse der Subjektkonstituierung des verletzenden Sprechens und Goffmans (1967) Stigmatheorie die Tagebücher Victor Klemperers beleuchtet. Er stellt beispielhaft den Konflikt dar, der durch eine erzwungene Fremdzuschreibung und die verbundene Stigmatisierung zustande kommt, die zwangsläufig zur Selbstzuschreibung werden muss bzw. auch ungewollt über die Sprache Einzug in eigene Kategorisierungsmuster findet. In Sepps Worten: „Die rassistische Zuordnung ‚Jude‘ durch das NS-Regime erschafft zugleich eine jüdische Identität bei konvertierten Assimilierten wie Klemperer“ (S. 271).
Auch Meibauers (S. 289–304) Beitrag befasst sich mit nationalsozialistischem, zusätzlich aber mit DDR-Gedankengut. Als Analysematerial wählt er das Kindersachbuch und illustriert anhand zweier Fibeln über den Kartoffelkäfer eindrücklich das Zusammenspiel von Metapher, Humor und Hass. Problematische Metaphern wieKartoffelkäfer sind Einwanderer werden dort auf Sprach- und Bildebene humoristisch-emotional verarbeitet, womit propagandistische Intentionen verschleiert werden, zugleich aber bei den kindlichen Lesern „ein metaphorischer Hintergrund geschaffen wird, in welchem feindselige Einstellungen gegenüber Einwanderern auf fruchtbaren Boden fallen“ (S. 302).
Hartmann & Sties (S. 305–328) schließen die Sektion mit einer Studie zu Online-Kommentaren um die Ersetzung rassistischer Sprache in Kinderbüchern. Ihr Augenmerk liegt auf einem Kontinuum von impliziter zu expliziter Aggression, wobei die Kommentierenden Limitationsstereotype mit heterogenen Strategien wie Ironie, sprachlicher Kreativität und Zerrbeispielen tarnen. Damit genügen sie oberflächlich den Regeln der Netiquette, machen die Aggression aber zuweilen durch kontextuelle Indikatoren wieder salient, was sie noch verschärft. Hervorzuheben ist in diesem Beitrag die schlüssige Abgrenzung der Begriffe Aggression, Gewalt und Unhöflichkeit sowie die Trennung von Indirektheit und Implizitheit (S. 325).
Beiträge zur Inszenierung verbaler Aggression
Der letzte Teil des Bandes versammelt Beiträge, die sich der Inszenierung verbaler Aggression widmen. Marx (S. 331–356) leitet den Block mit einer explorativen Studie ein, in der sie männliches und weibliches Aggressionsverhalten im Web 2.0 analysiert und mit gängigen Annahmen kontrastiert, die oft Männern ein erhöhtes Aggressionspotential zusprechen. Ihre theoretische Basis stellt eine kritische Auseinandersetzung mit den Begriffen Aggression, Gewalt und Gewaltpotential dar (S. 337ff.). Ihr Material öffnet den Blick auf neue Ausdrucksmöglichkeiten weiblicher Wut im Netz, die stereotype Rollenmuster abbauen und den virtuellen Raum als möglichen Puffer nutzbar machen könnten.
Auch D’Errico, Poggi & Corriero (S. 357–376) befassen sich mit Aggression in sozialen Medien, indem sie Reaktionen auf Äußerungen Beppe Grillos ausleuchten. Sie weisen einen deutlichen Einfluss einer Leader-Provokation nach, wobei Medium (Facebook vs. Twitter) und Direktheit der Provokation von besonderer Relevanz sind. Das Direktheitskonzept scheint dabei nicht sprechakttheoretisch angelegt, sondern zielt auf den unmittelbaren Aufforderungscharakter der Provokation ab. Die Äußerung What would you do in the car with Boldrini? wird etwa als „direct provocation of sexual nature“ gewertet (S. 379), obwohl die sexuelle Anspielung nur als Implikatur herauslesbar ist.
Der anschließende Beitrag von Pelillo-Hestermeyer (S. 377–400) zeichnet den Konflikt um Steinbrücks Bezeichnung zweier italienischer Politiker als Clowns im lokalen, nationalen und internationalen Diskurs nach. Der Vorfall wird jeweils unterschiedlich (re-)kontextualisiert und bewertet und die Diskurse beeinflussen einander über nationale Grenzen hinweg. Daraus leitet die Autorin ab, dass diese Vernetzung die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit erschwere, da die „scheinbare diskursive Integration in Wahrheit aus fragmentierten ‚Kontextgemeinschaften‘ besteht und letztlich zu einem ‚Kontextdefizit‘ führt“ (S. 398).
Rolek (S. 401–424) geht daraufhin auf Aggressivität in parlamentarischen Debatten ein und stellt die doppelte Dialogizität von Abgeordneten und Wählerschaft ins Zentrum. Auch der Bumerang-Effekt wird diskutiert, der mögliche Rückwirkungen auf den Sender durch perlokutionäre Effekte bezeichnet, die zu Indirektheits- oder Kanalisierungsstrategien führen. Anhand einzelner Beispiele wird die Relevanz der Identifikation der Sprecherillokution, aber auch der intendierten vs. tatsächlichen Adressaten sowie des kommunikativen, diskursiven und kognitiven Kontexts deutlich.
Die letzten Beiträge nähern sich dem Gegenstand aus literaturwissenschaftlicher Sicht. Gilharducci (S. 425–446) arbeitet Formen verbaler Aggression in Werken von Sorokin, Hłasko und Drawert heraus. Er diskutiert ihre Literarisierung als Mittel zur Sichtbarmachung der Asymmetrien und der symbolischen Gewalt in realsozialistischen Gesellschaften. Sein Fokus liegt auf der Dichotomie zwischen potestas als institutionalisierte und violentia als nicht-institutionalisierte Gewalt. Die analysierten Texte lassen diese Grenzen aber verschwimmen; sie „bringen die Unmöglichkeit zum Ausdruck, aus der Sprachgewalt der realsozialistischen Gesellschaft auszusteigen“ (S. 443).
Leipelt-Tsai (S. 447–470) rundet den Band ab, indem sie der inszenierten Aggression in Romanen Herta Müllers nachgeht. Aggression unterscheidet sie als Berührung einer Grenze von Gewalt als Überschreitung dieser Grenze (S. 450f.), wobei sich auch dieser Dualismus in der Analyse als ambig erweist. Aggression taucht dabei nicht nur als inhaltliches, sondern auch als strukturell-performatives Moment in der Schreibtechnik Müllers auf und erweist sich als Mittel des politischen Widerstands, in dem Schreiben als gewaltsamer Akt der Observation fungiert (S. 468). Literatur wird damit als Handlung, also (wenn auch nicht explizit) als Sprechakt verstanden, womit der Bogen zum ersten Beitrag des Bandes geschlossen wird.
Schlussbemerkung
Der Band taucht von vielen spannenden Punkten aus in das brisante Feld der Aggression ein und eröffnet so interessante Perspektiven auf den Gegenstand. In der Natur eines Sammelbandes liegt es unter Umständen dabei, dass sich einige Ansätze harmonisch ergänzen, während andere einander durch die definitorischen Schwerpunktsetzungen eher entgegenstehen. Sie alle eint jedoch das Verständnis aggressiver Sprache als aktive Handlung, das sich in der Vielzahl sprechakttheoretisch verankerter Beiträge niederschlägt. Schon das Vorwort nimmt vorweg, was am Ende des Bandes als Eindruck zurückbleibt; dass nämlich „Aggression an sich nicht einfach zu definieren ist“ (S. 3), da eine deutliche begriffliche Abgrenzung zwischen ihren unterschiedlichen Erscheinungs- und Darstellungsformen sowie ein klares Kategorienraster bislang nicht vorliegen und, wie der Band performativ illustriert, kaum allgemeingültig zu formulieren sind. Das hier versammelte Tableau an Perspektiven bietet sich damit als idealer Anknüpfungspunkt an, um die verschiedenen Ansätze in Zukunft aufeinander beziehen und fruchtbar zu einer transdisziplinären Aggressionstheorie ergänzen zu können.
Literatur
Bonacchi, Silvia. 2012. Zu den idiokulturellen und polykulturellen Bedingungen von aggressiven Äußerungen im Vergleich Polnisch – Deutsch – Italienisch. In: Magdalena Olpińska-Szkiełko et al. (Hg.). Der Mensch und seine Sprachen. Frankfurt am Main: Lang, 130–148.Search in Google Scholar
Butler, Judith. 2006. Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.Search in Google Scholar
Goffman, Erving. 1967. Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt am Main: Suhrkamp.Search in Google Scholar
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